Biografien

Seid unbeugsam!

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Gisèle Halimi mit Annick Cojean: Seid unbeugsam! Mein Leben für die Freiheit der Frauen. Berlin: Aufbau Verl., 2021. 140 S. ISBN 978-3-351-03895-3. € 20.00

    Das Motto für diese Sammelbesprechung entnimmt der Rezensent der Veröffentlichung Seid unbeugsam! Mein Leben für die Freiheit der Frauen. Sie besteht aus einem Interview mit Gisèle Halimi (1927–2020), dem Essay „Warum Feminismus Handeln bedeutet“ von Julia Korbik und einer Einleitung der Interviewerin Annick Cojean. „Halimi, eine Frau, die mindestens ebenso viel für die Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen getan hat wie die Beauvoir, und von der ich trotzdem noch nie gehört hatte“ (S. 7), das bekennt die Journalistin, Autorin von Veröffentlichungen über den Feminismus und Kennerin der Werke der französischen Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir Julia Korbik. Umso gespannter darf man auf dieses Buch sein.

    Zeiza Gisèle Élise Taïeb wird 1927 in der Nähe von Tunis in eine Familie mit patriarchalischer Ordnung geboren, in der die Geburt eines Mädchens als Fluch aufgefasst wird. Sie sieht ihre unterwürfige, in völliger Abhängigkeit lebende Mutter und begehrt früh auf. Nach brillanten schulischen Leistungen nimmt sie an der Pariser Sorbonne ein Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie und Politischen Wissenschaften auf. 1949 wird sie als Anwältin in Tunis zugelassen, 1956 auch in Paris. 1949 heiratet sie den französischen Verwaltungsbeamten Paul Halimi, die Ehe wird 1959 geschieden; 1961 heiratet sie den Sekretär von JeanPaul Sartre Claude Faux.

    Von Beginn ihrer Karriere Ende der 1940er Jahre an kämpft sie nicht nur für ihre Mandanten, sondern auch dafür, „als Frau in ihrem Beruf ernst genommen zu werden. Sie wollte, dass man(n) ihr zuhörte, wollte überzeugen, und zwar durch Argumente. Sie arbeitete hart, härter, am härtesten, um den Makel, der ihr von ihren Eltern so oft vorgehalten worden war, vergessen zu lassen: weiblich zu sein“. (S. 10) Feminismus bedeutet für sie aktives Handeln, und das zeigt sie in all ihren Aktivitäten. „Feministin sein, das war für Halimi keine Teilzeitbeschäftigung oder ein Hobby – sondern Teil ihrer Identität.“ (S. 9) Was Halimi als Anwältin so erfolgreich macht, ist „ihr unschlagbares Gespür für das passende Narrativ“. (S. 8)

    Halimi verteidigt in Tunesien Gewerkschafter und Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung. Sie unterstützt die Front de Libération Nationale (FLN) und unterzeichnet 1960 das „Manifest der 121“. Ihr Name ist verknüpft mit einigen bedeutenden Prozessen der französischen Nachkriegsgeschichte. 1960 verteidigt sie die FLN-Kämpferin Djamila Boupacha. Sie ist Mitglied des Russell-Tribunals gegen vermutete Kriegsverbrechen der USA im Vietnamkrieg, sie verteidigt baskische Terrorverdächtigte, sie gründet mit Simone de Beauvoir und anderen die feministische Gruppe „Choisir la cause des femmes“ zur Verteidigung von Frauen wegen illegaler Abtreibungen. Sie ist Anwältin von Jean-Paul Sartre, Françoise Sagan, Henri Cartier-Bresson und Roberto Matta. Auch in der großen Politik spielt Halimi eine bedeutende Rolle, u.a. als französische Delegierte bei der UNESCO, als Mitglied der Nationalversammlung und als Vorsitzende einer von Staatspräsident Chirac ins Leben gerufenen Beobachtungsstelle für die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Ein lesenswertes Buch, ein bewegender Rückblick auf ein Jahrhundertleben. Gisèle Halimi ist eine bedeutende Wegbereiterin und Ikone der internationalen Frauenbewegung – man sollte sie kennen!

     

    Erinnern, vergessen, umdeuten? Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert / Hrsg. Angelika Schaser ­, Sylvia Schraut, Petra Steymans-Kurz. Frankfurt am Main: Campus Verl., 2019. 406 S. (Geschichte und Geschlechter. Band 73) ISBN 978-3-593-51033-0. € 43.00

      Diese Veröffentlichung entstammt einer Tagung unter dem Titel Verzicht auf Traditionsstiftung und Erinnerungsarbeit? Narrative der europäischen Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert zur fehlenden Historiographie der Frauenbewegungen in Europa. Wie hier zu ersehen ist, beschäftigt sich die Geschichtsschreibung zur Frauenbewegung leider erst jetzt mit den eigenen tradierten Narrativen zu ihrer Entstehungsgeschichte. Fehler, Unkorrektheiten, Marginalisierung und falsche Gewichtungen haben dazu geführt, dass die Ziele, Aktionen und Errungenschaften dieser ersten Frauenbewegung nicht in der kulturellen Erinnerung verankert ist. Die sich in den 1970er Jahren bildende zweite Frauenbewegung versteht sich leider weitgehend als neue Bewegung ohne Vorläufer. Eine fundamentale Einleitung konzediert dies. In den 15 Beiträgen geht es um die Auseinandersetzung mit Erinnerungskulturen, die Registrierung von Positionen und Personen und die medienwirksam aufbereiteten Erzählungen der Geschichte der Frauenbewegungen. Die Beiträge richten den Blick auf die historischen Frauenbewegungen zu einzelnen Themen (beispielsweise das Hexen-Narrativ in den europäischen Frauenbewegungen) und in einzelnen europäischen Ländern (Spanien, Italien, Finnland, Schweden, das habsburgische Kronland Galizien). Der Schwerpunkt aber liegt auf den deutschen Frauenbewegungen. Da sind zuerst die traditionsbildenden Strategien ihrer Protagonistinnen wie Louise Otto-Peters, Lily Braun, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Und da sind unterschiedliche Themen wie Lagerbildungen, konfessionelle und regionale Brüche in der Traditionsstiftung der deutschen Frauenbewegung, die Geschichte des 1894 von Protagonistinnen der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung gegründeten Münchner Vereins für Fraueninteressen und Frauenarbeit, die Damenverbindungen in Tübingen und Würzburg im Kaiserreich und in der Weimarer Republik oder Frauen- und Lesbenarchive und -bibliotheken zwischen 1865 und 1933.

      Fazit: „Die hier vorgelegten Beiträge liefern nicht nur neue Erkenntnisse zu bewegungsinternen Deutungskämpfen um die eigene Geschichte und die Folgen des Vergessens der eigenen Vorgänger-Bewegungen. Sie verdeutlichen auch, dass die europäischen Frauenbewegungen am Nationsbildungsprozess, am demokratischen Aufbruch und am Aufbau internationaler Netzwerke einen wichtigen Anteil hatten, der von der Mainstream-Geschichtsschreibung bislang noch weitgehend ignoriert wird.“ (S. 20) Dem hat der Rezensent nichts hinzuzufügen.

       

      Anne-Laure Briatte: Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die »radikale« Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus Verl., 2020. 490 S. (Geschichte und Geschlechter. Band 72) ISBN 978-3-593-50827-6. € 49.00

        Erst sieben Jahre nach dem Erscheinen in französischer Sprache erfolgt die deutsche Übersetzung einer Veröffentlichung, in der die Verfasserin einen vergessenen und auch in der Forschung vernachlässigten Teil der deutschen Frauenbewegung publik macht. Die Studie untersucht die theoretischen Grundlagen, die Visionen und die Strategien einer sogenannten radikalen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich von 1888 bis 1919.

        Der harte Kern innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, die „Radikalen“, fordern gleiche Rechte und gleiche Freiheiten wie die Männer, sie wollen die volle rechtliche Gleichberechtigung der Frauen ausschließlich mit den Mitteln des Wahlrechts.

        Die Schlüsselpersonen sind die aus wohlhabenden Familien stammenden Minna Cauer, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, ein Zugang zu den Lebenswelten der Arbeiterinnen bleibt ihnen trotz zahlreicher Bemühungen verschlossen.

        Die Autorin sieht die Geschichte der radikalen Frauenbewegung in drei Zeitabschnitten: Die Phase der Entstehung („Wir kämpfen um unser Menschenrecht“. 1888–1899), die Phase als entscheidender Faktor des politischen Lebens („Wir sind Bürgerinnen des Staates“. 1899–1908) und die dritte Phase als Kohäsionsverlust („So war selbstverständlich ein fruchtbares und erquickliches Arbeiten ausgeschlossen“. 1908–1919).

        Die Analysen der Autorin zeigen, dass die Radikalen „besonders hohe Ansprüche an die politische Praxis nicht nur gegenüber den in der Frauenbewegung engagierten Frauen, sondern auch gegenüber Mandatsträgern und politischen Akteuren generell stellten. Mit ihren Anforderungen an Ernsthaftigkeit, Sachlichkeit, Qualität und Ethik“ (S. 425) tragen sie dazu bei, die Vereinspraktiken zu formalisieren und die Politik zu professionalisieren. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag zu Verbesserungen des sozialen, ökonomischen und juristischen Status der Frauen, zum Frauenstimmrecht und zur Öffnung der Universitäten für Frauen – Beiträge, die bisher nirgendwo so klar und eindeutig nachgewiesen und vermittelt wurden. Anne-Laure Briatte ist eine brillante Würdigung eines zu Unrecht vergessenen Teils der deutschen Frauenbewegung als ein eigenständiges Netzwerk von Frauen gelungen. „Möge dieses Werk einen Beitrag dazu leisten, sie wieder sichtbar werden zu lassen!“ (S. 425)

         

        Karrieren in Preußen – Frauen in Männerdomänen / Hrsg. Ingeborg Schnelling-Reinicke, Susanne Br ­ ockfeld. Berlin: Duncker & Humblot, 2020. 349 S. (Forschungen zur brandenburgischen und pr ­ eußischen Geschichte. N.F. Beiheft 15) ISBN 978-3-428-18035-6. € 119.90

          Die preußische Geschichte wird „als in erster Linie maskulin empfunden“. (S. 5) Umso beeindruckender ist es, dass eine gemeinsame Tagung der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußi­ scher Kulturbesitz „unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsdiskussion in der Frauen- und Gender-, aber auch der Sozialgeschichtsforschung, lange Zeit männlich dominierte Räume auf ihre Öffnung oder Verschlossenheit für Frauen in Preußen“ (S. 5) untersuchen. Der einleitende Beitrag steckt mit drei außergewöhnlichen Frauenbiographen aus Preußen epochenübergreifend vom 18. bis zum 21. Jahrhundert den Rahmen für die Tagung ab: Charlotte Sophie von Bentinck, Gertrude Bell und Jutta Limbach. „Die drei Karrieren zeigen die Zeitgebundenheit weiblichen Vorwärtsstrebens, die große Rolle, die auch Klasse neben dem Geschlecht immer spielte und die zeit­eigenen Verhinderungsprozesse und Eroberungserfolge.“ (S. 14). Der ­Autor nennt sie „Meisterinnen weiblichen networking ­ s“ (S. 45), sie weisen einen Weg zur Eroberung von Männerdomänen.

          Beispielhaft werden die Themen Arbeit, Kunst, Militär und Krieg sowie Politik und Diplomatie behandelt – das sind erfreulicherweise nicht die klassischen Frauendomänen. Es gibt Beiträge u.a. zur Ausstellung von Werken von Malerinnen in der Alten Nationalgalerie in Berlin und ihre Untersuchung auf Inhalt, Genre, technische Fertigkeiten und Umstände der Erwerbung, zu den preußischen Soldatenfrauen in der ländlichen Familienökonomie des 18. Jahrhunderts, zur militärischen und medialen Karrieren im Königreich Preußen 1913–1918, zu den Rotkreuzkrankenschwestern sowie zu den Ehefrauen von Diplomaten am Beispiel von Johanna von Puttkamer (1824–1894), der Ehefrau von Otto von Bismarck. Der Band zeigt, dass es in Preußen vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert keine reinen Männerdomänen gab.

           

          Doch plötzlich jetzt emanzipiert will Wissenschaft sie treiben. Frauen an der Universität Bonn (1818-2018) / Hrsg. Andrea Stieldorf, Ursula Mättig, Ines Neffgen. Göttingen: V&R unipress, Bonn University Press, 2018. 217 S. (Bonner Schriften zur Universitätsund Wissenschaftsgeschichte. Band 9) ISBN 9-783-8471-0894-8. € 30.00

            Zum 200. Jahrestag der Gründung der Universität Bonn erscheint die vierbändige Festschrift Geschichte der Universität Bonn. Sie ergänzt die schon zahlreiche Literatur zu speziellen Themen (z.B. Die Universität Bonn im Dritten Reich. Bonn, 1999. XVII, 589 S.) Ein Querschnitt zur Geschichte der Frauen ist, aus welchen Gründen auch immer, der Öffentlichkeit bisher verwehrt geblieben. Nun gibt es außerhalb der Festschrift einen Band unter dem Titel Doch plötzlich jetzt emanzipiert will Wissenschaft sie treiben, der dem Lied der 1899 gegründeten Bonner Studentinnenverbindung Hilaritas entnommen ist. (S. 119) Der Untertitel Frauen an der Universität Bonn ist unkorrekt, denn die elf Beiträge in den drei Kapiteln (Frauen im Umfeld der Universität, Frauen an der Universität, Frauen gestalten die Universität) beschäftigen sich auch mit dem universitären Umfeld.

            Ziel ist es, verschiedene Aspekte der Geschichte von Frauen an der Universität Bonn und ihrer Umgebung anhand biographischer Studien und themenbezogener Beiträge zu erörtern.

            Dazu gehören aus dem Umfeld der Universität die Komponistin, Klavierspielerin und Musiklehrerin Johanna Kinkel (1810–1858) und an der Universität die Pädagogin und Gegnerin des Nationalsozialismus Marie Kahle (1831– 1909) und die Archivarin und Historikerin Edith Ennen (1907–1999). Themenbezogen betrifft es u.a. die Bonner Studentinnenverbindungen, die Situation Bonner Studentinnen in der Weimarer Zeit, das Frauenstudium in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gleichstellungspolitik und das Diversity Management als Strategien der Organisationsgestaltung.

            Die Publikation ist eine gelungene Anregung, sich intensiver mit der Geschichte der Frauen an der Bonner Universität zu beschäftigen. Ein vielversprechender Anfang ist gemacht.

             

            Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980 / hrsg. Vojin Saša Vukadinović. Göttingen: Wallstein Verl., 2020. 508 S. ISBN 978-3-8353-3785-5. € 36.00

              Die Schwarze Botin ist eine feministische Zeitschrift, die von 1976 bis 1987 unregelmäßig in West-Berlin erscheint. Herausgeberin ist Brigitte Classen. Der Titel ist eine Parodie auf die Regionalzeitung „Schwarzwälder Bote“. Der vorliegende Band ist die erste Dokumentation der wohl radikalsten Zeitschrift der westdeutschen Frauenbewegung. Er enthält eine großartige Einführung von Vojin Saša Vukadinović, eine Anthologie für die Jahre 1976 bis 1980 und eine interessante Nachbetrachtung „Wider den Schleim der Authentizität. Geschlechterikonographie, Sprachkritik und Ästhetik in der Schwarzen Botin“ von Christiane Ketteler und Magnus Klaue.

              Vukadinović nennt die Zeitschrift „das bedeutendste feministische Periodikum in deutscher Sprache“. (S. 11) Die Zeitschrift geht aus der Neuen Frauenbewegung hervor und richtet sich zugleich gegen diese und ihre Vorstellungen von identitärer Weiblichkeit. Unversöhnlichkeit und Feindschaft bis hin zum Boykott sind vorprogrammiert. Der Untertitel „Eine Zeitschrift für die Wenigsten“ – in Anlehnung an Friedrich Nietzsches Antichrist – ist Programm. „Während Courage und EMMA, die beiden, fast zeitgleich gegründeten Zeitschriften, in allgemeiner Erinnerung geblieben sind, wurde das mit Frauenhefte untertitelte WestBerliner Avantgarde-Journal … dem Vergessen überantwortet.“ (S. 11) „Aus der Geschichte des Feminismus ist kein vergleichbares Unterfangen bekannt. An einem Massenpublikum desinteressierte

              Schriften, ­unkomfortable Überlegungen und geradezu unmögliche Forderungen, ein elitärer Anspruch und ein ebensolcher Auftritt sowie entschieden der Boheme verpflichtete Lebensläufe.“ (S. 12-13) Und das mit heute prominenten Autorinnen wie Silvia Bovenschen, Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Ursula Kreschel und Gisela von Wysocki.

              Themen in dieser Auswahl sind feministische Debatten, politische Tagesthemen wie RAF, Islamische Revolution im Irak und Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus, Kultur-, Literatur- und Kunstkritik, Sexualität und Weiblichkeit; abgeschlossen wird das Ganze mit einer Reihe literarischer Texte.

              Der Band ist der Beginn einer längst fälligen Dokumentation und Aufarbeitung. 2022 soll im Mandelbaum-Verlag eine weitere Veröffentlichung erscheinen: Katharina Lux: Kritik und Konflikt. Die Zeitschrift Die Schwarze Botin in der autonomen Frauenbewegung (ISBN 978-3-85476915-6).

               

              Werner Seitz: Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900. Zürich: Chronos Verl., 2020. 294 S. ISBN 978-3-0340-1605-6. € 38.00

                 

                Margrit Steinhauser: Die Frauen im Parlament. Kollektivbiografie der National- und Ständerätinnen 1971-2019. Zürich: Chronos Verl., 2021. 137 S. ISBN 978-3-0340-1660-5. € 32.00

                  Werner Seitz beschreibt die Geschichte eines langen Kulturkampfes ­ , der mit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz im Jahr 1971 juristisch, aber nicht in der Praxis beendet ist. Zum 50jährigen Jubiläum erscheinen zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedliche ­Publikationen. Es dauert übrigens noch weitere zehn Jahre, bis die Schweizer Frauen in der Verfassung den Männern gleichgestellt werden. Auf die Wartebank geschoben ist das Handbuch zum Thema Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900.

                  Im ersten Teil gibt der Autor einen Rückblick ins Ancien Regime und zeigt, wie Frauen in der Aufklärung, in der Französischen Revolution und in der modernen bürgerlichen Schweiz ausgegrenzt werden. Der zweite, der ausführlichste Teil der Studie, zeigt auf der Grundlage der Forschungsliteratur die lange Geschichte des Kampfes um die Einführung des Frauenstimmrechts in vier Phasen: die Entstehung der Frauenverbände und das Sichtbarmachen der Forderungen nach politischer Gleichstellung (das 19. Jahrhundert bis 1918), die fehlenden Erfolge trotz verschiedener Vorstöße und Aktivitäten (1918–1944), die Schweiz als „gleichstellungspolitischer Sonderfall“, die Schweiz wird „zum dunklen Fleck auf der europäischen Frauenstimmrechtskarte“. (S. 88) (1944–1959). Teil 3 rekonstruiert die Entwicklung der Frauenpräsentation in den politischen Institutionen nach 1971. Teil 4 beinhaltet ausgewählte Volksabstimmungen über gleichstellungspolitisch relevante Themen von 1971 bis 2019. Seitz warnt aber auch, es gibt eine „tendenziell stagnierende Frauenrepräsentation der 2000er- und 2010er-Jahre“. Sein Fazit: „Die politische Gleichstellung ist nicht ein für alle Mal erreicht und gesichert, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden.“ (S. 238)

                  Margit Steinhauser schreibt mit Die Frauen im Parlament eine wundervolle Ergänzung zu dem Handbuch von Seitz. Sie beleuchtet akribisch die Wege der Parlamentarierinnen, das sind 257 Nationalrätinnen und 42 Ständerätinnen, von 1971 bis 2019. Aus der kollektivbiografischen Perspektive interessiert die Autorin die „geografische und gesellschaftliche Herkunft, Bildung, Parteizugehörigkeit und die familiäre Situation der Frauen.“ (S. 9) Die Aufnahme der Politikerinnen durch die Kollegen gestaltet sich schwierig, es gilt schließlich Macht zu teilen. Dank ihres unermüdlichen Engagements erzielen die Parlamentarierinnen in den von der Autorin betrachteten fast 50 Jahren trotz zahlreicher Rückschläge viele Erfolge in wichtigen gleichstellungspolitischen Dossiers. Das Parlament von 2019 ist mit 95 Frauen in der Bundesversammlung, 83 National- und 12 Ständerätinnen „fühl- und sichtbarer weiblich geworden“. (S. 9) Ein umfangreicher Anhang informiert über die Anzahl der Nationalrätinnen nach Kantonen, die politischen Laufbahnen der Nationalrätinnen, die politischen Laufbahnen der Ständerätinnen und die weiblichen Kandidaturen für den Bundesrat. Das ist ein beachtenswerter Überblick über die Frauen in den eidgenössischen Räten, zugleich ein bedeutsamer Ausgangspunkt für weitere Forschungsobjekte. Weitere Bücher zu diesem Thema sind u.a.

                   

                  Frauen. Rechte. Von der Aufklärung bis in die Gegenwart / Hrsg. Schweizerisches Nationalmuseum. Dresden: Sandstein Verl., 2021. 87 S. ISBN 978-3-95498-598-2. € 18.00 

                     

                    Auf Abwegen. Frauen im Brennpunkt bürgerlicher Moral / Hrsg. Verein Frauenstadtrundgang Basel.Basel: Christoph Merian Verl., 2021. 127 S. ISBN 978-3-85616-944-2. € 28.00

                      Frauen. Rechte ist die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Schweizerischen Nationalmuseums. Der sehr schön gestaltete Band zeigt in einprägsamen Texten, zahlreichen Beispielen und Fotos, welche Auswirkungen die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter in den Gesetzestexten auf den Lebensalltag der Schweizerinnen hat. Die Geschichte der Frauenrechte „handelt vom Ringen um gleiche Rechte und von der Anerkennung der Frau als vollwertige Bürgerin – und ist somit auch eine Geschichte der Menschenrechte und des Rechts, daran teilzuhaben. Wichtig ist diese Geschichte, weil vieles bereits wieder in Vergessenheit geraten ist: Wer weiß heute noch, dass Ehefrauen bis 1987 nur mit Einwilligung des Ehemannes arbeiten und selber keine Verträge unterschreiben durften.“ (S. 8) Es ist ein gelungener chronologisch aufgebauter Streifzug. Er beginnt außerhalb der Schweiz mit der Aufklärung und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 und führt uns dann durch die Jahrhunderte mit den schweizerischen Gesetzen und den Ausgrenzungen der Frauen, aber auch zu den Protagonistinnen, die den Einschluss der Frauen fordern. „Erfolg war ihnen ebenso wenig beschieden wie jenen Pionierinnen, die ab Ende des 19. Jahrhunderts bis ans Bundesgericht gelangten, um das Aktivbürgerrecht zu erstreiten.“ (S. 9) Es gibt auf Seite 81 ein verstörendes Bild: Ein Ordnungshüter in der Landsgemeinde in Trogen verweist eine Frau des Platzes, die an einer Kundgebung teilnehmen will. Wir schreiben das Jahr 1968! Seit 1990 veranstaltet der Verein Frauenstadtrundgang Basel Spaziergänge zur aktuellen Frauen- und Geschlechtergeschichte. Auf Abwegen hinterfragt, wie stark die bürgerlichen Normen in Basel zwischen 1880 und 1930 die weibliche Lebens- und Arbeitswelt formen. Die anhand historischer Dokumente aus bisher unerschlossenen Quellen erarbeiteten Beiträge sind eine Einladung, die Stadtgeschichte in Bezug auf aktuelle geschlechterspezifische Strukturen zu reflektieren. In einer Einleitung werden die Geschlechterrollen im Panorama der Schweizer Moderne beschrieben, die vier Beiträge erzählen u.a. von den prekären Wohn-, Hygiene- und Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und der Hausangestellten, von den Anfängen der Eugenik und von der Reinlichkeit als Bürgerinnenpflicht, sie stellen Zusammenhänge zu Prostitution und Abtreibung her und erläutern die eugenischen Sterilisationsmaßnahmen. Die großartige Gestaltung des Bandes führt zur Auszeichnung als eines der schönsten Bücher in Deutschland 2021.

                      Über den großartigen Fotoband zum machtvollen Frauenstreik am 14. Juni 2019 ist hier schon berichtet worden (Rez. in fachbuchjournal 13 (2021) 4, 12-13) – 126 Fotografien von 32 Fotografinnen, die den Streik an verschiedenen Orten begleiten.

                       

                      Jessica Bock: Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980-2000. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verl., 2020. 460 S. (Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands. Band 6) ISBN 978-3-96311-395-6. € 48.00 

                         

                        Frauen in der Geschichte Leipzigs – 150 Jahre Allgemeiner Deutscher Frauenverein / Hrsg. Susanne Schötz, Beate Berger. Leipzig: Leipziger Universitätsverl., 2019. 286 S. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig. Band 15) ISBN 978-3-96023-281-0. € 34.00

                          Die Studie Frauenbewegung in Ostdeutschland widmet sich der Geschichte der ostdeutschen nichtstaatlichen Frauenbewegung zwischen 1980 und 2000 in ihren Ursprüngen, Kontinuitäten und Brüchen, Strukturen, Akteurinnen, Handlungsfeldern und Netzwerken am Beispiel der Stadt Leipzig. Die Untersuchung ist eine Lokalstudie, „ob und inwieweit die gewonnenen Ergebnisse sich auf das übrige Gebiet der DDR und der neuen Bundesländer übertragen und generalisieren lassen, bietet Stoff für weitere Regional- und Lokalstudien.“ (S. 423)

                          Die Studie beinhaltet eine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zur Frauenbewegung in der DDR und in den neuen Bundesländern einschließlich der Formulierung von Fragestellungen und Thesen (Kapitel 1), die Frauenpolitik und das neue Frauenbewusstsein der 1970er und 1980er Jahre (Kapitel 2) und die nichtstaatliche Frauenbewegung in Leipzig von 1980 bis 1989 (Kapitel 3), die nichtstaatliche Frauenbewegung im Umbruch 1989/90 (Kapitel 4) sowie die ostdeutsche Frauenbewegung zwischen Aufbruch und Überlebenskampf 1990 bis 2000 (Kapitel 5).

                          Für den Zeitraum 1980 bis 2000 kann für Leipzig von der Existenz einer aktiven Frauenbewegung gesprochen werden. Die Vereinigung beider deutscher Staaten führt zu einer Etablierung und Ausdifferenzierung der Frauenvereinslandschaft.

                          Auch diese Studie zeigt, wie schon in vorangegangenen Arbeiten, dass die Ansätze und Erkenntnisse der historischen Frauenbewegungsforschung „schlichtweg ignoriert“ werden. (S. 26)

                          Eine großartige Forschungsarbeit – von der Begriffsbestimmung, dem methodischen Rahmen und der Quellengrundlage einschl. der leitfadengestützten Interviews mit 23 Zeitzeuginnen bis hin zur Analyse der Ergebnisse. Ein Vorbild für weitere Studien in anderen Städten und Regionen.

                          Dass das gesellschaftlich-politische Engagement von Frauen in der Stadt Leipzig eine lange Tradition hat, zeigt sich auch in Frauen in der Geschichte Leipzigs – 150 Jahre Allgemeiner Deutscher Frauenverein mit zwölf lesenswerten Beiträgen von der Korrespondenz Katharinas von Braunschweig (1395–1442) über Leipziger Frauenbibliotheken und weiblicher Buchbesitz im 18. Jahrhundert bis 1989 als Zäsur der Frauenbewegungen in Ost- und West deutschland.

                          Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­  Humboldt-Universität ­ Berlin, war von 1967 bis 1988 ­Biblio­theksdirektor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

                          dieter.schmidmaier@schmidma.com

                           

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