Altertumswissenschaften

Paläobiologie

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2020

Tim Flannery: EUROPA. Die ersten 100 Millionen Jahre. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. In ­ sel Verlag, Berlin 2019, 380 S., 4 Zeittafeln, 4 s/w-Karten, 20 farbige Abb., geb., ISBN: 978-3-458-17822-4, € 28,00.

Der australische Biologe, Paläontologe und Umweltschützer Tim Flannery (*1956) ist ein weltweit geehrter Wissenschaftler, der als ehemaliger Direktor der Abt. Mammologie des Australian Museum (1984–1999) u.a. 30 neue Säugetierarten beschrieben und zahlreiche wissenschaftliche Funktionen, z.B. als Gastprofessor für Australian Studies an der Harvard University, wahrgenommen hat. Klimaschützern, die nicht nur als Claqueure bei Friday on Future demonstrieren, sondern sich intensiv über den Klimawandel informieren, dürfte der umtriebige Autor und Klimaaktivist, der 2019 als Distinguished Visting Fellow für Klimawandelforschung an das Australian Museum zurückberufen wurde, vor allem durch seine Bestseller Wir Wettermacher (Fischer 2006) und Die Klimawende (Fischer 2015) bekannt sein.

Mit dem vorliegenden Band liegt die deutsche Übersetzung von Flannerys Sachbuch Europe. A Natural History vor, eine Paläobiologie der ersten 100 Millionen Jahre Europas [vielleicht wäre »Die letzten 100 MJ Europas« der passendere Titel wegen der anthropozänen Entwicklungen]. Geographisch gesehen ist Europa eher ein Subkontinent des Kontinents Eurasien, der sich vorwiegend durch seine Kulturgeschichte definiert, denn „[s]eine Vielfalt, seine Evolutionsgeschichte und seine sich wandelnden Grenzen machen es nahezu proteisch“ (S. 14, kursiv wh), d.h. vielgestaltig und wandelbar wie der mythologische Meeresgott Proteus.

Flannerys Reise durch Raum und Zeit beginnt in der Oberkreide, in der letzten Phase des Zeitalters der Dinosaurier. Damals war Europa noch ein Archipel, der sich erst durch das geologische Zusammenwirken „dreier kontinentaler »Eltern« […] – Asien, Nordamerika und Afrika“ formte und„als eine Brücke zwischen diesen Landmassen fungierte“, womit er „der wichtigste Ort in der Geschichte unseres Planeten [war]“ (S. 13f). Der Superlativ mag übertrieben sein, aber Europa war wegen seiner inselreichen Struktur ein höchst evolutiver »Schmelztiegel«, eine Region ständigen Austausches von Spezies und äußerst dynamischer organismischer Entfaltung, wobei Flannery die Weitergabe von Genen durch »Hybridisierung« besonders hervorhebt. Seine Wissenschaftserzählung greift drei große Fragen auf: „Wie ist Europa entstanden? – Wie wurde seine außergewöhnliche Geschichte erforscht? – Und warum wurde Europa so wichtig für die Welt?“ (S. 13).

In meisterhaft eloquentem Schreibstil, einer fesselnden Mischung aus laienverständlicher Wissensinformation und kurzweiligen Erzählungen über das Wirken und Leben der an den Entdeckungen beteiligten Forscher, unterhält Flannery seine Leserschaft. Der vor Wissenschaftsbegeiste-rung sprühende Autor nimmt seine Leser mit in einer Zeitmaschine, die einen gleich im ersten Hauptkapitel, „Der tropische Archipel“, in die Epoche vor 100 – 34 MJ entführt. In der letzten Phase des Zeitalters der Dinosaurier, der Kreidezeit, blickt man als Zeitreisender hinab auf die Tethys, einen großen Ozean, der entstand, als sich die Superkontinente Eurasien und Gondwana voneinander abspalteten. Mit faszinierendem Einfallsreichtum gelingt es dem Verfasser, „zu jenem Zeitpunkt in der Vergangenheit zurückzukehren, an dem Europa seine ersten zaghaften Eigenheiten zu entwickeln begann“ (S. 17). Aus der Vogelperspektive erscheint bei der Reise zurück in die Zukunft die unfassbar vielgestaltige Inselwelt mit exotisch anmutenden Landschaften, einer tropischen Flora und Fauna, darunter der karnivore Arcovenator, ein Dinosaurier, der von Afrika nach Europa gekommen sein dürfte, bevor die Landbrücke mit Afrika vor 66 MJ wieder versunken ist. Über Flüsse von Afrika strömten „urzeitliche Verwandte der Piranhas, […] Salmler, […] Hornhechte und SüßwasserQuastenflosser“ (S. 43) nach Europa. Es kamen Halswender-Schildkröten, pythonartige Schlangen und zackenzahnige Krokodile, solange die Landbrücke nach Afrika bestand, während anschließend die Migrationen aus Nordamerika einsetzten, darunter Rennechsen, frühe Beuteltiere, Verwandte der Krokodile und der den Dinosauriern nahestehende Lambeosaurus. „Europa war zu jener Zeit also ein Einwanderungsnehmerland, doch hatte es der Welt auch etwas zu geben? Die Antwort lautet nein“ (S. 44). Flannery ‚landet‘ an bedeutenden Grabungsstätten, an denen die Fenster in die Vergangenheit von Forschungsexpeditionen geöffnet wurden. Es geht z.B. nach Ha˛teg, auf eine kreidezeitliche Insel im heutigen Rumänien, wo Franz Baron Nopcsa von Felsö-Szilvás (1877–1933), ein realer transsilvanischer Paläontologe, zusammen mit seinem österreichischen Kollegen Othenio Abel (1875–1946) Grabungen durchführte. Der Wiener Ordinarius, ein berüchtigter Antisemit, gilt gemeinhin als Begründer der Paläobiologie, ein Privileg, das Flannery aber dem Adligen – „faktisch“ (S. 29) – zuschreibt. Dass diese beiden Paläobiologen der ersten Stunde ausgeprägte Exzentriker waren, steht außer Zweifel. Aber nicht nur bzgl. dieser Protagonisten, sondern auch in vielen anderen Fällen sind Flannerys biographischen Exkurse nicht nur sachbezogen informativ oder amüsant unterhaltend, sondern gern auch bizarr und unpassend lasziv. Durch solche Ausschweifungen wird offenbar der Aufmerksamkeitsökonomie einer breiten Leserschaft entsprochen, die mehr als nüchterne populärwissenschaftliche Aufklärung erwartet. Dabei bieten Fossilien doch genug Sensationsstoff, wie die Entdeckung von Darwinius mesillae in der Grube Messel (bei Darmstadt), seit 1995 UNESCO-Naturwelterbe, zeigt. 2009 berichteten Nachrichtenticker weltweit von „ein[em] Schatz, der, was seinen kulturellen Wert angeht, der Mona Lisa entspreche“ (S. 73f). Die »Ida« getauften Skelettüberreste wurden als missing link, als direkter Vorfahr von Affen und Menschen interpretiert, bis sich herausstellte, dass das norwegische Forschungsteam um Jørn Hurum (*1967) einem »aufgebauschten Hoax« (S. 74) aufgesessen war, da es sich bei dem Fossil nur um einen adapiformen Primaten, der Lemuren ähnelt, handelt. Das tut der Bedeutung von Messel als grandioser Fossilienfundstätte des Urpferdchens Propalaeotherium, Schuppentiers Eurotamandua und einer ganzen Vogelwelt, die sich „wie in Aspik erhalten [hat]“ (S. 76), keinen Abbruch, zeigt aber, wie Raubgräber und „die Zahlung riesiger Summen für Fossilien […] für Wissenschaftler zur toxischen Gefahr werden [können]“ (S. 75).

Bleiben wir beim Positiven: Zu den Lebewesen, die es Flannery besonders angetan haben, gehören Froschlurche (Alytidae), denn „[s]chaut man einer Geburtshelferkröte in die Augen, dann sieht man eine Europäerin, deren Urahnen noch den schrecklichen Hatzegopteryx angeblinzelt haben und die jede Katastrophe überstanden hat…“. Es sind lebende Fossilien, „die als Adel der Natur aufgefasst werden sollten“ (S. 47).

Das zweite Hauptkapitel, betitelt „Ein Kontinent entsteht“, umfasst die Zeit von 34–2,6 MJ (Oligozän bis Pliozän). Zu Ende des tropischen Eozäns kommt es zur »La Grande Coupure«, einem dramatischen Artensterben, auf welches das kalt-trockene Oligozän folgt. Es ist die Zeit, in der sich Europa mehr und mehr zum gegenwärtigen Erscheinungsbild formte und Grottenholme, Vögel und Katzen sich zunehmend ihre ökologischen Nischen erschlossen. Mit dem Miozän (23–5,3 MJ) begann aufgrund eines günstigen Klimas die wohl malerischste Epoche Europas mit einem Reichtum an fossilen Reptilien und Insekten und einer arktotertiären Geoflora, u.a. dem Ginkgo-Baum, nachdem dieser durch einen Asteroideneinschlag zusammen mit den Dinosauriern ausgestorben war. Flannery beschreibt das „miozäne Bestiarium“ (S. 114) und „Europas exzeptionelle Affen“ (S. 123), darunter Menschenartige wie Rudapithecus aus Ungarn sowie Ouranopithecus und Graecopithecus freybergi aus Griechenland. Letzterer wurde nach jüngsten Zahnfunden aus Bulgarien als Hominine identifiziert. „Das bedeutet, dass wir Griechenland nicht nur als die Wiege der Demokratie und der Gorillas, sondern auch als die der Homininen betrachten müssen – von denen wir Menschen die einzigen lebenden Vertreter sind“ (S. 132). Aufgrund umfangreicher Kritik wäre es angemessen, etwas zurückhaltender zu sein, was insbesondere auch bzgl. der Interpretation der Fußabdrücke aus Trachilos (Kreta) gilt, die Graecopithecus oder einem verwandten Taxon zugesprochen werden.

Um „[d]as Eiszeitalter (von vor 2,6 MJ bis vor 38 000 Jahren)“ geht es im dritten Hauptkapitel. Das Pleistozän ist eine Epoche mit markanten glazialen Zyklen, die auch im anschließenden Holozän anhielten. Flannery beschreibt die europäischen Eiszeitalter, die „durch Migration und Aussterben in massivem Umfang charakterisiert“ (S. 161) waren, und legt den Fokus auf Hybride und Europa als die „Mutter der métissage“ (165f). Er schildert „[d]ie Rückkehr der aufrecht gehenden Affen“ (S. 173f), beginnend mit der Entdeckung der 1,8 MJ alten fossilen Überreste von Homo erectus aus Dmanissi, südwestlich von Tiflis (Georgien). Weitere Subkapitel sind den „Neandertalern“ und den „Bastarden“, Mensch-Neandertaler-Hybriden, gewidmet. Nach paläogenetischen Befunden „leben […] mindestens 20 Prozent (und vielleicht sogar 40 Prozent) des gesamten Neandertaler-Genoms in den Genen der europäischen und asiatischen Bevölkerungen fort, da die Einzelnen jeweils unterschiedliche Segmente davon besitzen“ (S. 194). Denen, die die medialen Laborberichte des MPI Evolutionäre Anthropologie Leipzig oder fundierte Sachbücher wie „Der Neandertaler, unser Bruder“ von Silvana Condemi und François Savatier (s. https://www.fachbuchjournal.de/300-000-jahre-geschichte-des-menschen/) gelesen haben, wird die grobgerasterte Paläoanthropologie/-genetik, Humanökologie und Kulturgeschichte der frühen Europäer kaum Neues vermitteln, aber vermutlich insofern irritieren, als Flannery die Bezeichnung »Mensch« für den Homo sapiens reserviert, um sich nicht die Möglichkeit zu verbauen, „unseren eigenen spezifischen Menschentypus ohne Weiteres abzugrenzen“ (S. 180). Da runzelt manch ein Paläoanthropologe die Stirn und denkt: »Sic tacuisses, philosophus mansisses«. Erleichtert stellt man dann fest, dass sich der Autor im 4. Kapitel „Das Europa des Menschen – Von vor 30 000 Jahren bis in die Zukunft“ überwiegend seinen ureigensten »Leisten« zuwendet. Es geht um das Aussterben der europäischen Megafauna seit Beginn des Jungpaläolithikums, um die Prozesse der Domestizierung, zunächst von Wölfen und ab dem Neolithikum von Ziegen, Schafen, Schweinen und Rindern, wobei die Domestikation von Wildpflanzen leider zu kurz kommt. Flannery schildert die mit Ackerbau und Viehzucht auftretenden gravierenden Eingriffe des Menschen in die Lebensräume der Wildtiere. Während die menschliche Zu- und Abwanderung nach und aus Europa, also Immigration, europäische Kolonisierung und Dekolonisierung, nur gestreift werden, konzentriert sich Flannery vorwiegend auf die „Unzahl wilder Kreaturen [, die] nach ihrer Einführung durch den Menschen in Europa heimisch geworden [sind]“ (S. 279). Er beschreibt, „wie die hereinströmende Flut von Pflanzen und Tieren“ (S. 283) Europas Ökosysteme »um und umkehrte«, wie schon Michel de Montaigne (1533–1592) bemerkte, ein Prozess des dramatischen Artensterbens, der bis heute anhält.

Wie ein „rewilderung, also die Reetablierung wild lebender Kreaturen und verschwundener ökologischer Prozesse“ (S. 305) effektiv bewirkt werden kann, stellt Flannery mit der tatkräftigen Beratung von Luigi Boitani (*1946), Emeritus für Zoologie an der La Sapienza in Rom und führender Experte für Naturschutzmanagement, vor, wie aus der Danksagung hervorgeht. Wen die Projekte zur Wiederansiedlung von Wölfen, Bären und Co. interessieren, wird die fachkundigen Ausführungen z.B. zur „Bewolfung“ Europas ebenso wie die problembewussten Beiträge über Neozooen, z.B. Waschbären, Nutrias, Grauhörnchen, sowie zum Ausbau von Naturschutzparks begrüßen. Wenn es jedoch um das „Wiederbeleben“ verschwundener Wildtiere wie Wollhaarmammut, Wollnashorn und Höhlenbär geht, so sind solche visionären Projekte durch die nobelpreisgewürdigte CRISPR-Technologie ins Machbare gerückt. Jedoch „zunächst muss sich die Menschheit darüber klarwerden, ob es auch wünschenswert ist“ (S. 317), betont Flannery. Zukunftsperspektiven sind erlaubt, aber gentechnisches Handeln erfordert eine Verantwortungsethik, die der Wissenschaft und Politik hoffentlich enge Grenzen setzt!

Fazit: Flannerys Naturgeschichte Europas ist trotz paläoanthropologischer Schwächen und wissenschaftsbiographischer Marotten Populärwissenschaft der Extraklasse, ein Muss für evolutionsbiologisch Interessierte, die eine Lektüre schätzen, die unbeschwertes Lernen mit kurzweiliger Unterhaltung verbindet und durch zahlreiche kluge Anmerkungen zur Vertiefung anregt.

P.S.: Ist es lege artis, dass Luigi Boitani auf dem Titelblatt als Mit-Autor geführt wird, aber nicht auf dem Buchcover. Wie kommt‘s? (wh)

 

Johannes Sander: Ursprung und Entwicklung des Lebens. Eine Einführung in die Paläobiologie. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2020, 278 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3662605691, € 19,99.

Wer die Fachzeitschriften Naturwissenschaftliche Rundschau, Biologie in unserer Zeit oder BIOspektrum liest, dürfte bereits einige Beiträge von Johannes Sander gelesen haben. Das Repertoire des promovierten Biologen und Wissenschaftsautors umfasst vorwiegend Themen der Molekular- und Mikrobiologie, aber auch weitere von der Astrophysik bis zur Paläoanthropologie.

Sanders vorliegendes Buch führt in die Paläobiologie ein, jene Disziplin, die sich von einer vorwiegend anwendungsbezogenen Paläontologie dadurch unterscheidet, dass sie insbesondere den biologischen Aspekt ausgestorbener Organismen behandelt. Laut Backcover will das Sachbuch „einen kurzen, gleichzeitig aber auch umfassenden Einblick“ vermitteln. In Anbetracht der Komplexität des Themas klingt das nach Quadratur des Kreises. Kann das gelingen?

Auf die Beschreibung der Grundlagen der Paläobiologie verzichtet der Autor leider gänzlich und beginnt im 1. Kapitel Die Vorgeschichte: Sternenstaub mit dem Urknall, der Entwicklung des Kosmos vor 13,5 Mrd. Jahren. Ferner geht es um die Entstehung chemischer Elemente sowie die kosmische Dämmerung, in der Gaswolken zu Galaxien und Sternen kollabierten und sich vor 4,6 Mrd. J. die Sonne und ihre Planeten inkl. der Erde bildeten. Vom 2. Kapitel Die Entstehung des Lebens dürften sich manche Leser*innen aufgrund des Buchtitels wohl mehr versprochen haben, denn die Evolution von präbiotischen Zuständen zu echtem Leben wird nur in drei schmalen Subkapiteln abgehandelt. „Gute Kandidaten für die Entstehung des Lebens“ sind laut Autor „zum Beispiel basische, hydrothermale Quellen am Meeresgrund“ (S. 15). Mögliche Entstehungsorte könnten Thermalquellen vom Typ „Lost City“ sein, die Mikroorganismen optimale Bedingungen boten, um aus molekularem Wasserstoff und Kohlendioxid Methan und Acetat zu bilden (vgl. S. 16f). Im Weiteren werden der Erbapparat, die Rolle sog. RNAund PNA-Welten sowie die Darwinian transition (sensu Carl Woese) beschrieben.

„Dass überhaupt so Komplexes wie Leben entstehen konnte, gleicht schon fast einem Wunder“ (S. V), heißt es noch in einem etwas holprigen Vorwort, aber angesichts der Rätselhaftigkeit des Lebens bleiben Sanders Ausführungen emotionslos. Verglichen mit Harald Leschs u. Christian Kummers literarischem Kleinod Wie das Staunen ins Universum kam (s. Rezension im FBJ 5/2016, S. 71-72) fehlt dem technokratisch-nüchtern verfassten Sachbuch ein mitreißender Spannungsbogen.

Auf 200 Seiten wird die Entwicklung der Organismen vom Archaikum bis zum Anthropozän in fünf Hauptkapiteln dargestellt, gegliedert nach den geochronologischen Epochen Erdurzeit, Erdaltertum, Erdmittelalter und Erdneuzeit ­sowie in einen separaten Abriss zur Entwicklung des Menschen. Sander schildert, wie die ersten zellulären Lebewesen, sog. Prokaryoten, vor ~3,5 Mrd. J. in einer dunklen, wohl weitgehend sauerstofffreien Atmosphäre entstanden sein dürften. Die Energie des Sonnenlichts ist wahrscheinlich erstmals von anoxygenen phototrophen Bakterien genutzt worden, bevor es im Proterozoikum vor ca. 2,8 Mrd. J. zu einem evolutiven Quantensprung kam, indem Cyanobakterien das Wasser als biosynthetische Elektronenquelle erschlossen und zunehmend Sauerstoff freisetzten. Erst dieser Evolutionsschritt schuf die notwendigen Lebensbedingungen für Eukaryoten, das sind Organismen mit einem echten Zellkern, also Tiere (inkl. des Menschen), Pflanzen und Pilze.

Mit hohem Lehranspruch, der durch jahrelange Wissenschaftsberichterstattung geprägt ist, erklärt Sander, wie die Entwicklung von vermutlich methanfressenden Archaeen, z.B. Archaeocillatoriopsis disciformis und Primaevifilum amoenum, zu Eukaryoten verlief. Er diskutiert, wer als LECA (last eukaryotic common ancestor) in Frage kommt, z.B. ca. 1,6 Mrd. J. alte proterozoische Mikro­organismen „aus der Gaoyuzhuang-Formation in China oder der indischen Chitrakoot-Formation.“ […] „Die Fossilien der Chitrakoot-Formation sind unter den Namen Rafatazmia chitrakootensis, Denaricion mendax und Ramathallus lobatus bekannt. Bei ihnen könnte es sich um Vertreter aus der Stammgruppe der Rotalgen oder sogar bereits um Vertreter der Kronengruppe handeln.“ (s. S. 40; ohne Glossar-Indizierungen).

In gehobener populärwissenschaftlicher Wissensvermittlung werden die Entwicklung der Paläobiodiversität sowie die Hintergründe und Ursachen für die komplexitätssteigernden Evolutionsprozesse erklärt, z.B. die Entstehung von sich bereits sexuell fortpflanzenden, vielzelligen Rotalgen wie Bangiomorpha pubescens vor ~1,05 Mrd. J. oder der systematisch schwierig einzuordnenden Ediacara-Fauna, zu der die vor 635-541 Millionen Jahren (MJ) lebende Kimberella quadrata gehört, die heutigen Mollusken ähnelte. Das Erdaltertum (541–251,9 MJ) setzte mit dem kambrischen Faunensprung ein, der innerhalb weniger MJ zu einer starken adaptiven Radiation und dem erstmaligen

Auftreten von Vertretern fast aller rezenten Tierstämme führte. Sander spekuliert über die „phylogenetische Lunte“ (S. 55), die zu dieser Artenexplosion führte. Er gibt Einblicke in die Entstehung der paläozoischen Fauna, wie z.B. das Auftreten früher Wirbeltiere, den Landgang der Fische, die Entfaltung der Reptilien. Auch die Evolution der Wirbellosen, das Auftreten erster Landpflanzen und das Grünwerden des Landes sowie das größte Massensterben am Ende des Perms werden thematisiert.

Sanders paläobiologischer Parforceritt setzt sich im Kapitel Erdmittelalter (251,9–66,0 MJ) fort, in dem die Evolution von Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren und natürlich Dinosauriern von ihrem ersten Auftreten in der Trias bis zum Aussterben in der Kreide geschildert wird. Weitere Schwerpunkte betreffen die Evolution der Angiospermen (Bedecktsamer), die die Gymnospermen (Nacktsamer) zunehmend verdrängten, sowie die wachsende Vielfalt von Moosen, Insekten, Amphibien und koevolutive Prozesse.

In der Erdneuzeit (vor 66 MJ bis heute) kam es nach dem Aussterben der Dinosaurier zu einer intensiven adaptiven Radiation und der Erschließung neuer ökologischer Nischen. Unter den tertiären Säugetieren wurden zahlreiche Arten tagaktiv, darunter auch frühe Primaten. Ein Subkapitel gibt einen basalen Einblick in die Primatenentfaltung von der plesiadapiformen Art Torrejonia sirokyi (~65 MJ) bis zu den Hominini Sahelanthropus tchadensis (6–7 MJ), Orrorin tugenensis (5,6–6,2 MJ), Ardipithecus ramidus (4,4 MJ) und plio-pleistozänen Spezies der Gattung Australopithecus.

Im Endkapitel skizziert Sander neben paläobiologischen und paläogenetischen auch soziokulturelle Faktoren, die den dynamischen Evolutionsprozess der Gattung Homo triggerten. Der komprimierte Exkurs, der vom frühpleistozänen Homo rudolfensis bis zum Homo sapiens des Neolithikums reicht und den Neandertalern inkl. des kontemporären Denisova-Menschen ein Subkapitel widmet, zeichnet nur ein oberflächliches Bild einer Paläoanthropologie, die durch innovative Denkansätze zu komplexen Modellbildungen der Hominisation geführt hat (vgl. https://docplayer.org/46642175-Palaeoanthropologiestandortbestimmung-einer-innovativen-disziplin.html). Sanders Zeitraffer durch die Paläobiologie ist die Addition eifrig und sachlich recherchierter, faktendichter Miszellen der Geschichte des Lebens, eine wahre Informationsflut von Termini und Taxa, bei der sich Lesevergnügen kaum einstellt. Da eine Einführung in die allgemeine Paläobiologie fehlt, vermag das Sachbuch bestens bewährte Standard-Lehrbücher für Studienanfänger nicht zu ersetzen. Fortgeschrittenen kann es allenfalls als eine Art Repetitorium dienen. Interessierte Laien bedürfen wegen fehlender Vorkenntnisse großer Mühe, Ausdauer und individueller Recherche, um von der faktengespickten Lektüre zu profitieren. Ein Glossar und Stichwortverzeichnis bieten dazu ein wenig Unterstützung, während 16 mickrige s/wStrichzeichnungen nur eine Alibifunktion erfüllen. Fazit: Was die oben gestellte Frage des Gelingens eines kurzen und umfassenden Einblicks betrifft, so besteht die Herausforderung eines guten Sachbuchs darin, komplizierte wissenschaftliche Inhalte auch interessierten Laien in angemessener Sprache, klar strukturiert durch didaktische Textelemente, z.B. Tabellen, Zeitleisten, Fließdiagramme, sowie qualitativ anspruchsvolle Abbildungen nicht nur verständlich, sondern auch noch unterhaltsam und kurzweilig zu vermitteln. Dass Sanders Band diese Aufgaben nur unzureichend erfüllt und dazu noch viele, den Lesefluss störende Druckfehler enthält, liegt nicht allein am sachkundigen, überaus beflissenen Autor, sondern geht offenbar auch auf eine mangelnde Unterstützung durch das Springer-Lektorat zurück, − denn leidenschaftliche Buchgestaltung sieht anders aus! (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. henkew@uni-mainz.de

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