Philosophie

Platon unter dem Halbmond

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2022

 

Anke von Kügelgen (Hgb.): Philosophie in der islamischen Welt. 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Arabischer Sprachraum. 614 + 44 S., ISBN 978-37965-4319-7, 230 SFr., Bd. 2: Türkei, Iran und Südasien. 866+14 S., ISBN 978-3-7965-4320-3, 290 SFr., 2 Bde. zus. 1.480+58 S., Lexikonformat. Basel, Berlin: Schwabe 2021. Leinen m. SU, 460 SFr.

      Der Schweizer Schwabe-Verlag – im Jahr 1488 noch von einem Schüler Gutenbergs gegründet und heute der älteste, noch bestehende Verlag der Welt – ist bekannt für seine ambitionierten Großprojekte, zu denen die voluminöse „Philosophiegeschichte“ zählt, ein auf 40 Bände angelegtes Standardwerk, das seit der Erstauflage von 1863 nun in dritter Bearbeitung erscheint. Die Philosophie der islamischen Welt, um die es hier geht, soll dabei fünf Bände umfassen, von denen die beiden vorliegenden das 19. und 20 Jahrhundert behandeln.

      Als der ägyptische Diplomat Rifaa at-Tahtawi in den 1830er Jahre in Paris weilte, stellte er erstaunt fest, „dass die Franzosen zu jenen gehören, welche die Entscheidung über Gut und Böse menschlichen Handelns der Vernunft überlassen. … Zu ihren verabscheuenswürdigen Überzeugungen gehört, dass sie behaupten, der Verstand ihrer Philosophen und Meta­physiker übertreffe den der Propheten.“ Dem ansonsten sehr pragmatischen Muslim war es unverständlich, dass die Europäer meinten, ein Wissen jenseits der koranischen Offenbarung zu besitzen; mochte die Überlegenheit des Westens auf militärischem, naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet auch offensichtlich sein – das hinter dem Fortschritt stehende aufklärerische Gedankengut blieb ihm, wie vielen seiner Zeitgenossen, ein Rätsel, mehr noch: ein Ärgernis.

      „Ideologiefrei“ aufholen – so lautete daher die Losung, mit der die islamische Welt von Nordafrika bis Indien dem Expansionsdrang Europas zu begegnen suchte. Inge­ nieure, Militärs, Mediziner und Naturwissenschaftler waren im 19. Jahrhundert dementsprechend die ersten, die sich durch Übernahme europäischer Wissenschaft bemühten, den Niedergang ihrer Heimatländer zu hemmen. Lag der Schlüssel zu Fortschritt und Aufstieg denn etwa nicht in technischen Fertigkeiten? Ließ sich damit vielleicht das Schicksal der Reiche der Osmanen, der Qadscharen Irans oder der Moguln Indiens abwenden – eine Frage, die man sich gleichzeitig auch in China und Japan stellte? Dass das Zusammenspiel von Geistesgeschichte und Fortschritt viel komplexer und intensiver war, als man gemeinhin annahm – und teilweise noch annimmt –, war seinerzeit noch nicht abzusehen.

      Anke von Kügelgen, Islamkennerin und Professorin in Bern, hat gemeinsam mit einem international besetzten Team in zwei umfangreichen Bänden den Versuch unternommen, die Voraussetzungen und den Wandel der islamischen Geisteswelt von Marokko, Ägypten und Türkei bis Bengalen im Lauf des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart darzustellen. Schade, dass die KoautorInnen des Werkes nicht kurz vorgestellt werden – es bleibt dem Leser bzw. der Leserin überlassen, Qualifikation und Lebensweg der VerfasserInnen einzuordnen. Herausgekommen ist ein in Breite und Qualität beeindruckendes Nachschlagewerk zu Institutionen, Personen und Tendenzen der Philosophie der islamischen Welt, das zudem in vielen Bereichen Neuland betritt.

      Die Bände sind nach übersichtlichen und ­gleichartig durchgeführten Grundsätzen aufgebaut: arabischer Raum, Osmanisches Reich/Türkei, Iran und muslimisches Südasi-en werden in historischen Abschnitten unter Berücksichtigung philosophischer Schwerpunktthemen und Debatten abgehandelt; Begriffe und Quellen wurden (zum Teil erstmals) ins Deutsche übersetzt, die Biographien nach den Kriterien „Lebenslauf, Entwicklung, Hauptwerke, Quellen und Literatur“ sehr sorgfältig bearbeitet. Die Umschrift der Landessprachen erfolgte nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) und ermöglicht die Lektüre auch für den Nicht-Philologen. Störend – aber wohl der Systematik des Gesamtwerks geschuldet – sind die in den Text eingebundenen Literaturhinweise, die den Lesefluss bisweilen stören; man glaubt den Verfassern gerne, dass sie etwas gewusst haben, aber wenn die Fußnoten am Seitenende stehen, ist das – wenn auch nicht der letzte Schrei der Wissens­community – einer durchgehenden Lektüre weit weniger abträglich. Das vorliegende Werk nimmt durch Umfang und ­Tiefe in der Tat eine Alleinstellung in der wissenschaftlichen Welt ein: vergleichbare Werke beschränken sich entweder auf die Philosophie Europas, sind veraltet oder einbändig – mit den entsprechenden Beschränkungen. Der Abschied vom Eurozentrismus einerseits wie von den Vorgaben von Religion, Brauchtum und Autoritäten andererseits sowie die Präsentation der vielen, dem hiesigen Publikum zumeist unbekannten PhilosophInnen und Strömungen in der islamischen Welt macht die Lektüre daher insgesamt zu einer aufregenden Angelegenheit – eine durch ihren schieren Umfang geradezu einschüchternde Pionierleistung! Nicht immer selbstverständlich: die Bände sind durch Register vorbildlich erschlossen und unterstreichen den Charakter als Referenzwerk.

      Eine inhaltliche Summe zu ziehen, wäre angesichts des schieren Umfangs der Lebensläufe, Debatten und Materialien vermessen. Dass das für Europa kennzeichnende, oft unverbundene Nebeneinander von Religion, Moral und Philosophie einerseits und die ­Offenbarungsreligion des Islam mit ihrem Absolutheitsanspruch andererseits hart aneinanderstoßen, ist unbestritten. Dass es aber auch ein pragmatisches Miteinander gibt, zeigt das Wirken des 1988 verstorbenen bengalischen Philosophen Fazl ar-Rahman, der den „selbst erklärten Konflikt zwischen traditioneller Religion und moderner säkularer Bildung“ aufbrechen will. Erst das „beständige Hinterfragen und auch bewusste Ändern der Tradition unter Beibehaltung des normativen Gehaltes“ ermögliche „moralische Stabilität in einer sich beständig wandelnden Lebenswelt“. Dem hätte wahrscheinlich auch der Weltmann at-Tahtawi seine Zustimmung nicht verweigert. (tk)

      Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

      thkohl@t-online.de

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