Recht

Recht oder Politik?

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Dieter Grimm: Recht oder Politik? Die Kelsen-Schmitt-Kontroverse zur Verfassungsgerichtsbarkeit und die heutige Lage. Berlin 2020: Duncker & ­Humblot, 51 S., Broschur, ISBN 978-3-428-18099-8 (Print), € 24,90, 978-3-428-58099-6 (E-Book), € 22,90.

Seit Beginn seiner Studien, die Dieter Grimm neben der Rechtswisssenschaft auch auf Politikwissenschaft erstreckte und der in seiner wissenschaftlichen Karriere mit namhaften Historikern und Soziologen zusammenarbeitete, befasste er sich mit Verfassungsrecht und Rechtsgeschichte. Von 1987 bis 1999 gehörte er – auf Vorschlag der SPD – dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an und kehrte danach wieder in die Wissenschaft zurück. Seine hier angezeigte, 2020 als Band 4 der „Carl-SchmittVorlesungen“ erschienene Schrift behandelt ein hochaktuelles verfassungsrechtliches Thema vor historischem Hintergrund. Angesichts des 70. Jubiläums unseres Verfassungsgerichts am 28. Sept. 2021 wurde daran erinnert, dass es sich seine in der deutschen Verfassungsgeschichte nie dagewesene Unabhängigkeit erst erkämpfen musste1 . Und wer hat jetzt das letzte Wort in Europa? Den Konflikt um die EZB-Entscheidung des BVerfG kann man noch als Auseinandersetzung „um juristische Details innerhalb einer akzeptierten Wertordnung“2 sehen. Aber was wäre, wenn illiberale Regierungen wie in Polen und Ungarn nicht nur wie schon jetzt gezielt das eigene Justiz­ system umbauen, sondern in Europa die Oberhand gewinnen und letztlich den EuGH kontrollieren?3

Ob und mit welchen Kompetenzen eine Verfassungsgerichtsbarkeit einzurichten sei, beschäftigte die Staatsrechtler seit den Beratungen der verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung. In den Verfassungen der Tschechoslowakei und Österreichs von 1920 finden sich entsprechende Regelungen. Hans Kelsen, zeit seines Lebens überzeugter Verfechter des demokratischen Systems und „der entschiedenste und in seiner Argumentation konsequenteste Befürworter“ einer „spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Normenkontrolle als zentraler Kompetenz“4, nahm die Wiener Staatsrechtslehrertagung im April 1928 zum Anlass, seine Position energisch und dezidiert zu bestimmen. Dieter Grimm beschreibt Kelsens Prinzip vom „Stufenbau der Rechtsordnung“ („Jeder staatliche Akt, der rechtliche Anerkennung und Befolgung beansprucht, muss durch eine Norm höheren Ranges autorisiert sein und sich im Rahmen der Autorisierung halten.“, S. 15), aus dem sich die Notwendigkeit einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit ergibt: „Diese Bedingung rechtmäßigen staatlichen Handelns ist für Kelsen aber nur dann gewährleistet, wenn über ihre Einhaltung nicht die verfassungsgebundene politische Instanz, also das Parlament, sondern eine andere, vom Parlament unabhängige Instanz wacht.“ (S. 15) „Ohne Verfassungsgerichtsbarkeit bedeute die Verfassung ‚nicht viel mehr als einen unverbindlichen Wunsch‘“ (S. 16).

Carl Schmitt vermied die direkte Auseinandersetzung mit Kelsen, blieb der Wiener Tagung fern und reagierte stattdessen mit seinen Aufsätzen „Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung“ sowie „Der Hüter der Verfassung“ von 1929 und der gleichnamigen Monographie von 1931. Während er sich vorher nur vereinzelt zu Verfassungsgerichtsbarkeit geäußert hatte – man begegnet hier „einem nicht recht schlüssigen, sogar widersprüchlichen Carl Schmitt“, so Grimm (S. 13) –, legte er sich jetzt insofern fest, als es „bei richtigem Verfassungsverständnis keine Verfassungsgerichtsbarkeit geben dürfe“, dagegen durchaus „die Befugnis aller Gerichte, die Verfassungsmäßigkeit derjenigen Gesetze zu prüfen, auf die es für die Entscheidung eines Rechtsstreits ankommt.“ (S. 17) Nicht zufällig fand dies den Beifall der weimarkritischen, antipluralistischen Juristen, die die konservative und parlamentskritische Richterschaft gegenüber der parlamentarischen Demokratie in Stellung bringen wollten.

Während Kelsens Position sich „wegen ihrer Klarheit und Stringenz“, so Grimm, knapp zusammenfassen lasse, erfordert die Darstellung der gewundenen und inkonsistenten Argumentation Schmitts („Die Unschlüssigkeit ist nun gewichen. Die Widersprüche bleiben.“ Grimm S. 22) einen größeren Umfang. Schmitt missachtet Grundsätze der juristischen Methodik, ignoriert anerkannte Kollisionsregeln und Denkgesetze, widerspricht sich selbst. Einerseits sollen alle Richter von ihnen als verfassungswidrig erkannte Gesetze in einem konkreten Fall nicht anwenden dürfen, andererseits dürfe es kein zur Normenkontrolle befugtes Spezialgericht geben, da dieses dann „etwas wesensmäßig Politisches entscheidet.“ (S. 23)

„Angesichts der vielen offenkundigen Ungereimtheiten kann man es nur mit Kelsen halten und dessen Frage wiederholen, ‚warum ein Autor von so außerordentlichem Geist wie C.S. sich in so handgreifliche Widersprüche verwickelt, nur um die These halten zu können: Verfassungsgerichtsbarkeit sei keine Justiz, sondern Gesetzgebung‘.“ (S. 23) Tatsächlich ist diese Frage aber gar keine, da Schmitt, so Grimm, die Unmöglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit nur deshalb zu beweisen versuche, um den Reichspräsidenten als geeigneteren Hüter der Verfassung zu präsentieren, der im Sinne von Benjamin Constants „pouvoir neutre“ die „Einheit des Volkes“ verkörpere (S. 26/27). Ein Vorschlag, den Kelsen mühelos zerlegte (S. 27). Nach der instruktiven Darstellung der historischen Kontroverse in Teil I befasst sich Grimm in Teil II mit der heutigen Lage. Ob die Verfassungsrechtsprechung beim Recht oder bei der Politik einzuordnen sei, herrsche bis heute kein Konsens. In der Nachkriegszeit sei das Pendel zunächst in Richtung Kelsen geschwungen: In kaum einem ehemals totalitär beherrschten und nunmehr demokratisch verfassten Land fehle eine Verfassungsgerichtsbarkeit (S. 30), allerdings sei man, beispielsweise mit den Instituten Verfassungsbeschwerde und Popularklage, vielfach über Kelsens Vorstellungen hinausgegangen (S. 31). „Schmitts Bedenken über die Juridizifizierung der Politik und der [die] Politisierung der Justiz [seien aber] nie vollends verstummt und heute sogar vermehrt zu hören.“ (S. 32) Grimm verweist hier zunächst auf die Kritik am judicial review und die Forderung nach judicial self-restraint in den USA, sodann auch das allgemein zunehmend thematisierte „Spannungsverhältnis“ (S. 35) zwischen Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit. Unlösbar sei dies jedoch nur dann, wenn man Demokratie allein mit dem Prinzip der Mehrheitsherrschaft gleichsetze. Die Frage nach der rechtlichen oder politischen Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit löst er durch ihre Differenzierung nach Gegenstand, Wirkung und Verfahren. Zumindest letzteres sei nicht politisch (S. 45), sofern sich die Verfassungsgerichte„funktionsgerecht“ verhielten.

Grimm meint zwar bereits im Vorwort, die „Argumente von gestern [seien] nicht die von heute, bei der heutigen Frage nach Recht und Politik gehe es weder um Schmitts Zielrichtung noch um seine Argumentation (S. 33), und „Schmitt und Kelsen helfen hier wenig“ (S. 44). Angesichts der Bestrebungen, in einigen Staaten den westlichen Konstitutionalismus durch autoritäre Herrschaftssysteme abzulösen und hierbei notgedrungen zuvörderst eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit auszuschalten, weist er aber selbst darauf hin, dass die Gefahr hier vor allem von rechten populistischen Bewegungen ausgeht, die „antipluralistisch ausgerichtet“ sind. „Sie unterstellen ein einheitliches Volk im Schmittschen Sinn“ (S. 47/48). Sein letzter Satz (S. 49) lautet: „Der scheinbar schon erledigte Streit zwischen Schmitt und Kelsen steht wieder auf der Tagesordnung.“ Wie mag der ausgehen? Um die Institution einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit wie Kelsen als Gebot des Rechtsstaats zu verstehen, müssen wir die countermajoritarian difficulty gerade als wesentlich für die Demokratie erkennen. Der Sturm aufs amerikanische Capitol im Januar dieses Jahres wird zu Recht als bedenkliche Grenzüberschreitung angesehen, da ein institutionelles Symbol angegriffen wurde. Wenn bei den Menschen der Respekt für den Esprit der Institutionen (Montesquieu) verloren geht, schützt auch die geschriebene Verfassung nicht mehr. Das schmale Bändchen hat es in sich, und Duncker & Humblot ist für die Publikation ausdrücklich zu danken. Ergänzt wird der bereits am 2. November 2017 gehaltene Vortrag von Dieter Grimm durch Fußnoten (angenehmerweise auf derselben Seite), ein sorgfältiges Namenregister und ein kurzes Vorwort des Autors. Angesichts der im Übrigen einwandfreien Gestaltung fallen ganz vereinzelte sprachliche Fehler und die möglicherweise einem Druckfehler geschuldete missverständliche Formulierung über das Wahlergeb­nis für die polnische PiS5 nicht ins Gewicht. (ldm)

Lena Dannenberg-Mletzko (ldm) war bis zu ihrem Ruhestand Notariatsvorsteherin in einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main, bis 2003 Lehrbeauftragte des Landes Hessen für die Ausbildung von Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten, außerdem Autorin von Prüfungsbüchern zur Notariatskunde und Fachbeiträgen für verschiedene Zeitschriften.

lena.dannenberg@t-online.de

1 Siehe „Die Karlsruher Republik“ von Heinrich Wefing, „Die Zeit“ 23. Sept. 2021 u.a. zu der heftigen Kontroverse mit Justizminister Thomas Dehler um die „Status-Denkschrift“ vom 1. Juli 1952.
2 Heinrich Wefing in „Die Zeit“ vom 29. Juli 2021: „Letzte Runde für den Rechtsstaat“.
3 Vgl. auch hierzu Heinrich Wefing in „Die Zeit“ vom 29. Juli 2021.
4 Dieter Grimm in der hier angezeigten Schrift S. 14.
5 Gemeint ist wohl die polnische Parlamentswahl 2015. Grimm sagt, die Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) habe sich „mit einer absoluten Mehrheit begnügen [müssen] (auf der Grundlage von ca. 36% der Stimmen)“ (S. 49).

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