Philosophie

Platon und der Mietpreisdeckel

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2022

Sabine Föllinger, Ökonomie bei Platon, Berlin-Boston: de Gruyter 2016, 191 S., geb., ISBN 978-3-11045-567-0, € 99,95.

    Der Titel dieses Buches ist für manche eine Provokation. Platon und Ökonomie – wie geht das zusammen? Und erst recht: Platon und moderne ökonomische Theorien? Steht Platons Werk nicht in erster Linie für die grundlegenden Fragen der Philosophie nach wahrer Erkenntnis, nach den Tugenden und ihrer Lehrbarkeit und Nicht-Lehrbarkeit, nach Status und Bedeutung der Ideenlehre? Platons großes Werk über den „Staat“ und seine mögliche beste Verfassung, die Politeia, hat mit dem wirtschaftlichen Handeln der Bürger auf den ersten Blick wenig zu tun. Da greift man doch lieber auf Aristoteles zurück. Dass die „Stände“ in der Polis und die Seelenteile der Menschen aufeinander bezogen sind, ist bekannt. Aber hat Platon darüberhinaus nicht letztlich das Ethos einer antiken Adelsgesellschaft vertreten?

    Sabine Föllinger (SF), Professorin für Klassische Philologie / Gräzistik in Marburg, hat in ihrem Buch nicht nur den herkömmlichen Blick auf Platon um die Dimension der Ökonomie erweitert, vor allem im Bezug auf das Spätwerk der Nomoi, sondern insofern Neuland betreten, als sie erstmals Untersuchungen der „Neuen Institutionenökonomik“ für eine Analyse der Auffassung Platons vom menschlichen Handeln und wirtschaftlichen Ordnungsregeln heranzieht. Zum institutionellen Hintergrund dieses vielversprechenden Forschungsansatzes gehört das „Marburger Centrum Antike Welt“, in dem u.a. Althistoriker, Altphilologen und Ökonomen zusammenarbeiten.1 Das hat zum Projekt einer „institutionenökonomische(n) Ana lyse von Platons Idealstaatsvorstellungen“ geführt, welches von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert wird. Die „Neue Institutionenökonomik“ (NIÖK) bildet ein weites Feld von Forschungen. SF nimmt den Ausgangspunkt bei jenen Ansätzen, die im Zuge einer Kritik an Modellen eines rational entscheidenden homo oeconomicus insbesondere die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen menschlichen Handelns einschließlich informeller und moralischer Regeln herausstellen. Ein Pionier dieser Ansätze war der Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1993, Douglass C. North (1920–2015). Die Analyse von Institutionen einer Volkswirtschaft, ihrer Transaktionskosten, von Eigentumsrechten bis zu Entscheidungsverhalten in Organisationen, von Wechselwirkungen zwischen Märkten bzw. Marktteilnehmern und der Politik, von Fernhandel und Monopolbildung ist von großer Relevanz für alle Fragen, die die wirtschaftlichen Aspekte von historischem Wandel, die politische Steuerung durch wirtschaftliche Anreize und staatliche Gesetze und nicht zuletzt die Grundlagen einer Wirtschaftsethik betreffen.Die Re-Lektüre Platons unter diesen Prämissen ist außerordentlich aufschlussreich.

    SF stellt zuerst den Forschungskontext vor (9-30). Nach methodischen Bemerkungen zur Platon-Auslegung wird die oft übersehene Bedeutung wirtschaftlichen Handelns bei Platon dargestellt (33-48). Dabei wird deutlich, dass Platon nicht nur klare Vorstellungen vom wirtschaftlichen Geschehen hatte, sondern dass es möglich ist, bei ihm ein starkes Interesse an Theorien der Beschreibung und Kritik wirtschaftlichen Handelns und Verhaltens einschließlich der entsprechenden (internen und externen) Motivationen herauszuarbeiten. In den Kapiteln 6 bis 8 folgen instruktive Vergleiche zur Verwendung von ökonomischen Kategorien (Begriffen) in antiken und modernen Konzeptionen, wobei stets auch die normativen Aspekte zur Sprache kommen. In den anschließenden Kapiteln 9-11 wird dann explizit die Relevanz der NIÖK für ein (heutiges) Verständnis der entsprechenden Vorstellungen und Argumentationen Platons herausgearbeitet.

    Während Platon in der Politeia die elementaren Grundzüge einer wohlgeordneten Polis entwirft und ein Paradigma, das der Idee des Guten folgt, entwickelt, zeichnen sich die Nomoi, die lange eher ein Stiefkind der Forschung waren,3 durch Aufmerksamkeit für die praktischen Probleme und Detailreichtum der erörterten Regelungen aus, ohne dabei den systematischen Zusammenhang aus dem Blick zu verlieren. Es handelt sich vermutlich um Platons spätesten Dialog.4 Im Blick auf die fiktive Gründung einer Kolonie namens ‚Magnesia‘ führen drei Männer ein Gespräch, in dem der „Athener“ die maßgebenden Vorschläge einbringt. Angesichts des Umfanges darf man vermuten, dass Platon längere Zeit an dem Dialog gearbeitet hat und Politeia und Nomoi in mancher Hinsicht komplementär zu verstehen sind.5 „Insofern machen die Nomoi die Politeia nicht rückgängig, sondern behandeln als Modell komplementär die Frage, welche Vorsorge man als Staatengründer treffen muß, wenn man nicht mit idealen Regierenden rechnen kann und zu erwarten hat, daß die Erziehung der Individuen nicht homogen verläuft.“ (79) Die Nomoi gelten mithin der nur ‚zweitbesten‘ politischen Ordnung, gewissermaßen den von Bert Brecht apostrophierten „Mühen der Ebene“, also denjenigen Aufgaben politischer Ordnung, die von fehlbaren Menschen unter widrigen Bedingungen und großen Risiken gelöst werden müssen. In vielen Einzelzügen zeigt SF, dass und wie Platon zahlreiche Problemstellungen aufgreift, die auch für die heutige NIÖK zentral sind. Das ist sogar für eine moderne Wirtschaftsethik – in Grenzen – relevant. Dazu gehören anthropologische Voraussetzungen wie die Mangelund Bedürfnisnatur endlicher Menschen, ihr unbegrenztes Macht- und Besitzstreben, der vielfältige Austausch von Waren und Geld. Zentral ist schon in der Perspektive der Politeia die Fundamentalkritik an der „Pleonexie“, der verbreiteten Gier nach Besitz und Macht. Es war Platon klar, dass ein solches System der unbegrenzten Bedürfnisse jede politische Ordnung zerstören muss. Aber zum Realismus der Nomoi gehört auch die Einsicht, dass die Verfolgung des individuellen Nutzens legitim ist und die politische Ordnung nicht auf Idealvorstellungen beruhen kann, sondern der problematischen und hinfälligen Natur der Menschen Rechnung tragen muss. Platon arbeitet nicht mit dem Gegensatz von ‚Egoismus‘ und ‚Altruismus‘. Ihm geht es, ähnlich der NIÖK, um die Bestimmung der Ermöglichungsgründe des allgemeinen Nutzens mittels der (zu begrenzenden) legitimen Verfolgung des Eigennutzes. Vergleiche mit Adam Smith liegen nahe und werden von SF knapp ausgeführt (45-48). Es geht um das allen „Zuträgliche“ (das symferon), den „auf das Gute ausgerichteten Nutzen“ (51). Die soziale Verträglichkeit von individuellem und kollektivem Nutzen ist grundlegend für die Eudaimonia, die SF hier nicht als „Glück(-seligkeit)“ versteht, sondern als „gelungenes Leben“ für alle.6 Bei Platon spielt die Erziehung bekanntlich die grundlegende Rolle für die Vermittlung der Erkenntnis des Guten und damit auch der Bedingungen für ein gelingendes Leben. Dazu bedarf es innerer und von außen veranlasster Motive – der Gewinnung einer eigenen Überzeugung und der Befolgung externer Regeln einschließlich der Durchsetzung von Sanktionen. Derartige „Stützbalken“ nennen manche die notwendigen sozialen „Ligaturen“, andere den „Gemeinsinn“, ein Vertreter der NIÖK wie D. North spricht vom „Bindemittel der sozialen Stabilität“ und dem gesetzlichen Rahmen, der das wirtschaftliche Geschehen regeln muss (99; vgl. auch 161). Für Platon spielt dabei auch die von der Polis zu regelnde öffentliche Religion eine wichtige Rolle (113-118). Eingehend stellt SF vor allem die Institutionen in den Nomoi im Allgemeinen und insbesondere im Bereich der Wirtschaft dar. Es gilt, zu große soziale Ungleichheiten und Gegensätze zu verhindern, der Fernhandel muss begrenzt bleiben, Status und Recht der Sklaven sind zu bedenken,7 Grundbesitz und sonstiges Eigentum bedürfen gesetzlicher Regelungen ebenso wie das Erbrecht und die Verteilung von besserem und schlechterem Land unter den künftigen Bürgern von ‚Magnesia‘. Mit Grund und Boden und mit den darauf errichteten Wohnungen soll in sozialer Verantwortlichkeit umgegangen werden (135, zu Nomoi V 739E8-740B1). Darum muss der Handel mit Grund und Wohnungen in Magnesia streng reglementiert werden, und der Gesetzgeber hat einen doppelten Kampf zu bestehen: gegen die Armut und gegen den Reichtum. Ein Mietpreisdeckel läge nahe, um bezahlbaren Wohnraum auch für die Armen zu sichern. Besonders restriktiv sind die Bestimmungen des „Atheners“ zum Umgang mit Geld. „Privater Geldbesitz ist strikt reglementiert.“ (136) Banken und Kreditinstitute kennt diese Polis nicht. Zinsnahme ist prinzipiell verboten (147).

    Die Devisenvorschriften sind streng. Infolgedessen sind Auslandsreisen zu genehmigen und ausländische Währungen sind bei der Rückkehr abzuliefern; andernfalls werden sie konfisziert und eine happige Geldbuße verhängt. Devisenvergehen müssen angezeigt werden; wenn nicht, drohen scharfe Sanktionen. Im Vergleich war nicht einmal der ­„real existierende Sozialismus“ des 20. Jh. so streng. Der Handel wird dagegen als eine Art notwendiges Übel toleriert und zugleich reglementiert. Platon kennt auch „nicht-materielle Güter wie Musik und Malerei…als mögliche Handelsware.“ (143) Marktkontrollen bis hin zur Preisüberwachung gehören zu den Aufgaben der Gesetzeswächter (144). Außenhandel – Magnesia sollte idealerweise weit genug vom Meer entfernt liegen – gibt es nur für kriegswichtige Güter und darf nicht gewinnorientiert sein (146). Diese und viele weitere Regelungen sind zweifellos mit heutigen marktwirtschaftlichen Ordnungen einer Weltwirtschaft und den Positionen der NIÖK auf den ersten Blick ganz unvereinbar, aber die politisch-moralische Grundtendenz Platons, die Integrität der Polis zu sichern und dazu den Bürgern die Perspektive eines gelungenen Lebens aufzuzeigen, stellt ein grundlegendes sozialethisches Programm dar, welches „die politische Reflexion anzuregen“ intendiert (73).

    Im Schlusskapitel „Ergebnisse und Ausblick“ vergleicht SF die Konzepte von Politeia und Nomoi mit Einsichten der NIÖK. Sie betont erneut das Verhältnis von Eigennutz und gesamtgesellschaftlichem Nutzen, von vernünftiger Einsicht und rechtlichen wie sozialen Sanktionen sowie die Probleme, die es erschweren, aber nicht prinzipiell unmöglich machen, dass zwischen „Freien und Gleichen eine gemeinsame Willensbildung zustande“ kommt (163). Ob und wieweit hier ein kantischer Ansatz, Angebote der Diskurstheorie, der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte oder heutige politikwissenschaftliche Konzeptionen weiterhelfen, bleiben offene Fragen, die in dem „Marburger Centrum“ weiterverfolgt werden sollen. Dann liegen vor allem jene Fragen nahe, die weit über die engen Perspektiven einer antiken Polis hinausgehen und die brutalen Tatsachen betreffen, die für den global entschränkten Kapitalismus charakteristisch sind. SF spitzt so nicht zu, aber der Schluss liegt nahe: Platons Urteil darüber wäre vernichtend. (wl) 🔴

    Prof. Dr. Wolfgang Lienemann war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, Schweiz. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören Grundlagenfragen der theologischen und philosophischen Ethik, Ökumenische Ethik und Ekklesiologie, Politische Ethik (Theologie und Friedensforschung), Kirchenrecht/Staatskirchenrecht/Rechtsethik.

    wolfgang.lienemann@theol.unibe.ch

     

    1 Nähere Informationen unter: https://www.uni-marburg.de/de/mcaw.
    2 Etwa bei Karl Homann oder Josef Wieland. Reizvoll wäre auch, Martin Luthers Schriften zur oeconomia moderna aus der Sicht der Neuen Institutionenökonomie zu lesen.
    3 Siehe zu Aufbau, Inhalten und Rezeptionen des Textes den sehr guten Art. in der Wikipedia, der allerdings die wirtschaftlichen Aspekte nur streift und noch nicht auf das hier besprochene Buch eingeht.
    4 Grundlegend die Edition (Übersetzung und Kommentar) von Klaus Schöpsdau, 3 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994-2011.
    5 Siehe schon Georg Picht, Theologie und Recht in Platons „Gesetzen“ (Vorlesung im Wintersemester 1966/67), in: ders., Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, 1-320.
    6 Sie zitiert hier (63) Michael Erler: „Eudaimonie meint die Erfüllung eines sinnvollen Lebensentwurfes, dessen Voraussetzungen allgemein vermittelbar sind.“ >
    7 Vgl. hierzu Pichts bedenkenswerte Hinweise, 301-305.

     

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