Das Verfassungsrecht als Grundordnung des Staates und als freiheitssichernde Rahmenordnung des Gemeinwesens erlebt in der Corona-Krise naturgemäß eine Bewährungsprobe. Dass diese für die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, zuvörderst der Grundrechte, der Verfahren und Institutionen politischer Willensbildung und der Staatsorganisation dennoch keine Krisenzeit ist, belegt nicht zuletzt die Leistungsfähigkeit der grundgesetzlichen Verfassungsordnung und vor allem aber auch das hohe Niveau ihrer dogmatischen Durchdringung. Dieses spiegelt sich auch in den hier angezeigten Neuerscheinungen.
Matthias Herdegen / Johannes Masing / Ralf Poscher / Klaus Ferdinand Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts. Darstellung in transnationaler Perspektive, München C.H. Beck 2021, ISBN 9783406738500, Geb., Ln., 1837 S., € 249,00.
Das deutsche Staats- und Verfassungsrecht steht unter einer Grundspannung, nämlich das Verhältnis von Staat und Verfassung zu bestimmen. Noch in den 1990iger Jahren schlug sich dies literarisch in der Konkurrenz des Handbuchs des Staatsrechts zum seinerzeit von Ernst Bender, Werner Maihofer und Hans-Joachim Vogel herausgegebenen Handbuch des Verfassungsrechts einerseits und dem von Paul Kirchhoff und Josef Isensee begründeten Handbuch des Staatsrechts andererseits nieder. Dem Staatsrechtsdenken gelingt es, der Verfassung den Staat als Vorfindlichkeit entgegenzusetzen und dadurch eine letztlich nicht demokratische Reserve in den Geltungsvorrang des Verfassungsrechts einzubauen. Geht man hingegen von der Verfassung als Rahmenordnung des sich staatlich verfassenden Gemeinwesens aus, verliert die Entität des Staates ihren vorrechtlichen Charakter. Von diesem Gegensatz, der sich auch entlang politischer Grenzlinien bewegte, ist im Handbuch des Verfassungsrechts nichts mehr zu spüren. Das Handbuch tritt in große Fußstapfen, ist aber etwas völlig anderes, als sein Vorläufer mit gleichem Titel. Die Herausgeber verfolgen mit dem Handbuch den Zweck, das deutsche Verfassungsrecht und das deutsche Verfassungsdenken nicht nur der rechtswissenschaftlichen Öffentlichkeit in Deutschland zu präsentieren, sondern mit transnationalem und internationalem Anspruch die Leistungen des deutschen Verfassungsrechts und seiner Wissenschaft in ein letztlich weltweit gedachtes Schaufenster zu stellen. Die Beiträge des Handbuches schreiten das ganze Panoptikum des Verfassungsrechts ab. Von Grundfragen der Verfassungsordnung, über staatsfundamentale Prinzipien, über Handlungsformen und Institutionen des Staatsorganisationsrechts bis hin zu Grundrechten und Querschnittsfragen der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsverfassung, Wehr- und Sicherheitsverfassung. Die einzelnen Beiträge zeichnen sich dabei durch ein hohes Maß an Straffung und Verdichtung aus. Dieses Handbuch hat nicht den Anspruch, das Verfassungsrecht in seiner ganzen Breite und Fülle zu präsentieren und sich dabei in den zahllosen Detailfragen des Rechts zu verlieren. Das Handbuch stellt in das Schaufenster glitzernde Miniaturen, die auf wenigen Seiten unter durchaus eigener Schwerpunktsetzung, Grundlagen und vor allem auch die aktuellen Diskurse in den einzelnen Feldern des Verfassungsrechts zum Funkeln bringen. Für diejenigen, die es vertiefter und ausführlicher wünschen, enthalten alle Beiträge ausführliche Biografien. Dem Werk ist eine schnelle Übersetzung in das Englische zu wünschen, damit der erhebliche Ertrag im transnationalen Diskurs auch erreicht wird. In den Zeiten, in denen Globalisierung nicht zuletzt auch mit dem Export von Rechtsordnungen und Rechtsdenken verbunden ist, ist dieses Handbuch ein Juwel.
Volker Epping / Christian Hillgruber: Grundgesetz. Kommentar. München: C.H. Beck, 3. Auflage, 2020. 2261 S., ISBN 978-3-406-74715-1. € 179,00.
Die Vorzüge eines Onlinekommentars in den Modulen von Beck online dürfte jeder zu schätzen gelernt haben, der in der Rechtspraxis in Behörden, Gerichten und Kanzleien tätig ist. Ein hochaktueller Zugriff und eine leichte elektronische Verarbeitungsfähigkeit zeichnen diese Datenbank-Inhalte aus. Die Vorteile hoher Aktualität und leichter Handhabbarkeit gehen allerdings für viele Leserinnen und Leser auch mit erheblichen Verlusten einher. Man mag sich die Leistungsfähigkeit des deutschen Rechtswesens gar nicht mehr vorstellen können, wenn einmal der Strom ausfällt! Aber auch die Haptik und intuitive Erfassbarkeit der Inhalte einer Grundgesetzkommentierung, die zwischen zwei Buchdeckeln gebunden wird, ist ein Wert, den viele Leserinnen und Leser zu schätzen wissen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass der Beck Verlag die Inhalte des von Volker Epping und Christian Hillgruber verlässlich herausgegebenen Onlinekommentars zum Grundgesetz alle paar Jahre auch als Druckfassung herausgibt. Die Kommentierung folgt dabei dem Onlineinhalt. Die hier angezeigte 3. Auflage der Printfassung bringt die Kommentierung wieder auf den aktuellen Stand der Verfassungsentwicklung und insbesondere auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Hervorzuheben ist zum einen die Dichte der Kommentierung, die im Feld der einbändigen Grundgesetz-Kommentare ihresgleichen sucht und allenfalls im von Michael Sachs herausgegebenen Konkurrenzprodukt im gleichen Verlag eine Entsprechung findet. Als besonderes Kennzeichen des Kommentars kann aber die Kommentierung in mehreren Ebenen hervorgehoben werden. So enthält jede Kommentierung zunächst eine Überblicksebene, in der die zentralen Gehalte zu den jeweiligen Grundgesetz-Artikeln wiedergegeben werden, dem schließt sich die Standard-Kommentierung an – gefolgt von einer dritten Ebene, die in deutlich kleinerem Druckbild und in gebrochenen Randnummer-Zählungen zahlreiche Detailfragen aufgreift. Diese werden durch das Sachregister verlässlich erschlossen. Im Ergebnis gelingt es dem Kommentar damit, in der Lektüre unterschiedliche Ebenen der Inhaltsdarstellung zu verbinden: wer die grundlegenden dogmatischen Strukturen einer grundrechtlichen Gewährleistung erfassen will, der ist mit der Standardkommentierung gut aufgehoben, den Zugriff auf zahlreiche Detailprobleme ermöglicht der Kommentar auf anderer Ebene und damit erfreulicherweise auf einem Weg, der die Kommentierung im Übrigen vor Überfrachtung schützt. Auch die Neuauflage dürfte jenseits der Aktualität des online-Kommentars eine dankbare Leserschaft finden.
Sachs, Grundgesetz: GG, Kommentar, München: C.H. Beck 9. Auflage 2021, ISBN 978-3-406-75503-3, 2554 S., € 219,00.
Zwar hat sich im Verfassungsrecht der Trend zur Jahreskommentierung – anders als im Steuerrecht – glücklicherweise noch nicht durchgesetzt, dennoch stellen vergleichsweise schnelle Neuauflagen das Rezensionswesen vor nicht geringe Herausforderungen: die Buchbesprechung soll ja einerseits den Finger in offene Wunden legen, die in der Grundkonzeption oder in der aktuellen Ausgestaltung eines Buches angelegt sind, andererseits die Neuausrichtung und die Innovationen der Neuauflage rühmen, und bei alledem die Leserschaft nicht langweilen. Die Neuauflage des Grundgesetzkommentars von Sachs ist nach dem Gesagten eine große Herausforderung für jeden Rezensenten. Alles Wichtige ist zur Vorauflage schon gesagt worden (fachbuchjournal 04/2018). Was soll man kritisieren, wenn Autoren und Herausgeber es erneut geschafft haben, das beachtliche Niveau dogmatischer Durchdringung und praxisnaher Darstellung der aktuellen Verfassungsrechts- und Rechtsprechungsentwicklung erneut darzustellen? Welche Innovationen soll man loben, wenn es Herausgebern und Autoren gelungen ist, in einer klaren Struktur die sich immer weiter ausdifferenzierende verfassungsrechtliche Landschaft wieder einzufangen? Auf welche Schwachstellen für den Rechtsanwender soll man hinweisen, wenn dieser erneut in einem Band einen verlässlichen Begleiter zu allen aktuellen Fragen des Verfassungsrechts findet? Die Alternative wäre allerdings auch nicht verfolgenswert: von der Neuauflage des Grundgesetzkommentars von Sachs zu schweigen, würde dem Wert des Werkes nicht gerecht. Seine Innovation liegt in der Beständigkeit, seine Verlässlichkeit in der Beständigkeit. Seinen Platz in der Champions-League der Grundgesetzkommentierungen hat der Kommentar gefunden und behauptet.
Von Münch / Kunig, Grundgesetz-Kommentar: GG, Gesamtwerk in 2 Bänden, Kommentar 7. Auflage 2021, München: C.H.Beck, 4868 S., ISBN 978-3-406-73590-5, € 359,00.
Die letzte Auflage des Grundgesetzkommentars mit der auffälligen gelben Signalfarbe ist bereits acht Jahre alt. Insofern war es höchste Zeit, das Werk wieder auf den aktuellen Stand zu bringen. Die Neuauflage markiert in vielfacher Hinsicht auch einen Neubeginn. Dies bezieht sich zum einen auf die Herausgeberschaft, die nunmehr von Jörn Axel Kämmerer und Markus Kotzur verantwortet wird, dies bezieht sich aber auch auf die nicht geringen Wechsel im Kreis der Autorinnen und Autoren. Der Umfang des Kommentars ist nahezu gleichgeblieben. Auch das grundsätzliche Konzept ist unverändert. Unverändert meinungsfreudig zeigt sich der Kommentar bei überblicksartigen Probebohrungen in den Kommentierungen einzelner Artikel. Die ja nicht geringen Änderungen des Verfassungsrechts und die Entwicklung der Rechtsprechung wurden flächendeckend und umfassend berücksichtigt. Geblieben ist im Kommentar überdies sein didaktischer Anspruch. Jedenfalls auch Studierende der Rechtswissenschaften finden relativ kompakte Norminterpretationen in durchaus zu begrüßender Konzentration auf das Wesentliche. Ein Hauptaugenmerk legt die Neuauflage allerdings auf die zunehmende Internationalisierung und Europäisierung im Verfassungsrecht, die in einem jeweiligen Abschnitt zu den einzelnen Kommentierungen ihren Niederschlag findet. Herausgekommen ist erneut ein Kommentar, der nicht nur Gerichten und Rechtspraxis wichtige Impulse im ersten Zugriff auf die detaillierten und differenzierten Diskurse im Verfassungsrecht bieten kann und Zeugnis von den wissenschaftlichen Positionierungen seiner Autorinnen und Autoren gibt, sondern vor allen Dingen auch einen Kommentar, der das Jurastudium wesentlich bereichern kann. Natürlich schont die Anschaffung des Kommentars nicht gerade den Geldbeutel der Studierenden, der Aufwand wird durch den reichen Ertrag aber noch immer gerechtfertigt.
Walter / Grünewald, Bundesverfassungsgerichtsgesetz: BVerfGG, Kommentar 2020, C.H.Beck, ISBN 978-3-406-74709-0, 675 S., € 99,00.
Das deutsche Verfassungsrecht ist in besonderer Weise durch die Rechtsprechung seiner Verfassungsgerichte geprägt. Das Bundesverfassungsgericht ist auch in internationaler Perspektive ein hervorragender Akteur in der Durchdringung des Verfassungsrechts und prägt nicht zuletzt dessen Rolle als Rahmenordnung im politischen Prozess ganz maßgeblich. Dieser Befund bedeutet aber auch, dass es der Verfassungsprozess ist, der wesentliche Impulse zur Prägewirkung und faktischen Geltung der Verfassung liefert. Materielles Verfassungsrecht lebt im und durch das Verfassungsprozessrecht. Maßgebliche Kodifikation dieser Lebensordnung der Verfassung ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, das durch den hier angezeigten Kommentar eine grundlegende Neukommentierung findet. Auch der Walter/Grünewald stellt eine Printfassung des in den online-Modulen des Beck Verlages verfügbaren onlineKommentars dar und folgt dessen grundsätzlicher Struktur. Hervorzuheben ist auch hier die dreischichtige Kommentierung, gebildet aus Grundlagen, Standardkommentar und Vertiefung, die die Arbeit mit dem Kommentar deutlich erleichtert. Der Kommentar orientiert sich stark an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und gibt Hinweise für die Prozessführung. Gerade in den verbreiteten Verfahrensarten der Normenkontrolle und des Verfassungsbeschwerdeverfahrens liegen die wesentlichen Zugangshürden weniger im Gesetz als vielmehr in restriktiven Annahmen des Bundesverfassungsgerichts in der Entfaltung der eigenen Prozessordnung begründet. Hierfür hat der Kommentar ein sicheres Gespür, das sich in einer angemessenen Schwerpunktsetzung niederschlägt. Die vorliegende Auflage berücksichtigt neuere Entwicklungen insbesondere im Organstreitverfahren, im Wahlprüfungsverfahren und bei den einstweiligen Anordnungen. Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Heranziehung der Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab im verfassungsgerichtlichen Verfahren ist ebenfalls bereits eingearbeitet. Ein rundes Werk, dem auch in der Printfassung eine weite Verbreitung zu wünschen bleibt.
Christofer Lenz / Ronald Hansel: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Handkommentar. Baden-Baden: Nomos Verlag, 3. Auflage, 2020. 853 S., ISBN 978-3-8487-4378-0, 853 S., € 118,00.
Auch der Praxiskommentar von Lenz/Hansel kann in seiner Neuauflage erneut überzeugen. Ist der Weg nach Karlsruhe in der Rechtspraxis mitunter beschwerlich, aufwändig und leider auch erfolglos, so kann letzteres Risiko durch den Kommentar doch erheblich minimiert werden. Trotz und ungeachtet seiner Kompaktheit findet sich letztlich jedes relevante verfassungsprozessuale Problem praxisnah und auf dem Stand der aktuellen Rechtsprechung erörtert. Der Kommentar kann dies auf Grund einer klugen Schwerpunktsetzung leisten, indem die besonderes praxisrelevanten Verfahrensarten der Normenkontrolle und des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in vergleichsweise großer Breite abgehandelt werden. Hält man sich vor Augen, dass die allermeisten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht von den Senaten, sondern in den Kammern entschieden werden, kann man überdies ermessen, wie wertvoll die nahezu flächendeckende und ein Alleinstellungsmerkmal des Kommentars bildende Auswertung der Kammerrechtsprechung darstellt. Wer sich auf den Weg in die Herzkammern der Republik, wer sich auf den Weg nach Karlsruhe macht, der sollte den Kommentar im Gepäck haben. (md)
Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) hat einen Lehrstuhl für Öf fentliches Recht, Verwaltungsrecht, Religionsverfassungsrecht und Kirchenrecht sowie Steuerrecht an der Eberhard Karls Uni versität Tübingen inne. Er ist Direktor des Instituts für Recht und Religion und Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht. In der Forschung ist Droege im Staats- und auch im Verwal tungsrecht breit ausgewiesen. In seinen Publikationen zum Fi nanzverfassungs- und Steuerrecht sowie zum Kirchen- und Re ligionsverfassungsrecht spiegeln sich seine Forschungsinteressen wider.
michael.droege@uni-tuebingen.de