Landeskunde

Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Wolfgang Schwentker: Geschichte Japans. 1050 S., mit 44 Abb. und 8 Karten. München: C.H.Beck 2022. Hardcover, ISBN 978-3-406-75159-2. € 49,95.

    Es ist ja nicht so, dass es auf dem deutschsprachigen Markt kein anderes Buch über die Geschichte Japans gäbe: der unter der Herausgeberschaft von Josef Kreiner bei Reclam erschienene Überblick, 2010 noch als „Kleine Geschichte Japans“ angetreten, liegt seit dem Jahr 2020 als ausgewachsene „Geschichte Japans“ bereits in einer aktualisierten, achten Auflage vor. Wozu also ein weiteres Japanwerk? Die Antwort erschließt sich sozusagen „auf den ersten Blick“: während Reclam seit der zweiten Auflage auf den festen Einband verzichtet und sich das Bändchen seitdem im schlichten Schulbuch-Paperback präsentiert, punktet der Beck-Verlag mit Handbuchformat, dekorativem Schutzumschlag, zwei Lesebändchen, zahlreichen – leider nur schwarz-weißen – Abbildungen sowie einem goldenen Einband – der KinkakujiTempel in Kyoto lässt grüßen… Was aber wesentlicher ist: die Neuerscheinung ist mit ihren über tausend Druckseiten doppelt so umfangreich wie Reclams „Aschenputtel“ – was zwar immer noch nicht an die sechsbändige englischsprachige History of Japan heranreicht, aber doch mit Recht den Anspruch auf ein Grundlagenwerk erheben darf.

    Wolfgang Schwentker, Historiker und emeritierter Professor der Universität Osaka, erzählt die zweieinhalb Jahrtausende zählende Geschichte des Inselstaats – anders als seine Kolleginnen und Kollegen bei Reclam, die jeweils einzelne historische Abschnitte bearbeiten – aus einem Guss, was dem Band sein eigenes Gepräge verleiht.

    Erfreulicherweise flicht der Autor immer wieder zeitgenössische Quellenzitate ein, die dem Text unmittelbare Frische und Lebendigkeit verleihen. Auf diese Weise kommen zahlreiche Zeitzeugen zu Wort: japanische Hofbeamte, Musiker, Schriftstellerinnen wie die Hofdame Sei Shonagon oder europäische Kaufleute – stets typographisch vom Text abgesetzt, so dass sich das Auge nolens volens auf die Quellen richtet. Ob es sich um kurze Abschnitte aus dem mittelalterlichen Genji-Monogatari handelt, um Berichte aus den Dagregistern, den offiziellen Tagebüchern der Holländer von Deshima, oder um Interviewausschnitte von Filmemachern und Dichtern (Frauen wie Männern) – der Autor versteht es, die Zeitumstände lebendig werden zu lassen, ohne die wirtschaftlichen und kommerziellen Strukturen, die sozio-kulturellen Bedingungen und die großen Linien der Innen- und Außenpolitik aus dem Auge zu verlieren.

    Man mag die Art der Darstellung und Periodisierung konventionell nennen – tut dies doch der Autor selbst zu Beginn des Bandes, wo es um die Epocheneinteilung der japanischen Geschichte geht. Die großen politischen Wendemarken, die bisher das Bild vom „rätselhaften“ oder „exotischen“ Japan nicht nur bei Laien, sondern auch in der Geschichtsschreibung prägten, treten allerdings in Schwentkers Darstellung wohltuend in den Hintergrund, denn selbst dort, wo Japan sich – oft scheinbar abrupt – von Asien und der restlichen Welt abwendet, vermag der Autor die tiefergreifenden Ursachen plötzlichen Wandels und die weitere Verbindung des Inselstaates zum Rest der Welt auf überzeugende Weise darzustellen. Die großen Brüche – die Hinwendung zu China mit seinen Zentralinstitutionen, mit Buddhismus, Schrift und Literatur, die Abschließung gegenüber dem Ausland im 17., die erneute Öffnung Mitte des 19. Jahrhunderts, schließlich der nationale Alleingang im frühen 20. Jahrhundert bis hin zum völligen Zusammenbruch und zur Umkehr aller bisherigen Anschauungen – all diese Diskontinuitäten gegenüber dem „Außen“ finden aus dem „Inneren“ Japans heraus eine schlüssige Erklärung; hier hat Schwentker Pionierarbeit geleistet. Dass der Autor darüber hinaus ein guter Erzähler ist, dem der Leser (und die Leserin) gerne folgt, macht die Lektüre zu einer ebenso lehrreichen wie kurzweiligen Angelegenheit. Die Darstellung bewegt sich zudem auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit – das belegen die Anmerkungen und das ausführliche, aktuelle Literaturverzeichnis im Anhang.

    Schwentker, der fast zwei Jahrzehnte lang in Japan lehrte und lebte, kennt das Land wie wohl kaum ein anderer. Obwohl inzwischen nach Europa zurückkehrt, scheint sich der Autor doch den japanischen Sinn für feinen Humor bewahrt zu haben: zum Schluss der Darstellung berichtet er im Zusammenhang mit der zunehmenden Automatisierung des Landes von einem führenden japanischen Konstrukteur, der sich schon jetzt darauf freute, sich eines Tages in den zahllosen langweiligen Kommissionssitzungen der Universität von seinem eigenen Androiden unauffällig vertreten zu lassen… eine pfiffige Auslegung der technischen Zukunft, die im ernsthaften Deutschland wohl nur bedenkliches Stirnrunzeln hervorrufen würde. Schade, dass der Band kein Kreuzregister, also ein integriertes Personen-, Sach- und Ortsregister hat. Im vorhandenen Personenindex sucht man auf Anhieb vergebens nach so bekannten Namen wie Nobunaga, Hideyoshi oder Iyeasu – die großen Kriegsherren und Shogune sind, japanischem Usus folgend, nur unter ihren Familiennamen zu finden (Oda, Toyotomi, Tokugawa) – das muss man erst einmal wissen. Dasselbe gilt für die bekannteren Mitglieder unter den Ashikagas, Fujiwaras oder Tennos, nach denen man im Register lange stöbern muss. Hier wären zusätzliche Verweise hilfreich.

    Ein rundum gelungener Band nicht nur für Fachleute; ein Sachbuch cum Nachschlagewerk zum Vom-Anfang-biszum-Ende-Lesen – und ein Schmuckstück für jede Bücherwand. (tk)

    Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

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