Wir schreiben das Jahr 501. – Im Jahr, in dem der Donnerhall des Reformationsjubiläums langsam verklingt, stellt sich auch auf dem Feld der Literatur zu Recht und Religion langsam wieder der Normalzustand ein, die literarische Dominanz Luthers und der Reformation geht zurück. Diese Bücherschau knüpft dessen ungeachtet zunächst an den Überblick der im fachbuchjournal (5|2017, S. 53–67) gegebenen Hinweise zu Literatur des Reformationsjubiläums an und widmet sich noch einigen wichtigen Publikationen, die im letzten Halbjahr erschienen sind. Daneben sollen aber auch jüngere Publikationen zum Religionsverfassungsrecht vorgestellt werden.
I. Reformationsjubiläum
Melloni, Alberto (Hrsg.), Martin Luther. Ein Christ zwischen Reformen und Moderne (1517–2017), 2017, 3 Bände, Buch. 1790 S., Hardcover, De Gruyter, ISBN 978-3-11-050100-1, 399,00 EUR.
Das von Alberto Melloni herausgegebene Handbuch ist zweifellos ein Meilenstein. Es versammelt multiperspektivisch den Stand der internationalen Forschung zu Martin Luthers Person und Werk, sowie zu den Wirkungen der Reformation auf Geschichte, Kirchen, politische Institutionen, Philosophie, Kunst und Gesellschaft bis in die Gegenwart. Das dreibändige Werk beginnt mit einführenden Beiträgen, denen eine Kette von Untersuchungen zu einzelnen Aspekten der Biografie Luthers folgen. Dem schließen sich Beiträge an, die das Verhältnis Luthers zu den anderen Reformatoren schlaglichtartig beleuchten. Während so der erste Teilband stark von den Gestalten der Reformation bestimmt wird, widmet sich der zweite Band eher den politisch-gesellschaftlichen und theologischen Kontexten der Reformation. Hier findet sowohl die politische Dimension der Reformation, Luthers Antisemitismus, die geopolitischen Rahmenbedingungen und auch die erfrischende Perspektive auf Luthers Verhältnis zu den Frauen und zur Sexualität Raum. In weiteren großen Schritten eröffnet der Band Perspektiven auf die Traditionsstränge der lutherischen Theologie, bevor die Ökumene in den Fokus rückt. Der zweite Band ist im Übrigen der Rezeption Luthers in Philosophie und Geschichte und vor allem auch in der darstellenden Kunst gewidmet. Diese Kontexte von Person und Werk Luthers werden im dritten Teilband nochmals ausgeweitet und die Weltwirkung der Reformation in den Fokus gestellt. Hier erscheint das Reformationsgeschehen als globales Phänomen, eine Perspektive, die es erlaubt, die Buntheit der einzelnen Facetten wahrzunehmen. Die besondere Qualität des dritten Bandes liegt überdies in einer umfangreichen, aber dennoch klug ausgewählten Bibliografie der einzelnen Beiträge. Hier findet der Leser einen wahren Schatz an weiterführenden Hinweisen. Vor allem aber enthält der dritte Band einen grafisch und drucktechnisch außerordentlich hervorragenden Teil mit Kartenmaterial und vor allem auch mit einer Ikonographie der Reformation und der reformatorischen Gestalten. Die verbreiteten und wohlbekannten Porträts der Zeitgenossen findet man hier in bestechender Reproduktion. Das Werk ist auch deshalb in jeder Hinsicht gelungen. Es vereinigt ein internationales Forschungsfeld und zielt ersichtlich auf eine nicht nur nationale Wirkung. Dem ist auch das Erscheinen einer englischsprachigen Ausgabe verpflichtet. Opulent ist zwar der Preis, opulent ist aber auch das Werk, das deshalb jedenfalls in keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen darf.
Frank, Günter (Hrsg.), Philipp Melanchthon, Der Reformator zwischen Glauben und Wissen. Ein Handbuch, 2017, Buch. 865 S., Hardcover, De Gruyter, ISBN 978-3-11-033505-7, 149,95 EUR.
Eine vergleichbare Referenz setzt auch das von Günter Frank herausgegebene Handbuch zu Philipp Melanchthon, dem Reformator, der auch im Lutherjahr nicht im Schatten Luthers stehen sollte. Dies gilt vor allem auch in theologischer Hinsicht. Das Handbuch hat einen bunten Kreis internationaler Experten zusammengetragen, die Person und Werk Melanchthons würdigen und den derzeitigen Stand der Forschung zusammentragen. Nach orientierenden, überblicksartigen Aufsätzen widmen sich die Autoren der Person Melanchthons und seinem Verhältnis zu Luther und den anderen Reformatoren, sowie dem Wirken Melanchthons im unmittelbaren Reformationsgeschehen. Hier ist der Leser durch die gut etablierten Biografien zu Melanchthon zwar gut vorbereitet, kann jedoch in dieser kondensierten Form noch vieles am Leben und Wirken neu entdecken. Sodann stellt das Handbuch das Werk Melanchthons in das Zentrum. Dieses wird zunächst seinen Gattungen nach erschlossen. Hier dürfte ein erheblicher systematisierender Forschungsertrag des Handbuchs liegen. Die übrigen werkbezogenen Beiträge unterscheiden dankenswerter Weise klar zwischen dem theologischen und dem philosophischen Werk Melanchthons. Neben dem Reformator und Theologen wird so auch die Gestalt des europäischen Philosophen am Beginn der Moderne deutlich. Allein die im Handbuch getroffene Unterscheidung stellt so schon einen erheblichen Eigenwert dar. In seinem letzten Abschnitt wendet sich das Handbuch der Wirkung und Rezeption Melanchthons in unterschiedlichen europäischen Ländern und Räumen zu. Ein umfangreiches Literatur-, Personen-, und Sachregister macht das Werk schließlich zu einem hilfreichen Begleiter. Wer den Stand der Melanchthonforschung kondensiert erfassen möchte, der sollte zu dem Handbuch greifen.
Schnabel-Schüle, Helga, Reformation, Historischkulturwissenschaftliches Handbuch, 2017, Buch. X, 378 S., Hardcover, J.B. Metzler, ISBN 978-3-476-02593-7, 89,95 EUR.
Das Handbuch eröffnet eine historisch-kulturwissenschaftliche Perspektive zur Reformationsgeschichte. Es fragt in europäischer und konsequent interdisziplinärer Sicht nach den Bedingungen des Erfolgs und Misserfolgs von Reformation. Der theologische Disput wird so in der säkularen Perspektive der Konfessionalisierungsforschung analytisch erfasst. Die analytischen Instrumente fragen in einer in der neueren Kulturwissenschaft so typischen Manier nach Akteuren, Netzwerken und Räumen. Juristen sind in dem Fall immer geneigt von steuerungswissenschaftlicher, akteurzentrierter Regulierungsperspektive zu sprechen. Dies läge den Verfassern der Beiträge sicher nicht nah, hier wie dort ist mit dem Denken in Akteuren, Strukturen, Netzen und Räumen ein leistungsfähiges Raster beschrieben, das über die überkommenen linearen Muster der älteren Geschichtswissenschaft weit hinausweist. Nach der Konzeption der theologischen Diskurse stellt der Band so zunächst die Akteure und Netzwerke der Reformation, unter anderem die Theologen, die Universitäten, die Juristen, die Buchdrucker und Künstler, sowie aber auch die Landstände als politische Akteure in den Vordergrund. Hiernach erschließt der Band reformatorische Räume, indem zunächst im Kontext des Reiches, sodann Europas und der außereuropäischen Welt auf Wirkungen und Verlaufsformen des Reformationsgeschehens eingegangen wird. Hier hätte der Leser gerne Näheres erfahren, aber in der gedrängten Dichte der Ausführungen lässt sich ein facettenreicheres Bild wohl kaum zeichnen. Hervorzuheben ist aber immerhin eine auf Reichsebene tiefe, territoriale Differenzierung. Das Handbuch widmet sich sodann der Reformation als Mediengeschehen und kann hier an die Publikationen der vergangenen Jahre anschließen. Hervorzuheben ist allerdings, dass die unterschiedlichen Medien und Kunstarten hier differenziert gewürdigt werden. Ein lesenswertes Handbuch, das viele Informationen in leider oftmals sehr gedrängter Form enthält. Für einen raschen und analytischen Zugang zum Thema ist es allerdings bestens geeignet.
Knape, Joachim, 1521, Martin Luthers rhetorischer Moment oder Die Einführung des Protests, 2017, Buch. 366 S. Hardcover, De Gruyter, ISBN 978-3-11-054549-4, 49,95 EUR.
Joachim Knape macht schon im Titel seiner Untersuchung auf eine wesentliche Verschiebung aufmerksam. Im Zentrum des Buches stehen nicht die Wittenberger Thesen und der theologische Weckruf der Reformation 1517, sondern das Jahr 1521 und damit das Geschehen um Luther auf dem Reichstag zu Worms. Hier wächst Luther im Disput, in Rede und Gegenrede und damit in einem rhetorischen Geschehen aus der Rolle des Reformators in die auch sprachlich hiernach sich verbreitende Rolle des Protestanten. Im Zentrum des Buches steht die Analyse der drei rhetorischen Ereignisse auf dem Wormser Reichstag. Hier werden Anklage, Verteidigung und Verurteilung Luthers als Rhetoriker und in ihrem rhetorischen Zusammenhang untersucht. Jenes „Hier stehe ich und kann nicht anders“ wird natürlich in der Unsicherheit des geschichtlichen Faktums gewürdigt, vor allem aber auch in der Funktion des rhetorischen Protestes. Die für die Nachgeborenen in ihrer Kompromisslosigkeit erstaunliche „sola scriptura“- Forderung wird in ihre methodischen und wissenschaftsgeschichtlichen, und damit nicht nur theologischen, Kontexte eingeordnet. Der Band erschließt Rhetorik als großen Dynamisierungsfaktor der Geschichte. Man kann dem Verfasser so zustimmen, dass wir das Reformationsjubiläum säkulargeschichtlich vier Jahre zu früh gefeiert haben. Knape schildert nichts weniger als die Geburtsstunde des Protestes als sozialkommunikative Institution der westlichen Welt. Allein in dieser Perspektive bereichert das Werk ungemein. Man kann zwar bezweifeln, dass die öffentlichen Akteure im religionspolitischen Feld die Kraft finden, 2021 ein Protestjubiläum zu begehen. Wäre es anders, das Buch dazu gäbe es schon.
Matheus, Michael/Nesselrath, Arnold/ Wallraff, Martin (Hrsg.), Martin Luther in Rom, Die Ewige Stadt als kosmopolitisches Zentrum und ihre Wahrnehmung, 2017, Buch. 552 S., 40 s/w-Abbildungen, Hardcover, De Gruyter, ISBN 978-3-11-030906-5, 109,95 EUR.
Babel, Sodom und Gomorrha – Sündenpfuhl und verschwenderische Hybris – Assoziationen der ewigen Stadt Rom als Reiseziel eines jedenfalls nicht der Welt zugewandten Mönches vom Rande der Zivilisation. Dies ist eine lange Zeit tradierte Sicht auf die Rom-Reise und die Deutung ihrer Auswirkungen, insbesondere auf Luthers Verhältnis zum Papsttum. Die Beiträge des hier angezeigten Sammelbandes einer verdienstvollen Tagung brechen diese unsachgemäß negative Wahrnehmung der Reise Luthers und der Stadt auf. Der Band liefert in der Tat ein differenziertes Bild der Stadt Rom am Vorabend der Reformation. Am Beginn der Beiträge steht eine gut lesbare und sorgfältige Rekonstruktion der Reise als solche und der Analyse der Retrospektive Luthers auf diese. Gespiegelt werden diese Reiseerlebnisse durch Beiträge, die Rom als urbanes Zentrum der Zeit differenziert entfalten. Organe, Orte und urbane Eliten werden analysiert. Schließlich widmet sich der Band auch dem römischen Zentrum des Papstes und der Kurie. Vor diesen Hintergründen zeichnet der Band ein Bild der Frömmigkeitspraktiken in Rom und schließt mit einer fein ziselierten Analyse Roms als Zentrum der Kunst, Kultur und Wissenschaft der Renaissance. Wissenschaftsgeschichte, Kunstgeschichte und vor allem auch Architekturgeschichte finden hier einen angemessenen Raum. Offenbart wird ein urbanes Profil der Stadt Rom in der Perspektive der kulturgeschichtlichen Disziplinen und die dynamische Entwicklung eben dieses Profils. Der Sammelband bietet so in der Tat eine Momentaufnahme der Stadt Rom zu Beginn des 16. Jahrhunderts und erklärt zu einem guten Teil auch die Schwierigkeiten und vermutlich auch die Überforderung Luthers in seinem Zusammentreffen mit dem Rom der Renaissance. Eine wichtige Bereicherung der Perspektiven auf das vorreformatorische Geschehen.
Pangritz, Andreas, Theologie und Antisemitismus, Das Beispiel Martin Luthers, 2017, Buch. 570 S., Hardcover, Peter Lang GmbH, ISBN 978-3-631-73362-2, 64,95 EUR.
Untersuchungen zu Luthers Antisemitismus und Antijudaismus haben das Reformationsjubiläum in seinem wissenschaftlichen und literarischen Echo zurecht auch geprägt. Zu nennen sind hier vor allem die verdienstvollen neuen Editionen der Judenschriften Luthers. Die reformationsgeschichtliche Forschung legt den Fokus hier vor allem aber auch darauf, den Antisemitismus Luthers in seinen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen. Am Beginn der Neuzeit ist Luthers Judenfeindschaft scheinbar nur Beispiel für ein verbreitetes Phänomen; und die Debatte fokussiert sich jetzt leicht von diesem Hintergrund auf die graduelle Wertung, inwieweit Luther sich in den Kanon der Antisemiten seiner Zeit eingeordnet oder sich in diesem Chor hervorhebt. Zu dieser Debatte leistet das wichtige Werk von Andreas Pangritz einen erheblichen Beitrag. Im Zentrum der Untersuchung steht der Antisemitismus nicht in seinem politischen, gesellschaftlichen und historischen Kontext, sondern im Kontext der lutherischen Theologie. Zunächst rekonstruiert der Autor die Rezeptionsgeschichte und das Forschungsbild zu Luther und den Juden. Hier enthält der Band nichts weniger als ein Panoptikum der Antisemitismusforschung. Bei diesem Panoptikum bleibt der Autor allerdings nicht stehen, sondern beweist, dass er nicht Kirchenhistoriker, sondern Theologe ist. Die Kernthese des Buches liegt in der Zusammenführung der Antisemitismusforschung mit der theologischen Perspektive, indem das Werk theologische Wurzeln für Luthers Antijudaismus offenlegt und die Schriften Luthers aus dieser Perspektive heraus rekonstruiert. Den Band beschließen verdienstvolle Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte im Übrigen. Die Untersuchung schließt jedenfalls eine wichtige Lücke in der Forschungslandschaft. Die Untersuchungsergebnisse sollten für einen kontroversen Dialog zwischen Theologie und Antisemitismusforschung sorgen. Zu wünschen wäre es.
Faber, Richard/ Puschner, Uwe (Hrsg.), Luther, zeitgenössisch, historisch, kontrovers, 2017, Buch. 770 S., Hardcover, Peter Lang GmbH, ISBN 978-3-631-67730-8, 79,95 EUR.
Eine wichtige Perspektivenerweiterung bringt auch der von Richard Faber und Uwe Puschner herausgegebene Sammelband zum Reformationsjubiläum mit sich. Die humanistische Alternative bricht das in der Tat hochproblematische Deutungsmonopol der offiziösen Reformationswahrnehmung in der sogenannten Lutherdekade. Dem Band geht es um die Historisierung, Kontextualisierung und vor allem Entmythologisierung Luthers im Besonderen, und der Reformation im Allgemeinen. Eine erste Gruppe von Beiträgen widmet sich den Lutherjubiläen und ihren Problematiken. Eher historisch inspiriert sind sodann Beiträge, die den Bruch mit der alten Kirche und seinen medialen Folgen rekonstruieren. Die Reformation als Medienrevolution erscheint hier als Phänomen funktionierender Propaganda. Eine weitere Gruppe von Beiträgen widmet sich patriarchalen Obrigkeitskonzepten von Luther und dem Luthertum. Sodann widmet sich der Band der Lutherrezeption, sowohl in der nationalistischen Deutung, als auch in Bezug auf die Rezeption des Antisemitismus Luthers. Zur Kontextualisierung sollen auch die Beiträge führen, die die Bibelübersetzung Luthers thematisieren und aus ihrer Alleinstellung herausheben, indem sie auf die zeitgenössischen Übersetzungsarbeiten hinweisen. Andere Beiträge widmen sich der Buntheit des Reformationsgeschehens und ordnen die vermeintliche Zentralgestalt Luthers in den weiten Kreis der Reformatoren und reformatorischen Bewegungen ein. Schließlich darf auch der Hinweis auf humanistische Alternativen nicht fehlen. Kurz: Ein Panoptikum starker und schwacher Beiträge, überraschender, bereichernder, verstörender und natürlich auch zum Widerspruch herausfordernder Stimmen, die andernorts so in den letzten Jahren nicht gehört worden sind. Wenn der Rezensent vermuten dürfte, ohne den Herausgebern zu nahe treten zu wollen: Martin Luther hätte seine grobianische Freude gehabt.
II. Religion, Geschichte und Verfassung
Schwarz, Karl W., Der österreichische Protestantismus im Spiegel seiner Rechtsgeschichte, 2017, Buch. XIV, 333 S., Hardcover, Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-155227-4, 69,00 EUR.
Sucht man nach einer Konstanten in der Geschichte Österreichs, sei es als Republik oder auch in der Verfassung der konstitutionellen Monarchie, so findet man sie im Katholizismus. Die Untersuchung Schwarz widmet sich dem vernachlässigten Gegenbild nämlich der Rechtsgeschichte des österreichischen Protestantismus. Das zentrale Thema der Untersuchung ist das Verhältnis von Staat und Kirche im Laufe des geschichtlichen Wandels. Die Untersuchung reicht vom 16. Jahrhundert und der Gegenreformation, über die Epoche des Geheimprotestantismus zur Toleranz und zur Emanzipation der Altkatholiken im 19. Jahrhundert. Sie würdigt die Protestantenpolitik der Habsburger und bietet der Kernfrage, inwieweit der Landesherrschaft, hier Kirchenregimente, Kompetenzen im Sinne eines Summepiskopats zukommen könnten, Raum. Die Beiträge widmen sich auch der Kirchenpolitik in der Zeit der NS-Ära und nach 1945. Exkurse erschließen das konfessionelle Eherecht und die Rechtsstellung der Freikirchen in Österreich, sowie Fragen der Gewährleistung der Religionsfreiheit im Donauund Karpatenraum. Die Untersuchung legt ein wichtiges Fundament und lenkt den Blick auf die Rechtsgeschichte des österreichischen Protestantismus, die in der vor allem kleindeutsch geprägten Perspektive der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft und Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland weithin eine Leerstelle war. Ein wichtiges Buch.
Mückl, Stefan (Hrsg.), Kirche und Staat in Mittel- und Osteuropa. Die Entwicklung des Staat-Kirche-Verhältnisses in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas seit 1990, 2017, Buch. 264 S., Softcover, Duncker & Humblot, ISBN 978-3-428-15314-5, 69,90 EUR.
Das Verhältnis von Staat und Religion bzw. staatlicher Ordnung und Kirche wird seit einigen Jahrzehnten verstärkt in ihrer europäischen Dimension und Perspektive wahrgenommen. Dabei prägen vor allem aber die Ordnungsmuster der religionsverfassungsrechtlichen Systeme des Laizismus Frankreichs, der zugewandten Neutralität in Mitteleuropa und Südwesteuropa und die anglikanischen Staatskirchentümer bzw. skandinavischen Volkskirchentümer das Feld. Der Zusammenbruch des ehemals kommunistischen Machtbereichs in Mittelund Osteuropa öffnet die Gesellschaftsordnungen und Verfassungsordnungen der dortigen Staaten aber auch zur Religion, insbesondere zur verfassungsrechtlichen Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion. Die hier gefundenen Lösungen und Ordnungsvorstellungen geraten allerdings leicht aus dem Blick. Dem abzuhelfen ist das Anliegen des hier vorliegenden Tagungsbands. Versammelt werden Länderberichte überwiegend katholisch geprägter Länder, überwiegend orthodox geprägter Länder und religiös pluralistisch geprägter Länder, sowie weitgehend atheistischer bzw. durch Religionslosigkeit gekennzeichneter Gesellschaften bzw. Staaten. Die Autoren geben so einen Überblick über die Ordnungssysteme in Polen, Kroatien, Litauen, Russland, Serbien und Ungarn bzw. Rumänien, Tschechien und Estland. Die Bestandsaufnahmen erlauben einen wichtigen ersten Eindruck vor allem in die religionssoziologischen Bedingtheiten der Transformationsprozesse und ihre Übersetzung in rechtliche Ordnungsmuster. Im Überblick ist alsbald eine Vertiefung zu wünschen. Bis dahin zeichnet der Band ein wichtiges Feld nach.
Arning, Marcus, Grundrechtsbindung der kirchlichen Gerichtsbarkeit, 1. Auflage 2017, Buch. 338 S., Softcover, Nomos Verlagsges., ISBN 978-3-8487-4215-8, 89,00 EUR.
Die Münsteraner Dissertationsschrift geht der Frage nach, inwieweit die Rechtsprechung der evangelischen und katholischen Kirchengerichtsbarkeit an die staatlichen Grundrechte gebunden ist. Nach einer luziden Einleitung erschließt sich der Autor zunächst die in der Literatur erschöpfend behandelte Frage der Bindung der Kirchen an die Grundrechte überhaupt. Hier werden die religionsverfassungsrechtlichen Grundlagen angemessen knapp auf bekanntem Grund entfaltet. Der Verfasser geht auch auf die, insbesondere im evangelischen Bereich, verbreitete Frage nach innerkirchlichen Grundrechten ein. Auf diesem so bereiteten religionsverfassungsrechtlichen Fundament erörtert der Verfasser sodann die Grundrechtsbindung der kirchlichen Gerichtsbarkeit im Speziellen, indem er diese zunächst im Binnensystem der Religionsgemeinschaften rechtlich und funktional verordnet. Diese Ausführungen haben einen hohen Informationsgehalt und lassen die Phänomenologie der Kirchengerichtsbarkeit und ihrer Felder deutlich werden. Deutlich wird auch die Heterogenität der Rechtsprechung. Der Verfasser plädiert im Ergebnis für eine faktische Bindung der kirchlichen Gerichtsbarkeit an die staatlichen Prozessgrundrechte im Rahmen der Justiziabilität kirchlicher Angelegenheiten vor staatlichen Gerichten. Zwar sei die kirchliche Gerichtsbarkeit unmittelbar weder an materielle noch an prozessuale Grundrechte des Staates gebunden. Wollten die Religionsgemeinschaften allerdings im Rahmen ihrer eigenen Angelegenheiten in den Genuss einer weitreichenden Tatbestandswirkung kirchengerichtlicher Entscheidung kommen, da diese zwar grundsätzlich staatlich judizierbar sind, der Prüfungsumfang der staatlichen Gerichte auf die Einhaltung fundamentaler Verfassungsprinzipien aber beschränkt ist, so müssten die Verfahren vor den Kirchengerichten im Wesentlichen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Zu diesen zählt der Verfasser eben auch die Prozessgrundrechte. Die Bindung an Prozessgrundrechte ist für Kirchengerichte damit eine Selbstbindung und der Preis einer geringeren Justiziabilität bzw. Kontrolldichte staatlicher Gerichte. Der Verfasser legt damit ein Kompensationsmodell vor, das im Bereich der Ordnung und Verwaltung eigener Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften und der hier prägenden Abwägungslehre angelegt ist und im Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit so ein überzeugendes Anwendungsfeld findet. Eine gut lesbare Arbeit mit einem konsistent begründeten Ergebnis.
Gabriel, Karl/ Reuter, Hans-Richard (Hrsg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland, Konfessionen – Semantiken – Diskurse, Buch. 508 S., Hardcover, Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-151718-1, 124,00 EUR.
Der Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ in den Kulturen der Vormoderne und Moderne belegt seine Produktivität auch in dem von Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter herausgegebenen Sammelband zu Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland, der ihr Untersuchungsfeld auf Deutschland verengt und dessen Tradition eines korporatistischen Sozialversicherungsstaates mit dualer Wohlfahrtspflege in den Blick nimmt, nachdem ein weiterer gewichtiger Band vor fünf Jahren dieser Fragestellung in europäischer Perspektive nachging. Die Beiträge nehmen Religionen als Faktor der Herausbildung dieses Phänotyps des Sozialstaats in den Blick. Analysiert werden Bezugnahmen religiöser Akteure auf wohlfahrtsstaatliche Leitsemantiken in Deutschland seit dem Kaiserreich in ihrer konzessionsspezifischen Prägung. Der Blick wandert dabei vom Institutionellen, also Staat, Wirtschaft, Arbeit, Armut und Familien, zu Wertsemantiken wie Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität, Verantwortung und Sicherheit. Rekonstruiert wird im semantischen Feld ein Kampf zwischen den Konfessionen und zwischen religiösen und säkularen Akteuren um die Deutungshoheit in der Welt des Sozialen. Die Herausgeber sprechen hier von einer religiösen Dimension der Tiefengrammatik des Deutschen Wohlfahrtsstaates. Wenngleich hier, wie auch in einigen anderen Beiträgen, gerade wegen der wissenssoziologischen und begriffsgeschichtlichen Perspektive eine rhetorische Abrüstung dem Leser sicher wohltäte, ändert dieser, eher an die Wissenschaftsdisziplinen zu richtende Befund doch nichts an der Qualität und der Schärfe der vorgelegten Untersuchungen.
Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) war von 2010 bis 2014 Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht zunächst an der Universität Osnabrück und dann an der Universität Mainz. Seit 2015 hat er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht, Religionsverfassungsrecht und Kirchenrecht sowie Steuerrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen inne.
sekretariat.droege@jura.uni-tuebingen.de