Recht

Rechtsgeschichte: Reineke Fuchs

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Friedrich Harrer, Reineke Fuchs. Karriere eines Weltkindes. Eine juristische Neudeutung. Verlage C.H.Beck, MANZ‘sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, München/Wien 2020, geb., 139 S., ISBN 978-3-214-01984-6 (MANZ), ISBN 978-3-406-76349-6 (C.H.Beck), € 19,00.

Wer kennt ihn nicht, den Listenreichen, Reineke Fuchs, der seit etwa um 1200 sein Wesen treiben soll, so die Umschlagseite, dessen traditioneller Ruf also bis in das europäische Mittelalter zurückreicht (so steht es jedenfalls auch bei Wikipedia, Abfrage am 25. 10. 2021, auf S. 1). Die Erzählung in der Goetheschen Fassung mit den kongenialen Kupferstichen von Wilhelm von Kaulbach habe ich ab etwa dem 15. Lebensjahr (da standen noch die Stiche im Vordergrund) immer wieder einmal gelesen – und in keiner der Vorlesungen zum Strafprozessrecht und zur Geschichte des Strafrechts vergessen, auf sie und ihren Hintergrund, den alten Anklageprozess, hinzuweisen; zudem war Goethe ja – auch – Jurist, war aber „mehr, denn nur ein Jurist…“ im Lutherschen Sinn. – Harrer, Professor für Gesellschafts- und Zivilrecht an der Universität Salzburg, hat sich schon zuvor mit Goethetexten befasst, nun eben mit dem Reineke und dem Versuch einer juristischen Neudeutung. Schon im Vorwort (S. 5-8) schreibt er, dass im Roman de Renart ein zentrales Thema der hoheitlich angeordnete Landfrieden sei: „Der König sitzt dem Gerichtshof vor, er leitet die Versammlung, er entsendet Boten“. Im Reineke de vos, den später Gottsched und den Gottschedschen dann Goethe bearbeitet hat, kommt das Gericht nicht bloß vor, es bietet den Rahmen für sämtliche Handlungsabläufe (S. 5; in Fn. 3 löst Harrer das Rätsel um das „Weltkind“ auf). Dann legt er sich in seiner Deutung dieses Werks des Hochmittelalters fest: Es ist für ihn – vor allem – eine Satire (S. 6). Ihren Witz erfasse nur der Versuch einer zeitbezogenen Deutung. Hingegen finde man in der Literaturwissenschaft die These einer Enthistorisierung des Stoffs durch Goethe. Ziel der Studie sei es, die konträre Sichtweise zu plausibilisieren (S. 7). Hierzu müsse man den historischen Rahmen in die Textinterpretation integrieren, also „sich mit der Friedensbewegung des Hochmittelalters befassen, … einer Zeit, zu der der Landfriedensprozess einen Höhepunkt erreicht hat“ (S. 7). Interesse verdiene aber auch „die eigentümliche Welt“. „Auf dieser Bühne agieren Tiere, … die weithin menschenähnlich handeln“. Vor allem können sie sprechen. Es erhebe sich die Frage, ob diese Welt auch heute noch ein mögliches literarisches Forum biete. (Donaldisten werden das aus ihrer Perspektive „natürlich“ bejahen).

Im abschließenden VII. Kapitel befasst Harrer sich – noch vorläufig – mit Goethes „Hermann und Dorothea“ sowie der „Achilleis“, wo freilich nicht die Antworten, sondern die Fragen im Mittelpunkt stünden (S. 8). Damit ist der Ansatz in aller Kürze umfassend geklärt. – Das I. Kapitel bringt die Einleitung-Übersicht (S. 13-21), das II. die Texte (S. 23-35), das III. den Hauptdarsteller (S. 37-48), das IV. eine kritische Analyse zentraler Handlungsabläufe (S. 49-97), das V. die Tierwelt als Forum für Literatur ­ (S. 99-109), das VI. die Zusammenfassung (111-115). Kapitel VII. enthält „weitere Aufgaben“ sowie die eben erwähnten zwei Texte (S. 117-129). Es folgen noch ein Nachwort (S. 131-134), abgekürzt zitierte Angaben (S. 135) und ein Namens- und Sachverzeichnis (S. 137-139). Wie das Vorwort, die Einleitung, so auch der gesamte Text: knapp, oft kurze Sätze, klare Sprache – schön zu lesen, wenn man sich, dem Text folgend, konzentriert. Eben das Knappe macht dem Rezensenten sein Geschäft allerdings höchst dornig; denn das ohnehin schon ungemein Verdichtete noch weiter verdichten, das geht hier nicht, ohne in üblen Stenogrammstil zu verfallen. Die Einleitung schildert den „Plot“ (also Aufbau und Ablauf der Handlung): Der König hält Gericht, die Großen des Reichs sind pflichtgemäß anwesend, der Beschuldigte Reineke fehlt, wird daher mehrfach vorgeladen – zum folgenden Schaden etlicher Gerichtsboten. Schließlich kommt er und sucht die Klagen zu entkräften, mit wechselndem Erfolg. Zuletzt erfolgt die Wahrheitsfindung, nach alter Väter Sitte in einem Zweikampf (S. 13). Im Unterschied zu Homers Illias und Odysee, so Harrer, liefert Reineke nicht nur juristische Anknüpfungen – etwa wenn Achilleus, weil Agamemnon ihm seine geraubte weibliche Beute ­Briseis wegnimmt, schmollt, mit schlimmen Folgen –, sondern einen Rechtsstreit. Für uns seltsam ist freilich heute auch, dass der König Regent und Richter in seiner Person vereint. Selbst dem Wort Renard geht der Autor nach; er stellt fest, dass das Wort für Fuchs im Französischen, nämlich goupil, das von lateinisch vulpes/vulpica abgeleitet ist, von dem Rufnamen dieses Fuchses verdrängt worden ist (S. 15). In einem etwas schiefen Vergleich: Heute hat etwa „Tempo“ – jedenfalls weitgehend – das Wort „Taschentuch“ verdrängt (Traum jeder Firma und jeder Werbeagentur). Da hier Tiere die Akteure sind, fragt Harrer nach dem Grund, den Vorzügen dieser Darstellungstechnik (S. 17). Wer die Fabel kennt, ahnt ihn vielleicht schon. – Zunächst sollen die verfassungspolitischen Hintergründe jener Epoche beleuchtet werden, in der ­Reineke entstanden ist (mit dem Hinweis auf S.18 Fn. 17 auf die Friedensbewegung als rechtshistorischen Vorgang). Goethes Text des 18. Jahrhunderts sei mit dem Blick auf das 12. Jahrhundert zu lesen, so wieder die These; schon deshalb, weil Goethe das überragende Thema dieser alten Zeit gesehen habe, die konfliktbeladene Friedensbewegung, die den „Reineke“ prägte. Deren Entwicklung war wechselhaft, doch mit einem einheitlichen Erscheinungsbild: „Dem König stehen rebellische Große des Reichs gegenüber; er will das Fehdewesen (private Rechtsverfolgung) abschaffen, zumindest einschränken. Ist das aber nicht ein Eingriff in die, zumindest behaupteten, wohlerworbenen Rechte des Adels? Und: Hat der König die Befugnis, hierzu, womöglich neues, Recht zu setzen? So gesehen wären Reinekes Taten keine Bosheiten, sondern der planvolle Aufstand eines Großen, der das Friedensangebot des Königs nicht akzeptieren will. Danach ginge es ausschließlich um eine Auseinandersetzung zwischen dem König und dem Rebellen Reineke. Alle anderen hätten nur Nebenrollen, so die These des Autors (darin sehe ich einen problematischen Punkt in der Argumentation, denn: Die Großen sind ja anwesend und klagen teilweise selbst. Warum greifen sie nicht zu ihrem behaupteten angestammten Fehderecht, statt dem König die Macht der Entscheidung konkludent zuzusprechen, also ihre „von alters her“ behauptete Rechtsposition aufzugeben?). Der König lädt nach Harrers Lesart mithin nicht einen Straftäter, sondern sucht einen ehemaligen Rat der königlichen Versammlung wieder für sich zu gewinnen (und verprellt so noch alle „Kläger“ unter den Großen?). Gelingt das nicht, droht sein Friedensprojekt zu scheitern. Die Alternative bestünde in der Verurteilung des Abtrünnigen, um dessen Widerstand zu brechen (und seine königliche Macht auch gegenüber den Klägern zu dokumentieren?!). Um 1200 war die Auseinandersetzung zwischen dem König und rebellischen Vasallen Alltag, schreibt der Autor (S. 21 mit Fn. 25). Ludwig IX. habe den Sinn der Satire erkannt – und deshalb die Aufführung am Hof verboten (S. 21, ein, zugegeben für sich genommen, starkes Argument).

Auch in II. Die Texte zeigt sich das Gespür des Autors für die Schönheit der Sprache (man beachte etwa auch auf S. 23 die Randbemerkung zu einem inflationär bevorzugten Wort unserer leicht hysterisch-erregbaren Zeit: „Herausforderung“! In der Tat scheinen wir offenbar von solchen ständig umzingelt und bedrängt zu sein und müssen uns ihrer erwehren, Stress pur und permanent also). Im Zusammenhang der so schönen Sprache in diesem Buch ein zartes Bedenken: Das sehr häufig verwendete „Sichtweise“ gefällt mir nicht. Es müsste stattdessen wohl Seh- oder Betrachtungsweise heißen. Denn zur guten (Aus-) Sicht gibt es m. E. keine Weise. Dazu die schöne Glosse Modus Vivendi von Wilfried Küper in der Juristenzeitung 1987, 560). – Der Roman de Renard hat viele Väter (vielleicht auch Mütter?); entstanden ist er wohl zwischen 1170 und 1250. Dann geht es zunächst um, uns bloße Leser nicht besonders interessierende, Einzelheiten, die gleichwohl ihre Bedeutung haben, etwa, wie Reineke „unter die Leute“ kam (an Ludwig IX. sei erinnert). Denn Buchdruck gab es noch nicht, zudem das Volk, selbst viele Adlige, damals nicht lesen konnten. Vermittelt wurde Reineke, Ältere kennen das vielleicht noch aus frühen Kindheitstagen vom Jahrmarkt, alle jedenfalls aus „Historien-Filmen“, durch Moritaten-Erzähler, Bänkelsänger, in Frankreich, wo Reineke sich entwickelte, Jongleure genannt (Schauspieler, Sänger, Musiker), deren kulturgeschichtliche Bedeutung der Autor etwas näher ausführt (S. 25 ff.). Das Bild, das er von den vielen Handschriften (es sind über 20 bekannt) und Fragmenten malt, ist bunt. Fast zeitgleich mit dem Reineke entstand das Tierepos „Isengrim“ mit einem Wolf in der Hauptrolle (S. 29); offenbar liebten die Hörer aber den zwar schwächeren, jedoch als listiger empfundenen Fuchs, wie im Reineke ja auch der Fuchs den als tumb und gefräßig geschilderten Wolf übertölpelt. Den Schwerpunkt des Reineke bildet in dieser Interpretation, wie eingangs erwähnt, die Deutung als politische Satire mit dem Ziel des Spotts über den König (S. 31) und sein miserabel gehaltenes Gericht (S. 32). Es folgt ein Blick auf die Verbreitung des Romans vor allem durch deutsche und niederländische Bearbeiter (S. 32 ff.), endend bei Gottscheds neuer Ausgabe des Reineke Fuchs, die ihm den Reiz der Mundart und alles künstlerische Gepräge ausgetrieben habe. Gleichwohl oder eben deshalb war Goethes Interesse geweckt. 1793 begann er sein Hexameter-Epos und schon 1794 erschien Reineke Fuchs (S. 35 ff.). Hauptdarsteller ist als zentrale Figur also Reineke. Ein Grund ist die dem Fuchs zugesprochene sprichwörtliche Schlauheit (S. 37 mit Fn. 1), bekannt schon aus den antiken Fabeln (Phaedrus; in neuerer Zeit etwa Jean de La Fontaine, Fabeln, illustriert von Gustave Doré, Der Rabe und der Fuchs; Weiteres vom Fuchs: Der Fuchs und die Trauben oder Der Löwe, der Wolf und der Fuchs; freilich auch Die Katze und der Fuchs und Der englische Fuchs): Wie kommt der Fuchs an den Käse, den der Rabe, sicher auf einem Ast sitzend, im Schnabel hat? Dabei hat die moderne „Wildbiologie“ die Schlauheit des Fuchses als eine Mär entzaubert, der Wolf sei ihm mit Sicherheit überlegen… (S. 37 ff. mit Fn. 3). Die Charakterisierung Reinekes aus dem Text ist meines Erachtens gut gelungen, bis hin zum Blick auf Goethes Nähe zum Schelmenhaften (S. 40 ff.) und den Überlegungen zu seinem „weiten“ Schalk-Begriff (42 ff.). Im IV. Kapitel werden zentrale Handlungsabläufe kritisch analysiert. Zur Klärung wandert Harrers Blick folgerichtig wieder zurück in die Zeit um 1200 und deren rechtlichen und politischen Rahmen (S. 50), der Friedensbewegung – Gottesund Landfrieden (S. 51 ff., mit sehr erlesenen Quellen zur Klärung der Begriffe). Zum Sinn aller Friedensordnungen S. 58 ff. mit Fn. 31. Zum Problem der rechtstechnischen Umsetzung (S. 60 f.: um das Jahr 1200!). Schon die kaiserlichen Landfrieden, beginnend mit dem des Saliers Heinrich IV. von 1103 (das war „der“ mit dem Gang nach Canoss ­ a), waren Versuche, das Fehdewesen zu unterbinden; es folgten eine ganze Reihe kaiserlicher Landfrieden bis hin zu Maximilians „Ewigem Reichslandfrieden“ von 1495 (S. 64), dann noch die französische Kette von Friedensbewegungen (S.  64 f.). Einen kurzen Teilabschnitt bilden sodann die Textanalysen (66-89), beendet von 4. Ausblick (89-97), einer konzisen Zusammenfassung des Erarbeiteten, der Zurückweisung einer anderen Deutung (S. 90 ff. mit Fn. 130) und schließlich noch einer weiteren, gleichsam als Kontrastprogramm zur eigenen Deutung (S. 69 f.). In Kapitel V. tauchen dann noch die Gespräche zwischen dem Kleinen Prinzen und dem Fuchs auf (S. 107 f.) sowie als weiterer Beleg für moderne Literatur in einem funktionalen Rahmen ein mir unbekanntes Buch „Geschichten vom Spatz“, die in Togo, dem Land des Autors Sami Tschak spielen (S. 108 f.) Das VI. Kapitel Zusammenfassung fast dann tatsächlich das Wesentliche nochmals in kürzerer Form zusammen (S. 111-115). Im letzten Kapitel zeigt Harrer die eingangs schon genannten weiteren Aufgaben auf. Man darf gespannt sein, denn diese (mich so nicht recht überzeugende) juristische Neudeutung ist jedenfalls ein pures Lesevergnügen! (mh)

Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh). Promotion 1981, Habilitation 1987, jeweils in Heidelberg (Lehrbefugnis für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte). 1991 Profes­ sur an der Universität Göttingen, 1992 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Würzburg, von 1998 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 in Mainz. Mit­herausgeber der Zeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“.

hettinger-michael@web.de

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