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NATURFORSCHUNG

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2023

Stefan Bollmann: Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur. ­Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2021, 1. Aufl., 656 S., 12 s/w u. 7 fbg. Abb., geb., ISBN: 978-3-608-96416-5, € 28,00.

    Gerade erst hat Stefan Bollmann (*1958), promovierter Literaturwissenschaftler, erfahrener Sachbuchlektor und Erfolgsautor, mit dem schwungvollen Spiegel-Bestseller Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist (DVA, 2016) den Dichterfürsten Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832) vom Denkmalsockel auf Augenhöhe geholt, da erscheint der vorliegende Goethe-Wälzer. Diesmal liegt der Fokus nicht auf Goethes literarischem Werk, auf das er sich – wohl untertreibend – »gar nichts« einbildete (vgl. Goethes Altersweisheit 1946, S. 89), sondern auf seiner Naturerfahrung und Naturforschung, die das Universalgenie für „mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, jedenfalls wichtiger“ hielt (S. 21).

    Dass Bollmann diese Seite des Goethebildes „entdeckt“ (Backcover), klingt etwas missverständlich, denn das Buchprojekt konnte ihm nur als »Kollektivwesen« gelingen, als das sich auch sein Protagonist sah. Der Autor schöpft seine dichten Informationen vor allem aus der 29-bändigen Leopoldina-Ausgabe »Goethe – Die Schriften der Naturwissenschaft« (1947–2011) und Exposés der Ausstellung »Abenteuer der Vernunft« (Klassik-Stiftung Weimar 2019). Das schmälert seine publizistische Leistung nicht, denn er will nicht lehren, sondern erzählen, „Goethe gewissermaßen wieder auf die Füße [stellen],,wogegen die anderen in der Regel nur den Kopf oder das Herz betrachten“ (vgl. S. 21).

    Zweigeteilt in Goethes Erfahrungen und Forschungen spannt sich der Erzählbogen in einem historischen Kontinuum über 32 Kapitel, beginnend mit Goethes schwerer Geburt, die bereits „eine Wiedergeburt [war]“ (S. 29), bis zum letzten Atemzug im 83. Lebensjahr des weltweit bestaunten Universalgenies (vgl. S. 590).

    „Wölfi“ wuchs in einem „ganz auf den Narzissmus des Kindes abgestellte[n] Familienidyll“ (S. 48) in Frankfurt auf und entfloh als Stadtkind so oft wie möglich der „Ausdünstungspfütze “ (S. 39), raus an die frische Luft vor den Stadtmauern, „wo […] die wahrgenommene Natur zur Seelenlandschaft wird “ (S. 43). Als Junge schreibt er „fiktive Liebesgedichte“ und nimmt „Waldbäder“ (S. 59) gegen Liebeskummer.

    Da Goethe sein Jura-Studium in Leipzig langweilt, sucht er „nach zusätzlicher geistiger Nahrung“ (S. 64) bei Medizinern und Naturwissenschaftlern, aber wegen einer lebensbedrohlichen Lungenkrankheit gibt er das Studium bald auf und kehrt ins Elternhaus zurück, wo ihn sein Vater als Hypochonder beschimpft. Aber er hat Wesentliches gelernt, er hält »die Erfahrung für die einzige ächte (sic!) Wissenschaft« (zit. S. 74).

    Um sich gegen ständige Depressionen zu kurieren, wendet er sich alchimistischer Heilkunst zu, die seine „spätere Vorstellung von Polarität“(S. 85) vorprägt und sich im »West-Östlichen Divan« (1872) in den »zweyerlei Gnaden« im Atemholen findet (vgl. S. 592; Buchtitel!). Routiniert verbindet Bollmann seine Erzählung von Goethes Straßburger Zeit, die endlich zum Jura-Lizenziat führt, mit den gesammelten Erfahrungen beim anatomischen Sezieren und naturwissenschaftlichen

    Experimentieren, der Bekämpfung „mangelnde[r] Resilienz“ durch „Konfrontationstherapie[n]“ (S. 93), wie waghalsigen nächtlichen Ritten, und den befruchtenden Kontakten mit Kommilitonen, wie Johann Gottfried Herder (1744–1803), dessen Philosophie in Goethes Denken „Superiorität“ erlangt; es geht um Spinozismus, das Begreifen des Menschen als „körperlich-emotional-seelische Einheit“ (S. 109). In den Wanderjahren der Sturm und Drang-Zeit legt Goethe das »Spatzenmäßige« (sensu Herder; S. 142) ab und entwickelt »Charisma«, hat aber auch immer wieder »Ausfälle seines Geistes« aufgrund »der Üppigkeit des Genies« (zit. S. 143).

    Eine Geniereise in die Schweiz, auf der Goethe die Natur als Antrieb für die „künstlerische Produktivität des Menschen“ (vgl. S. 176) erlebt, wird zum „Schlüsselerlebnis“ (S. 180).

    Es folgt die Stein-Zeit, „das Unwahrscheinliche wird Wirklichkeit“ (S. 186), denn Goethe, der seit dem Brief­ roman »Werther« eine Berühmtheit ist, wird 1775 von dem kulturbewussten Herzog Carl August (1757–1828) nach Weimar berufen. Zwar empfindet der hohe Staatsbeamte die notwendige »politische Subordination« […] als »das durchaus Scheisige« (vgl. 191), aber er macht Karriere. Es ist die Zeit seiner „geisterhafte[n] Beziehung zu Charlotte von Stein und […] erwachende[n] Liebe zu den Steinen“ (S. 218). Als Bergrat hat Goethe die Aufsicht über die Ilmenauer Bergwerke und bei der Erkundung der Flöze „gewinnt Goethes Erfahrung der Natur eine bislang unbekannte Tiefendimension“ (S. 218).

    Als er 1779 mit dem Fürsten seine zweite Schweiz-Reise unternimmt, eröffnen sich ihm „ganz neue Denkräume“ (S. 236). Ausflüge in die Gletscherwelt führen zu einer dynamischen Naturauffassung, „einer sich in die Tiefe der Zeit verlierenden Entstehung der Erde“ (S. 251f.), was sich in seinem literarischen Werk widerspiegelt. Im Teil FORSCHUNGEN will Bollmann Goethe nicht zum Pionier eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels stilisieren, denn wie ein Blick auf Goethes Entdeckungen zeigt, war er „Naturerfahrender, und er bleibt dies als Naturforscher“ (S. 21). Seine prominente Stellung gab ihm das Privileg, Forschungen zu betreiben, dazu häufig auf Reisen zu gehen und mit den wissenschaftlichen Koryphäen seiner Zeit in engen Gedankenaustausch zu treten. Ja, selbst Fluchten aus der Enge Weimars wurden dem Geheimen Rat verziehen, wie die »Italienische Reise« (1786–1788), auf der er nicht nur die Kultur, Natur und Liebe genoss, sondern auch intensiv Naturforschung betrieb, was das verkitschte Tischbein-Gemälde auf dem Cover illustrieren soll. Wer sich mikrogeschichtlich in der Goethe-Zeit (1770– 1830) auskennt, weiß, dass damals »ein offener Sinn für wissenschaftliche und künstlerische Bestrebungen an manchen Höfen und in der guten Gesellschaft [war]« [vgl. die Rede von Rudolf Virchow (1821–1902) über »Göthe als Naturforscher« (Berlin, 1861)]. Als Günstling hatte Goethe die Freiheit, seinem ungebremsten Forschungsinteresse zu frönen. Neben Anatomie, Botanik, Morphologie, Physik, Geologie, Mineralogie und Geographie interessierte er sich – was weniger bekannt ist – auch für Elektrisiermaschinen, Montgolfièren und Wolkenkunde; man kann kurz sagen – eigentlich für alles, er war Generalist. Als solcher konnte der charmante Unterhalter in der elitären Weimarer Gesellschaft – insbesondere bei den Damen – reüssieren. Da er auf allen Gebieten mitmischte, war er für die Spezialisten der aufblühenden Naturwissenschaften ein Außenseiter (vgl. FBJ 4/2015. F.M. Wuketits, Außenseiter in der Wissenschaft, Rez. wh), »ein Mann, der außerhalb der Gilde stand; […] den man vielleicht als Laien oder Dilettanten [sensu Liebhaber, erg.] bezeichnen möchte«, schrieb Virchow 1861 (s.o., S. 49), obwohl er sich nicht nur auf intuitives Erfassen verließ, sondern der Empirie bereits Bedeutung beimaß. Einiges von ihm »Geleistete« sei erwähnt. So fand seine osteologische Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen Beachtung, da er damit die Annahme als Sondermerkmal unserer Spezies widerlegte, was übrigens auch dem frz. Anatom Félix Vicq d’Azyr (1748–1794) unabhängig gelang.

    Dass Goethe „auch ein hochtalentierter Schnorrer“ (S. 306) war, zeigt Bollmann in einer launigen Schilderung der kuriosen Verwicklungen bei der Ausleihe eines Elefantenschädels vom Kasseler Anatom Samuel Thomas Sömmering (1755–1830).

    Zu Goethes eindrucksvollster Forschung zählt der „Versuch – die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“ (von 1790). Er gibt althergebrachte Vorstellungen über die Unveränderlichkeit der Arten auf und geht auf die erkenntnistheoretische Suche nach der „Urpflanze“ (bzw. dem Typus, Symbol, Ur-Phänomen), nach einer allgemeinen Formel, „einem Prinzip zum Design von Pflanzen“ (S. 368). Sein Modell wird bis heute als „anschlussfähig an die zeitgenössische botanische Forschung“ (S. 401) gewertet. Einige Wissenschaftler sehen Goethe sogar als Vordenker der Evolutionstheorie, wie der Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) in einer Rede von 1967, womit er – nach Bollmann – „den Vergleich zwischen Urpflanze und Doppelhelix überstrapaziert“ (S. 369). Das gilt auch für den von einigen Goethe-Bewunderern versuchten Brückenschlag von Fausts Homunkulus-Phantasien zu CRISPCAS9-Manipulationen der Molekulargenetik. Uneitel war Goethe nicht; in der »schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre« hielt er sich für den Einzigen, »der das Rechte weiß« (s. Altersweisheiten, s.o.). Bollmann erklärt ausführlich die Unterschiede zwischen Goethes synthetischer Ansicht, in der sich die Vorstellung von der „Harmonie der Natur“ (S. 408) widerspiegelt, gegenüber der analytischen Erklärung durch Isaac Newtons (1643– 1727) optische Forschung. Es ist seltsam, wie überheblich Goethe seine – letztlich fast durchgehend – irrtümliche Position verteidigte, und wie distinguiert sich Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) als Physiker zurückhielt. In der Wissenschaft werden Theorien über die Welt und ihre Teile konstruiert, und wenn Goethe in vielen Fällen nicht richtig lag, so ist das wissenschaftsimmanent. Aber in Goethes Wahlverwandtschaft mit dem 20 Jahre jüngeren, welterfahrenen Alexander v. Humboldt (1769–1859) und dem gemeinsamen Interesse für geographisch-ökologische Phänomene zeigt sich, wie wegweisend ­Goethes Er ­ schauen der Natur als Ganzes war, dass »Eins in dem andern wirkt und lebt« (in Faust, 1790).

    Fazit: Bollmann gelingt es mit beachtlicher Souveränität, die erdrückenden Fachquellen über den Naturschriftsteller und Naturforscher Goethe so zu komprimieren (was bei dem kapitalen Schmöker paradox klingt), dass hier für diejenigen, die Goethe bislang nur „als Schöngeist mit einem Naturspleen“ (S. 21) wahrnahmen, aber auch alle anderen Interessierten, ein sehr lesenswerter Band über das „Unterlassene“ (S. 21) des »Lieblings der Menschheit« (sensu T. Mann) vorliegt. Aber – trotz des Umfangs – dürfte manch ein Goethe-Liebhaber die zu geringe Verflechtung von Kunst und Wissenschaft, von Dichtung und Naturforschung beklagen, d.h. den erhebenden Blick auf Goethes Gesamtwerk vermissen.

    Dass Bollmann ein Goethe-Porträt mit ‚grüner Grundierung‘ zeichnet, verwundert nicht, denn das tat – wenn auch deutlich subtiler – schon Adolf Muschg (*1934) in »Goethe der Eremit: auf der Suche nach dem Grünen bei einem alten Dichter« (Suhrkamp 1986), ebenso wie Ernst Lautenbach (*1924) in »Der grüne Goethe« (Judicium 2011), einer lexikalischen Zitatenauslese für das 21. Jhdt., welche die ganzheitlich-integrative Sichtweise des naturforschenden Dichters offenbart. Dass Bollmanns Werk mit der pantheistischen Metapher vom „Atem der Welt“ im Titel gerade jetzt erscheint, da auch dem Letzten bewusst wird, dass in der anthropozänen Umwelt- und Klimakrise unserem blauen Planeten die ‚Puste‘ auszugehen droht, dürfte nicht zufällig sein, denn »Natur Schreiben« ist en vogue. (wh)

    Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

    henkew@uni-mainz.de

     

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