Geschichte, Politik, Zeitgeschichte

Nicole Glocke

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2018

Nicole Glocke: Erziehung hinter Gittern. Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR. (Auf Biegen und Brechen Sonderband). Leipziger Universitätsverlag, 2017, 299 S., ISBN 978-3-96023-136-3. € 17,00

Der Titel der Schriftenreihe, in der das Buch erschienen ist, Auf Biegen und Brechen, charakterisiert dessen Thesen beziehungsweise den Inhalt des Bandes: Konzept und Praxis der Anstalten, in die irgendwie auffällige Jugendliche in der DDR rein administrativ, ohne rechtsförmiges Verfahren und unter Ausschluss der Öffentlichkeit eingewiesen wurden und verblieben war, als Pädagogik getarnt, den Willen der jungen Menschen zu brechen. Für die Praxis bedeutete das, dass überall wie im Strafvollzug und härter verfahren wurde, am entsetzlichsten im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Insgesamt war, solange es die DDR gab, eine sechsstellige Zahl junger Leute davon betroffen, als diese Institutionen aufgelöst wurden, gab es 135.000 Insassen, von allen hatte die Öffentlichkeit nie etwas erfahren. Diese Auflösung begann blitzartig und durch telefonische Anweisungen sofort nach dem 9. November 1989 und war am 17. November abgeschlossen, ebenso wurde gleich mit dem Umbau begonnen, Fenstergitter, Türen ohne Klinke und ähnliche Zuchthauseinrichtungen wurden abgeschafft – all das zeigt überdeutlich, dass die Organisatoren, die zum Volksbildungsministerium (!) gehörten, genau wussten, was sie getan hatten.

Zum Teil scheinen diese Anstalten und die Praxis in einer Tradition gestanden zu haben, die in Westdeutschland 1945 nur scheinbar abbrach. In der Sowjetzone/DDR mag sie zunächst durch die Reformideen des sowjetischen Pädagogen Makarenko abgelöst worden sein, da diese aber auch in der UdSSR selbst schon lange abgebrochen und durch nackte Repression ersetzt worden waren, folgte die DDR auch hier ihrem Vorbild. Eine andere Parallele zu Westdeutschland tut sich auf. Nachdem mit den Achtundsechzigern etwas Konjunktur hatte, was sich Reformpädagogik nannte, entwickelte sich diese unter der Hand in eine nichtöffentliche Missbrauchspraxis, die erst spät und mühsam an die Öffentlichkeit drang. Ähnlich die Behandlung der Werkhöfe. Wie im Fall der pervertierten Reformpädagogik können immer noch Öffentlichkeit, Behörden, Gerichte sich auch hier erst spät dazu verstehen, die schrecklichen Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen und die rechtsstaatlichen und sozialen Folgerungen daraus zu ziehen; eine Besserung scheint sich abzuzeichnen.

Ist es aufgefallen, dass diese Besprechung nichts Inhaltliches enthält? Das Buch behandelt aber die schreckerregenden und dauerhaft traumatisierenden Vorgänge ausführlich und dadurch, dass es im Wesentlichen drei frühere Opfer zu Wort kommen ließ, deren Beiträge kritisch begleitet wurden. Eine nüchterne Wiedergabe dieser aufwühlenden Dinge in einer knappen Besprechung dürfte jedoch nicht nur diesen Rezensenten überfordern; er kann sich nur darauf beschränken, dringend zur Lektüre und notwendigen Unterstützung aufzufordern.

 

Klaus Schroeder, Jochen Staadt (Hrsg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989. Ein biografisches Handbuch. Reihe: Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Peter Lang, 2017, 684 S. mit 167 s/w Abb., geb., ISBN 978-3-631-72594-8. € 57,95

Ja, es ist ein biographisches Handbuch, das hier vorliegt mit Lebensläufen und der zum Teil ausführlichen Schilderung der einzelnen Ereignisse, die zum Tod von 327 zumeist jungen Menschen an der innerdeutschen Grenze geführt hatten. Was bedeutet das konkret? Man sieht junge und jüngste Gesichter, man sieht und liest von unauffälligen Lebenswelten aus der Mitte und unteren Hälfte der Gesellschaft, man liest von Ungeschicklichkeit, Leichtsinn, Hilflosigkeit. Ja, es ist das DDR-Grenzregime, das das alles verursacht hat, aber auch hier täte es gelegentlich gut, ein solches Abstraktum durch Hinweise auf konkrete organisierende und Befehle erteilende Individuen zu ergänzen. Natürlich nicht aus Rachedurst, der ja ohnehin nur sehr selten im Zuge der juristischen Versuche, gerechte Sühne zu finden, in Erscheinung trat. Es wäre jedoch für das Gesamtbild der Vorgänge instruktiv, dem hier Geschilderten die Lebensläufe und die Aussagen der seinerzeitigen Angeklagten und rechtskräftig Verurteilten als Korrelat gegenüberzustellen.

Mehr als genug freilich ist das mit dem vorliegenden Buch Geleistete. Diese Schicksale im Detail zu erforschen, ausfindig zu machen, die Sachverhalte zu kategorisieren, die umfangreichen und gerade hier so notwendigen Register zu erarbeiten und zu überprüfen war eine herkulische Arbeit der Herausgeber und der im Verhältnis wenigen Einzelmitarbeiter. Die langen auf dreieinhalb Seiten eng bedruckten Listen der während der nur fünf Jahre des Forschungsprojekts besuchten zentralen und örtlichen Archive, Standesämter, Einwohnermeldeämter, Bürgerbüros, Bürgermeisterämter, Museen und Heimatvereine und die jeweils damit zusammenhängenden persönlichen Gespräche sprechen eine deutliche Sprache.

Wenn man dazu noch die zahlreichen Arbeiten hinzunimmt, die über die Opfer der Mauer in Berlin angefertigt sind und wenn die Fluchtversuche über die Ostsee und die anderen Länder des sozialistischen Lagers noch ausstehen, dann kann auch diese Arbeit nur mit größtmöglicher Hochachtung als sittliche Tat gewürdigt werden, die den Grund für tiefergehende Analysen legt.

 

Daniela Münkel (Hrsg.): Die DDR im Blick der Stasi 1964. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Jahr 1964. Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 320 S., geb., ISBN 978-3-525-37508-2. € 30,00

Der Band hat es in sich, das beginnt schon beim Äußeren, dem Foto des Einbands. Es zeigt funkelnagelneu eingekleidete DDR-Postler, die energischen Schrittes zu den neu eingerichteten Passierscheinstellen in West-Berlin streben, mit Kisten und Kasten versehen. Die Erklärung für diesen äußeren Eindruck überlässt der Band, vielleicht nicht ohne Berechtigung, den Lesern, trotzdem sei sie hier ausgesprochen: Es sind gar keine Postler, sondern verkleidete Stasimänner. Das konnte man damals schon an der Art und Weise erkennen, in der gestempelt wurde. Bei richtigen Postlern ratterte das zügig rechts und links, diese hier drückten jedes Mal vorsichtig und langsam ab. Also auch hier Konspiration und, ungeschickte, Tarnung.

Die Einleitung Bernd Floraths ist konzis und informativ, hier eine Auswahl. Es gab das eben genannte Passierscheinabkommen, das, nur in einer Richtung, Wiedersehen zwischen getrennten Familien gestattete; es gab das FDJ-Deutschlandtreffen, äußerlich pompös und erfolgreich; es gab eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft; der aus West-Berlin entführte und in Bautzen II festgehaltene Heinz Brandt sollte auf ausländischen Druck hin entlassen werden und bot Probleme hinsichtlich seines zukünftigen Verhaltens im Westen; Wolf Biermann machte sich allmählich einschlägig bemerkbar; Robert Havemann musste im Zaum gehalten werden; dazu kamen verschiedene Varianten der Republikflucht: Tunnelbau, bewaffnete Auseinandersetzungen, Einzelflucht eines Prominenten bei einer Konferenz in Wien.

Dass all das MfS-relevant war, ist bei der Struktur der DDR einsehbar; es sei aber ein Dokument herausgegriffen, das besonders gut die paranoiden Abgründe darstellt, in die sich eine ideologisch gegründete Parteidiktatur begeben kann. Auf den Seiten 176 bis 184 steht eine „Einzelinformation“ über den Bildhauer Fritz Cremer, den Schöpfer des BuchenwaldDenkmals, die an Ulbricht, Honecker und Hager gerichtet war. Sie quillt über von Klatsch und Tratsch über negative – und zutreffende – Äußerungen, privat und halböffentlich, zur Kulturpolitik der Partei sowie von langen Listen der Personen, die in Verbindung mit Cremer standen. Diese geballte Denunziation ist deshalb bemerkenswert, weil sie anscheinend nur eine solche ist, Folgen für Cremer scheint sie nicht gehabt zu haben. Umso deutlicher ist sie für den Sand, den dieser Staat sich selbst ins Getriebe warf.

 

Christian Booß: Im goldenen Käfig. Zwischen SED, Staatssicherheit, Justizministerium und Mandant – die DDR-Anwälte im politischen Prozess. (Analysen und Dokumente der BStU Band 048), Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 813 S. mit 18 Abb. und 22 Tab., geb., ISBN 978-3-525-35125-3. € 45,00

Das Buch ist die gewaltige Leistung eines einzelnen Forschers: Auf 813 Seiten entrollt er ein äußerst material- und ergebnisreiches Bild eines Teils der DDR-Anwaltschaft nach strukturellen und geschichtlichen Gesichtspunkten und Fragestellungen. Und doch, wen wundert es, ist es eben nur ein Teil-Bild. Es konzentriert sich vor allem auf (Ost-) Berlin, so wichtig es war; „die Republik“ bleibt zumeist außen vor, sie könnte nur durch umfangreiche Forschungsprojekte mit vielen Mitarbeitern zufriedenstellend behandelt werden. Aber die Grundlagen wären gelegt.

Die Grundthese ist, dass die Einbindung der Anwaltschaft in die Partei- und Staatsorganisation zwar rigide war, dass aber unmittelbare Eingriffe oder Anweisungen eher selten stattfanden, das Funktionieren im SED-Sinne war immanent und geschah zumeist selbsttätig aus Anpassung an die ideologischen und Machtverhältnisse. Ob das auch dann der Fall war, wenn man die Bezirke in den Blick nimmt, könnte vielleicht ein anderes Bild ergeben, doch das kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Leider fehlen die gerade dafür besonders wichtigen Personen- und Sachregister.

Neben anwaltlich-organisatorischen Untersuchungen und Ausführungen nimmt die Beziehung der Anwaltschaft und der Anwälte zur Staatssicherheit einen großen Raum ein, mit wenig erfreulichem Ergebnis, wenngleich auch hier vielleicht die Gewichtung möglicherweise in Nuancen zu relativieren wäre. Immerhin behandelt der Autor die Fälle Gregor Gysi, Lothar de Maizière, Wolfgang Schnur und Friedrich Wolff kenntnisreich, differenziert und mit gesundem Urteil; auch in anderen Fällen sind die biographischen Ausführungen sehr gelungen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt sei hervorgehoben: Unabhängig davon, was den Betreffenden hieb- und stichfest nachgewiesen werden kann, wichtig ist, ob die Staatssicherheit sie als verlässliche Mitarbeiter angesehen hat. Jedenfalls: In einem Käfig dürfte sich der Anwaltsberuf gewiss befunden haben, wie golden er war, ließe sich wohl nur durch Vergleich mit den sonstigen Verhältnissen in der DDR ermessen.

Prof. Dr. Wolfgang Schuller ist Althistoriker und Volljurist.1976 folgte er einem Ruf als Ordinarius an die Universität Konstanz, wo er bis zu seiner Emeritierung Anfang 2004 als Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte blieb.

wolfgang.schuller@uni-konstanz.de

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