Kinder- und Jugendbuch

Sexuelle Orientierung, Freundschaft, Magie und Weltenrettung Lesestoff für junge Erwachsene

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Sarah Jäger: Die Nacht so groß wie wir., 192 S., Hamburg 2021, Rowohlt, 18,00 €. Ab 15

In Sarah Jägers Die Nacht so groß wie wir. nehmen zwei Mädchen und drei Jungen, seit Jahren durch beständige Freundschaftsbande zusammengeschweißt, ihre ­Abiturzeugnisse entgegen. Die gesamte Erzählung spielt in der Nacht der Abiturfeier, Rückblenden in Kursivschrift geben Einblicke in den Werdegang jedes einzelnen und in die Dynamik einer ungewöhnlichen Fünfer-Freundschaft. Der Übergang vom Schülerdasein ins Erwachsenenleben gleicht einer Initiation, die Bisheriges, die „Ungeheuer“ der Kindheit, zerstören muss. Suse hat ihren Vater durch einen Unfall verloren, Bo steht eine riskante Gehirnoperation bevor, Majas Mutter ist depressiv, und Pavlow, der vernachlässigte Sohn, plant Rache an seinem Vater, der ihn und seine Mutter verlassen hat, um eine zweite glücklichere Familie zu gründen. Pavlow und seine Freunde brechen in das gediegene Heim des Vaters ein und zerstören die Symbole familiärer Idylle. Überhaupt verspüren die Freunde wenig Sympathie für die ältere Generation. Diese schauen den Enten im Park zu und „verrecken“ schließlich. Die fünf Protagonisten kommen abwechselnd zu Wort, ihre Sätze sind kurz, meist unvollständig und stehen oft wie im Gedicht unter-, anstatt nebeneinander. Der unverblümte Stil und die rätselhaften Andeutungen machen die Leser neugierig und verführen sie zu einer zügigen Lektüre bis zum Schluss.

 

Hansjörg Nesselsohn: Mut. Machen. Liebe. 352 S., Wien 2021, Ueberreuter, 18,00 €. Ab 15

Mut. Machen. Liebe. von Hansjörg Nessensohn dagegen bedient sich einer konventionelleren Erzählweise, aber auch hier läuft die Handlung auf zeitlich zwei, im Druckbild unterschiedenen Ebenen ab. Paul ist auf der Flucht vor und auf der Suche nach sich selbst.

Seine Liebe zu Jonas, die dieser grausam missbraucht hat, versucht er auf einer Wanderung in Italien zu vergessen. Er trifft auf die 80-jährige Liz, zu der er nach anfänglicher Abwehr großes V ­ ertrauen fasst. Sie wandern gemeinsam weiter, dabei liest Liz ihm aus ihren Lebenserinnerungen im Köln der Nachkriegszeit vor. Ein Drama vertuschter Homosexualität und belastender Lebenslügen ihres Verlobten stehen im Mittelpunkt. Seine „kranke“ und „perverse“ Neigung trifft nur auf Verachtung, sogar die seiner Mutter. Eine drohende Verurteilung aufgrund des geltenden §175 gebietet schließlich eine überstürzte Flucht in die U.S.A. Liz stirbt auf dem Weg nach Rom. Die Begegnung mit ihr, die Erkenntnis, im 21. Jhd. seine sexuellen Neigungen frei leben zu dürfen, versöhnen Paul mit sich selbst, sogar mit seinem Freund Jonas. Trotz der Vorliebe des Autors für die Sprüche gängiger Ratgeberliteratur, ist diese historische Sicht auf die Homosexualität in Deutschland eine empfehlenswerte Lektüre für die junge, aufgeklärte und in Freiheit aufwachsende Generation.

 

Kerstin Gier: Vergiss mein nicht, 480 S., Frankfurt 2021, Fischer, 20,00 €. Ab 12

Wesentlich turbulenter geht es in Kerstin Giers als Trilogie konzipiertem Fantasyroman Vergiss mein nicht zu. Zwischen Partylärm und -gedränge fahndet Quinn nach seiner Freundin Lilly. Er möchte Schluss mit ihr machen. Da sieht er zufällig, wie vor dem Haus ein blauhaariges Mädchen von einem Mann verfolgt wird. Er stürzt nach draußen, wird selbst zum Opfer einer Verfolgungsjagd, in der ein schwarzer Wolf und ein geflügeltes Wesen ihn auf eine Hauptverkehrsstraße jagen. Hier wird Quinn überfahren und landet in einer Intensivstation. Wir sind erst auf Seite 28 des fast 500 Seiten umfassenden Romans. Außergewöhnliche Menschen, zu denen auch Quinn gehört, vermögen durch „Portale“ aus der kleinstädtisch geprägten Welt, in der jeder jeden kennt und die Nachbarn sich nicht mögen, in die andere magische, von gefährlichen Wesen beherrschte Domäne zu gelangen. In der realen Welt entspinnt sich zwischen Quinn, dessen Attraktivität auch durch die Folgen des Unfalls nicht gelitten hat, und der unscheinbaren, aber blitzgescheiten Matilde eine Liebesgeschichte. Abwechselnd erzählen die beiden von ihren aufwühlenden Gefühlen und den geheimnisvollen Bedrohungen aus einer magischen Welt, denen beide permanent ausgesetzt sind. Kerstin Gier schreibt mit großem Ideenreichtum, viel Witz, mitunter Ironie. Schlagfertige Dialoge und eine hinreißende Liebesgeschichte lassen keinerlei Wünsche offen.

 

Michael Gerard Bauer: Dinge, die so nicht bleiben können. 224 S. Aus dem Engl. von Ute Mihr. ­München 2020, Hanser, 15,00 €. Ab 14

Wer ist dieses auffallende, gepiercte Mädchen, rechts weißblondes langes Haar, links kurz und schwarz, die so selbstbewusst, ja dreist auftritt? Sebastian und sein Freund besuchen den Tag der offenen Tür an der Universität in Brisbane, aber vor allem Sebastians Informationstag verläuft gänzlich anders als geplant. Unwillkürlich gerät er in den Bann der temperamentvollen Frieda, die Lügengeschichten wie am Fließband erfindet – Baron von Münchhausen ist nichts gegen sie – und aus jedem verbalen Schlagabtausch als Siegerin hervorgeht. Ist sie wirklich die Tochter wohlhabender und großzügiger Eltern, besucht sie wirklich die vornehmste Mädchenschule weit und breit? Unvermutet kippt die Stimmung, das Mädchen taucht im Gedränge unter, und die beiden hätten sich beinahe nicht wiedergefunden. Die bedrückende Erzählung ihrer wahren Herkunft und die Familientragödie Sebastians kommen erst am Ende zu Tage. Die Wahrheit, wenn auch ohne Glamour, schmiedet die beiden enger zusammen, als das permanente, rhetorische Imponiergehabe. ­Michael Bauers Dinge, die so nicht bleiben können erinnert nicht nur wegen der Einheit von Ort, Zeit und Handlung an ein Theaterstück. Alles entwickelt sich aus den Dialogen, deren Vorrat an Esprit und völlig Unerwartetem bis zur letzten Seite reicht.

Dr. Barbara von Korff Schmising arbeitet als Rezensentin überwiegend im Bereich Kinder- und Jugendliteratur. Sie hat 25 Jahre lang die „Silberne Feder“, den Kinder- und Jugendbuchpreis des Dt. Ärztinnenbundes als Geschäftsführerin geleitet.

bschmising@gmx.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung