Geschichte

Nationalsozialismus

- Widerstand, Inhaftierung, Flucht und Vertreibung aus der Sicht betroffener Frauen


Aus: fachbuchjournal Ausgabe 4/2018

Camilla Hirsch: Tagebuch aus Theresienstadt / Hrsg. Beit Theresienstadt. Wien: mandelbaum verl., 2017. 151 S. ISBN 978-3-85476-498-4 € 15.00

Das Tagebuch von Camilla Hirsch geb. Wolf (1869–1948) beginnt am 10. Juli 1942, dem Tag, an dem die 73jährige von Wien nach Theresienstadt deportiert wird, und endet am 31. Dezember 1945, als sie erfährt, dass Sohn Robert und Schwiegertochter Grete noch leben. Es ist in zweifacher Hinsicht ein außergewöhnliches Dokument. Zum einen gibt es kaum Informationen von älteren Menschen zum Leben und möglichen Überleben in Theresienstadt, zum anderen ist die Verfasserin Inhaberin eines Schreibbüros in Wien, „sie ist eine erfahrene Schreiberin“ (S. 27), sie „erfasste sofort die Lage, sie verstand und analysierte die Fakten“ (S. 11), „sie ist empathisch, interessiert und solidarisch“ (S. 31). „Den roten Faden bildet der Kampf ums Überleben“ (S. 28): der ständige Hunger und die gefährlichen Versuche, Nahrung zu organisieren, das Bemühen, trotz der Unterernährung und der katastrophalen hygienischen Verhältnisse gesund zu bleiben, das Bewahren zwischenmenschlicher Kontakte sowie die ständige Sorge um den Sohn und die Schwiegertochter, die sich in Ungarn befinden.

Über Camilla Hirsch ist wenig bekannt. In den 1930er Jahren verdient sie ihren Lebensunterhalt mit der Formulierung von Briefen für ihre Kunden und veröffentlicht im Eigenverlag Geschichten für Erwachsene und Kinder. Im Februar 1945 wird sie durch jüdische Organisationen freigekauft und in die Schweiz überstellt. Robert und Grete überleben den Holocaust in Ungarn und kehren nach Wien zurück, sie wird sie nicht wiedersehen. Sie stirbt 1948 in einem Krankenhaus in Lugano. Dieses Tagebuch ist ein Zufallsfund, es ist vorzüglich ediert und mit zahlreichen Anmerkungen versehen und eingebettet in zwei außergewöhnlich interessante Beiträge über Österreichs Judentum von 1938 bis 1945 von Margalit Shlain und über das Überleben in Theresienstadt von Anita Tarsi.

Der Rezensent wünscht diesem außergewöhnlichen Büchlein eine weite Verbreitung.

 

Bärbel Schäfer: Meine Nachmittage mit Eva. Über Leben nach Auschwitz. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2017. 219 S. ISBN 978-3-579-08685-9. € 19.99

Die 1932 in Budapest geborene Jüdin Eva Szepesi geb. Diamant ist eine der letzten Überlebenden eines Konzentrationslagers. Sie wird 1944 in das KZ Auschwitz-Birkenau gebracht, Ende Januar 1945 durch die Rote Armee befreit. Erst 50 Jahre später ist sie in der Lage, über die Erlebnisse auf Gedenkveranstaltungen und in Schulklassen zu sprechen und 2011 ihre Memoiren „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ zu schreiben. 2016 lernt sie die 1963 in Bremen geborene, mit dem Publizisten Michel Friedman verheiratete und 2004 zum Judentum übergetretene Journalistin Bärbel Schäfer kennen, mit der sie sich mehrmals trifft. Im Ergebnis der Gespräche ist das vorliegende Buch entstanden.

Zwei Frauen aus zwei Generationen und zwei Erfahrungswelten. Bärbel Schäfer erforscht nicht nur die Geschichte einer Auschwitzüberlebenden, sondern auch die Geschichte ihrer eigenen Familie und deren Verstrickungen in den Nationalsozialismus. Das ist also kein Zeitzeugenbericht aus der Monoperspektive, und das macht das Buch so einmalig. Beeindruckend Eva Szepesis Schärfe der Beobachtungen, die gekonnte Einordnung der Geschehnisse und die Anschaulichkeit des Erlebten – erschütternde Berichte einer gedemütigten und verletzten Frau. Gleichermaßen beeindruckend Bärbel

Schäfers Blick in die Familiengeschichte, die Konfrontation mit den Eltern und Großeltern, die in der Nazizeit mitmachen, wegschauen und schweigen. „Ich habe mich entschieden hinzuschauen. Ich gucke sie mir an, meine schwarzen Löcher, die abgeschnittenen Biografien, die Legendentusche … Ihre Lügen sind in mir verwachsen, reingekrochen in die Kindheitstage im Nachkriegswirtschaftswunderland.“ (S. 27) Eine gelun-gene Kombination von Berichten über Gewalt, Schrecken und Angst, aber auch über Freundschaft, Toleranz und Respekt. Ein Buch, das sehr berührt und sehr zu empfehlen ist. Auch eine Schullektüre der besonderen Art.

 

Nachrichten aus dem gelobten Land. Die Briefe der Anuta Sakheim / Hrsg. Katharina Pennoyer und der Initiative 9. November. Frankfurt am Main: Weissbooks, 2017. 91 S. ISBN 978-3-86337-122-7. € 14.00

Dieses Büchlein schildert anhand von Briefen und zahlreichen Hintergrundinformationen das entbehrungsreiche, viel zu kurze Familienleben von Anuta Sakheim geb. Plotkin (1896– 1939), ihrem Ehemann, dem Schriftsteller, Regisseur und Dramaturg Arthur Sakheim (1880–1931) und ihrem gemeinsamen Sohn Ruben (geb. 1923).

Arthur Sakheim verstirbt 1931 an einer Lungenentzündung, Anuta wird nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als jüdischer Angestellten gekündigt, Mutter und Sohn emigrieren nach Palästina. Dort arbeitet Anuta als erste weibliche Taxifahrerin in Jaffa, erkrankt lebensgefährlich, schickt Ruben zur Schwägerin in die USA – nimmt sich 1939 das Leben. Ruben, der sich in den USA George nennt, kehrt 1944 als Soldat der 104th Infantry Division nach Deutschland zurück, ist an der Befreiung des KZ Nordhausen beteiligt und arbeitet bei den Nürnberger Prozessen als Dolmetscher. Dies alles erfährt der Leser aus mehreren Begleittexten. Im Mittelpunkt aber stehen Auszüge aus Briefen, die Anuta an ihren Sohn in die USA schreibt, beginnend am 17. März 1938 und endend am 2. Juni 1939. Es sind Berichte über Schikanen durch die Briten während der Zeit des Mandats, über ihren Alltag in einem fremden Land und ihre persönlichen Sorgen und Nöte und über ihre große Sehnsucht nach ihrem Sohn. Ein sehr kleines, sorgfältig ediertes, berührendes Buch.

 

»Schießen Sie mich nieder!« Käte Frieß` Aufzeichnungen über KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945 / Hrsg. Christin Sandow. Berlin: Lukas Verl., 2017. 234 S. (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Reihe B: Quellen und Zeugnisse. Band 9) ISBN 978-3-86732-273-7. € 19.80

Die in Stettin geborene Stenotypistin Käte Solms (1921–1997) heiratet 1940 den Lehrer Georg Frieß, beide sind nach nationalsozialistischem Recht „Geltungsjuden“, da je ein Elternteil nichtjüdisch ist. Im November 1941 werden sie von Nürnberg nach Riga deportiert. Sie überstehen den Aufenthalt in verschiedenen Lagern in Lettland, werden im Februar 1945 nach Hamburg „evakuiert“ und aus dem dortigen Polizeigefängnis auf einen Fußmarsch in das „Arbeitserziehungslager Nordmark“ bei Kiel getrieben. Anfang Mai 1945 wird Käte vom Dänischen Roten Kreuz befreit, im Sommer erfährt sie, dass ihr Mann in Bergen-Belsen umgekommen ist. Im Herbst 1945 emigriert sie nach Kalifornien.

Käte Frieß bringt ihre Erlebnisse aus den Jahren 1941 bis 1945 nach ihrer Rettung im schwedischen Holsbybrunn vom 22. Juni bis zum 11. Juli 1945 zu Papier. Sie hinterlässt ein 136seitiges Typoskript, das hier erstmals vorgelegt wird. Es wird von Christin Sandow herausgegeben und um ein ausführliches Kapitel zur Familiengeschichte des Ehepaares Frieß, den Versuch einer historischen Einordnung des Berichtes von Käte Frieß, eine kommunikative Analyse (mit einem vorzüglichen Abschnitt über Holocaustliteratur als literarische Gattung!) und zahlreiche Abbildungen ergänzt. Eine großartige Leistung! Es gibt m.E. keinen so umfangreichen und detaillierten Augenzeugenbericht über die Erlebnisse in den Lagern aus der Perspektive der Opfer. Käte Frieß schreibt u.a. über die Haftbedingungen in den Baracken, über die Grausamkeiten wie die Massenerschießungen 1941 und 1942, über das Leben im Ghetto und über die Haftzeit in Hamburg.

Das Zitat entstammt dem Bericht über den Marsch nach Kiel: „Ich schleppte mich vorwärts und war immer dicht dran, zu dem SS-Mann zu gehen und ihn zu bitten: »Schießen Sie mich nieder. Ich kann nicht mehr«.“ (S. 123)

 

Germaine Tillion: Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie / Übers., hrsg. und mit einem einführenden Essay von Mechthild Gilzmer, ausgewählt und mit einem Nachwort von Tzvetan Todorov. Berlin: AvivA Verl., 2015. 330 S.

ISBN 978-3-932338-68-7. € 22.00

Germaine Tillion (1907–2008) gilt als eine der großen französischen Intellektuellen. Ihr Leben und Schaffen ist eng mit der Geschichte Frankreichs, Deutschlands und Algeriens im vergangenen Jahrhundert verknüpft, mit ihren Handlungen und Ideen beeinflusst sie auch die großen französischen Philosophen Michel Foucault und Roland Barthes. Das vorliegende Buch versammelt autobiographische Schriften aus den verschiedenen Stationen ihres 100jährigen Lebens, aus dem Nachlass von Tzvetan Todorov sorgfältig zusammengestellt, ediert, mit einem Nachwort versehen und um einen einführenden Essay von Mechthild Gilzmer ergänzt. Als junge Ethnologin forscht Germaine Tillion von 1934 bis 1940 im Aurès-Gebirge in Algerien über das abgeschiedene Berbervolk der Chaouis. In die Heimat zurückgekehrt, geht sie in den französischen Widerstand, wird Kommandantin der ersten sich im besetzten Gebiet bildenden Gruppe der Résistance, der Groupe du Musée der l`Homme. Sie beschaffen Informationen und befreien Gefangene. Im August 1942 wird Germaine Tillion infolge einer Denunziation verhaftet, im Oktober 1943 in das KZ Ravensbrück deportiert und im Frühjahr 1945 durch die „weißen Busse“ des Schwedischen Roten Kreuzes gerettet. Nach dem Krieg widmet sie sich der Erforschung des Zweiten Weltkrieges. Erinnerungs- und Trauerarbeit leistet sie mit ih-ren berühmt gewordenen wissenschaftlichen Ravensbrückstudien („klarsichtig analysierend“ S. 7).

Das ist aber noch nicht das Ende ihrer politischen Aktivitäten. In der Algerienkrise suchen die Aufständischen ihren Rat, sie bemüht sich um eine friedliche Lösung und vermittelt schließlich zwischen der Befreiungsbewegung und der französischen Regierung. Danach setzt sie ihre Forschungstätigkeit fort. Eine späte, sehr gelungene Würdigung! Erstaunlicherweise ist sie Corinna von List in ihrem großartigen Buch „Frauen in der Résistance“ nur eine ganz kurze Notiz wert (vgl. fachbuchjournal 2(2010) 5, S. 54-55). 2015 wird Germaine Tillion, begleitet vom damaligen Staatspräsidenten Françoise Hollande, im Panthéon in Paris beigesetzt.

 

Liesel Binzer: Ich prägte mein Leben in – wegen – trotz Theresienstadt. Berlin: Hentrich & Hentrich Verl., 2017. 83 S („Bittere Vergangenheit – Bessere Zukunft?“ des Child Survivors Deutschland e.V. Band 2) ISBN 978-3-95565-212-8. € 12.90

Die in Münster 1936 geborene Jüdin Liesel Michel wird fünfjährig in das Kinderheim des KZ Theresienstadt verschleppt, überlebt den Holocaust (von den 15.000 Kindern überleben nur 150), wird 1948 eingeschult, legt 1957 das Abitur ab und wird Betriebsprüferin beim Finanzamt. 1960 heiratet sie den Juden Hans-David Binzer (1931–2005) und zieht drei Kinder groß. „Meine bitteren Erfahrungen aus Theresienstadt übertrugen sich in ganz unterschiedlicher Weise auf das Verhalten von mir und meinen Töchtern als eine Art Lebensfurcht.“ (S. 29) Bittere Erfahrungen macht Liesel Binzer auch nach 1945 im Kampf um Anerkennungen und Rückerstattungen im deutschen Verwaltungsapparat, hier sind noch viele Antisemiten beschäftigt.

Um die Ereignisse zu verarbeiten, wird Liesel Binzer Mitglied im Zeitzeugenteam und im Vorstand des Vereins der Child Survivors Deutschland e.V. Sie schildert in Vorträgen vorwiegend in Schulen und in diesem Büchlein ihre Erlebnisse im Nationalsozialismus. Dem Buch sind Interviews mit ihren drei Kindern und einem ihrer sechs Enkel beigefügt. Am Schluss befindet sich ein Kapitel über das KZ Theresienstadt. Ein wichtiges Buch mit vielen Anregungen zur Vermittlung von Kenntnissen über den Holocaust in den Konzentrationslagern.

 

Sandra Wiesinger-Stock: Hannah Fischer – „Das Exil war meine Universität“. Schülerin Anna Freuds, Kinderpsychologin und psychoanalytisch orientierte Pädagogin. Wien: mandelbaum verl., 2016. 131 S. (Exil-Leben. Dokumente und Materialien. Buchreihe der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. Band 3) ISBN 978-3-85476-511-0. € 16.90

Eine Hommage an Hofrätin Dr. Hannah Fischer, die wenige Wochen vor der Präsentation dieser Biographie am 28. September 2016 stirbt!

Sandra Wiesinger-Stock hat eine beeindruckende Biographie verfasst, mit Anmerkungen und zahlreichen Fotos und Kopien von Dokumenten versehen.

Hannah Fischer entstammt einer mittelständischen jüdischen Familie in Wien, der Vater ist Rabbiner, die Mutter ist Journalistin und aktive Kommunistin. Hannah wird wenige Monate nach dem „Anschluss“ Österreichs in die Emigration nach England geschickt. Nach ihrem Schulabschluss ist sie für zwei Jahre bei Anna Freud als Trainee in den Hampstead War Nurseries (diese Zeit bezeichnet sie als „meine Universität“) und später im Austrian Day Nursery. 1946 ist Hannah eine der ersten Rückkehrerinnen nach Wien. Sie lässt sich zur Kindergärtnerin ausbilden, studiert an der Wiener Universität Pädagogik, Psychologie und Philosophie und wird 1960 promoviert. 1958 beginnt sie als Kinderpsychologin und Erziehungsberaterin am Zentralkinderheim der Stadt Wien, ab 1967 unterrichtet sie an der Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen in Wien, deren Direktorin sie 1984 wird, 1990 geht sie in den Ruhstand. Weitere Vorhaben sind u.a. die Einführung eines Anna-FreudKindergartens in Wien und ein Hilfsprojekt zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen für die Westsahara. Hannah Fischer ist eine Schülerin von Anna Freud und gilt als Pionierin der psychoanalytischen Pädagogik in Österreich. Hoch geehrt geht 2016 ein ereignisreiches, ein unabhängiges Leben zu Ende. „So denke ich, wenn man eine Linie findet im Leben, dann kann man, auch wenn man entwurzelt wurde, dennoch ein erfülltes Leben haben.“ (S. 122)

 

Pionierin der Kinderzüge. Erinnerungen an Mathilde Paravicini (1875–1954) / Hrsg. Helena Kanyar Becker. Basel: Schwabe Verl., 2017. 127, 25 S. (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel. Bd. 45) ISBN 978-3-7965-3731-8. € 32.00

Dies ist eine zu einer Ausstellung von 2014 unter dem Titel Vergessene Baslerin Mathilde Paravicini nachgereichte Publikation, herausgegeben von Helena Kanyar Becker, die für ihre viel beachteten Arbeiten und Ausstellungen über die schweizerische Flüchtlingspolitik und die humanitären Aktionen in der Schweiz 2010 mit dem Wissenschaftspreis der Stadt Basel ausgezeichnet wird. In eben diesem Jahr erscheint auch der Band Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948 (fachbuchjournal 4(2012)5 S. 77), für den sie verantwortlich zeichnet. Das Buch handelt von den heute nahezu vergessenen Protagonistinnen der Schweizer Kinderhilfe, die sich freiwillig für verfolgte und kriegsgeschädigte Kinder während der beiden Weltkriege und zwischen diesen engagieren. Die Beiträge erzählen von der humanistischen Tradition der Schweizer Kinderhilfe, darunter finden sich auch die Aktivistinnen der Kinderhilfe mit der Krankenschwester Mathilde Paravicini (1875–1954). In dem Begleitbuch zur Ausstellung von 2014 erinnern Angehörige, Zeitzeugen und Mitstreiter an Mathilde Paravicini, „Pionierin der Kinderzüge“, ergänzt um ein Kapitel über die Geschichte des Basler Stammes der Paravicinen und zahlreiche Dokumente.

Die 1875 in eine Patrizierfamilie hineingeborene Mathilde lernt Schneiderin in Paris und gibt bis 1938 Schneiderkurse in Basel. Von 1914 bis 1918 betreut sie Flüchtlinge aus den französischen Kampfgebieten und initiiert 1917 die „Schweizerhilfe für Auslandsschweizerkinder“, organisiert in den 1920er Jahren mit der Stiftung Pro Juventute die „Kinderzüge“ für Tausende Kinder aus Europa und leitet von 1934 bis 1948 erneut die „Kinderzüge“, von 1942 bis 1945 betreut sie Flüchtlinge auf Bahnhöfen usf.

Für diese unermüdliche Arbeit wird sie 1922 als „Ritter der Ehrenlegion“ ausgezeichnet, 1942 Ehrendoktorin der Medizinischen Fakultät der Universität Basel, übrigens als erste Frau, und 1946 „Offizier der Ehrenlegion“. 1964 wird zehn Jahre nach ihrem Tod in Basel eine Straße nach ihr benannt, die erste in Basel, die den Namen einer Frau erhält.

 

Micheline Bood: Die doppelten Jahre. Tagebuch einer Schülerin. Paris 1940–1944. Frankfurt am Main: Weissbooks, 2017. 392 S. ISBN 978-3-86337-139-5. € 22.00

Micheline Bood (1926–1980) ist Juristin, Journalistin und Autorin eines Buches über Louise Colet, der langjährigen Geliebten von Gustave Flaubert, mit der sie verwandt ist. Als 14jährige beginnt sie am 1. April 1940 kurz vor der Invasion der deutschen Wehrmacht in Frankreich ein Tagebuch, das sie über die gesamte Dauer der deutschen Besatzung und darüber hinaus bis zum 21. Oktober 1944 führt: „Jetzt weiß ich es. Nie mehr werde ich die Person sein, die ich vor dem Krieg war.“ (S. 393) 1974, 30 Jahre danach, erscheint dieses Tagebuch unter dem Titel „Les années doubles“, mehr als 70 Jahre müssen vergehen, ehe eine deutsche Übersetzung vorliegt, leicht gekürzt, durch Fußnoten ergänzt und um ein Vorwort von Daniel Cohn-Bendit bereichert.

Das Tagebuch ist „ein besonderes und außergewöhnlich facettenreiches zeitgenössisches Dokument der Zeit der deutschen Besetzung in Paris. Micheline Bood informiert sich akribisch über den Kriegsverlauf und schildert bis ins Detail die Auswirkungen der deutschen Besatzungspolitik auf das Leben in Paris.“ (S. 10) „Niemand kann mich daran hindern, das, was ich denke, in dieses Heft zu schreiben“. (S. 39) Sie steht auf der Seite der Franzosen, die gegen die Besatzer kämpfen, nimmt an verbotenen Demonstrationen teil und wettert gegen die Kollaborateure. Im Mittelpunkt stehen Erlebnisse aus Familie, Schule und Freundeskreisen, sie spricht fließend Englisch und sehr gut Deutsch, sie kommentiert Bücher und Filme, sie verliebt sich. Das alles ist gemischt mit Erkenntnissen aus der Politik (7.7.1940: „Im Grunde befindet sich Frankreich im Krieg gegen England. Was ist das für eine Bande von Dummköpfen, diese Typen aus der Regierung.“ S. 37), die sich häufig aus den Einschränkungen und den Schwierigkeiten, den Alltag zu organisieren, ergeben.

Ein wichtiges authentisches Buch über den Alltag im besetzten Paris aus der Sicht eines Backfischs (erinnert sei hier an das Buch Backfisch im Bombenkrieg, ein Tagebuch des 16jährigen Berliner Lehrmädchens Brigitte Eicke aus den Jahren 1942–1945. (vgl. Rez. in fachbuchjournal 5(2013)3, S. 38)

 

Woher der Wind wehte. Familienchronik und Exiltagebücher der Charlotte Baerwald, geb. Lewino / Hrsg. Moritz von Bredow. Berlin: Hentrich & Hentrich Verl., 2017. 590 S. ISBN 978-3-95565-206-7. € 39.00

Der Herausgeber und Begleiter dieses umfangreichen Buches Moritz von Bredow gibt 2012 eine Biographie über Grete Sultan (unter dem Titel Rebellische Pianistin, bei Schott Music Mainz) heraus, deren Tante Charlotte Baerwald ihre Familienchronik und Exiltagebücher verfasst.

Dem Verlag Hentrich & Hentrich ist es mit der Publizierung der Aufzeichnungen von Charlotte Baerwald geb. Lewino (1870–1966) gelungen, eine heute weithin unbekannte Person kennen zu lernen, die den Leser durch ein bewegtes Familienleben führt – in Form einer in den 1930er Jahren verfassten umfangreichen Familienchronik vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Nationalsozialismus und mittels Tagebuchaufzeichnungen auch darüber hinaus ins Exil nach Italien und in die Schweiz (1937 bis 1939) und in die USA (1943 bis 1945). Das Buch ist reich bebildert und enthält die Stammbäume beider Familien im vorderen und hinteren Vorsatz. Leider fehlt ein Personenregister, um sich in den weit verzweigten Familiengeschichten und den umfangreichen Ergänzungen des Herausgebers immer zurechtzufinden. Charlotte Lewino erzählt die Geschichte ihrer aus der Pfalz stammenden Familie Leoni (mütterlicherseits) und Lewino (väterlicherseits) und die ihres Mannes Arnold Baerwald vor dem Hintergrund der politischen, historischen und soziokulturellen Entwicklung in Deutschland über fast 150 Jahre. Es sind Schilderungen des Alltagslebens der deutschen Juden am Beispiel ihrer Vorfahren. Sichtbar wird das anfangs kaum wahrnehmbare schleichende und später aggressive Eindringen antisemitischen und schließlich auch nationalsozialistischen Gedankengutes in diesen Alltag.

Charlotte ist die Tochter einer früh verwitweten alleinerziehenden Mutter, sie studiert Klavier bei Eugenie und Clara Schumann; „Nervosität und Selbstzweifel lassen eine Karriere als Konzertpianistin nicht zu.“ (S. 18). Sie heiratet den Frankfurter Arzt Arnold Baerwald (1866–1920), von 1915 bis zu seinem Tode Leiter der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses der Israelitischen Gemeinde, und widmet sich ihrer Familie, aus der Ehe gehen zwei Töchter hervor. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie auf Hilfe und Unterstützung der Brüder ihres Mannes angewiesen. Sie flieht vor nationalsozialistischer Verfolgung, zuerst in die Schweiz, später in die USA, sie kehrt nach dem Krieg nach Europa zurück und verstirbt im Alter von 95 Jahren in St. Gallen.

Charlotte berichtet von den aus den Familien Lewino und Baerwald entstammenden bedeutenden Wissenschaftlern, Juristen, Kaufleuten und Künstlern, und sie schildert ihre Begegnungen mit Politikern, Frauenrechtlern, Schauspielern und Musikern.

„Der narrative, lebendige und feinsinnige Schreibstil…, verbunden mit der ihr eigenen Detailtreue und historischen Genauigkeit, macht diese Familienchronik zu einem lesenswerten, überaus informativen und wichtigen Dokument.“ (S. 15) „Möge die Herausgabe der Aufzeichnungen … eine große, interessierte Leserschaft berühren und bereichern.“ (S. 587) Dem kann sich der Rezensent anschließen.

 

Vítěslava Kaprálová(1915–1940). Zeitbilder, Lebensbilder, Klangbilder / Hrsg. Christine Fischer. Zürich: Chronos Verl., 2017. 192 S. (Zwischentöne. Band 2) ISBN 978-3-0340-1383-3. € 32.00

Über ein sehr kurzes Komponistinnenleben berichtet zu Ehren ihres 100. Geburtstages der Band Vítěslava Kaprálová (1915–1940). Zeitbilder, Lebensbilder, Klangbilder, herausgegeben von der Musikwissenschaftlerin Christine Fischer. Es ist der Versuch, in elf Beiträgen Vítěslava Kaprálová politisch und musikwissenschaftlich einzuordnen.

Die Tochter des Pianisten, Komponisten und Professors am Konservatorium für Musik in Brünn Václav Kaprál (1889– 1947) beginnt bereits im Alter von neun Jahren unter Anleitung ihres Vaters zu komponieren, studiert von 1930 bis 1935 am Brünner Konservatorium Komposition und Dirigieren und setzt ihre Ausbildung an der Meisterschule des Konservatoriums in Prag und an der École de Musique in Paris fort. 1937 entsteht ihre Vojenská Symfoniets (Militärsinfonietta) op. 11, deren Uraufführung die Tschechische Philharmonie im gleichen Jahre unter ihrem Dirigat spielt und für die sie mit dem Smetanapreis ausgezeichnet wird. Sie widmet dieses Stück dem Präsidenten Edvard Beneš. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 geht sie nach Paris ins Exil, heiratet den Sohn des Malers und Graphikers Alfons Mucha, den Schriftsteller Jiří Mucha (1915–1991). Wegen der bevorstehenden Einnahme von Paris durch die deutsche Armee wird

Vítěslava nach Montpellier evakuiert. Dort stirbt sie im Alter von 25 Jahren an Tuberkulose. Sie hinterlässt über 50 Werke, unter denen sich Liederzyklen, Melodramen und kammermusikalische Werke befinden. Sie „stellt ihre Kompositionen von klein an in den Dienst der Nation“. (S. 109) Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet ihr Werk weitgehend in Vergessenheit. Erst seit den 1990er Jahren werden ihre Kompositionen wiederaufgeführt.

Ein Buch über die beeindruckende, sehr kurze Karriere einer außergewöhnlichen jungen Frau.

 

Kristine von Soden: »Und draußen weht ein fremder Wind…« Über die Meere ins Exil. Berlin: AvivA Verl., 2016. 238 S. ISBN 978-3-932338-85-4. € 19.90

»Und draußen weht ein fremder Wind / Singt eine fremde Melodie, / Ein fremdes Lied, ich hört` es nie, / Ein Lied, das mich nicht einbezieht« (Lessie Sachs). Was für ein Gedicht für dieses außergewöhnliche Buch, das nach umfangreichen Recherchen in Archivmaterialien, Tagebüchern, literarischen Zeugnissen und Briefen und in Publikationen der jüdischen Hilfsorganisationen und der jüdischen Tages- und Wochenzeitungen sehr einfühlsam geschrieben und reich bebildert und vorzüglich gestaltet vor uns liegt.

Kristine von Soden erforscht akribisch die Schiffspassagen von jüdischen Emigrantinnen aus dem Zeitraum 1933 bis 1941. Sie beschäftigt sich nicht mit den Erfahrungen in der Fremde, sondern mit den Wegen über die Meere dorthin und versucht an zahlreichen Beispielen bekannter und unbekannter jüdischer Emigrantinnen Antworten auf folgende Fragen zu geben: „Auf welchen Schiffen und von welchen Häfen aus traten die Verfolgten ihre Reisen ins Ungewisse an? Wer half ihnen bei der Beschaffung von Pässen, Aus- und Einreisepapieren, Transitvisa, Affidavits und Schiffskarten? Wie liefen die Gepäcktransporte ab? Wer leistete finanzielle Unterstützung, wer fachkundigen Rat?“ (S. 8)

Die Schicksale sind nicht nacheinander angelegt, sondern in die politischen Ereignisse eingebunden – die Reichsfluchtsteuer 1931, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und die ersten Judenerlasse 1933, die Nürnberger Gesetze 1935 und die Novemberpogrome 1938 bis hin zum deutschlandweiten Ausreiseverbot für Juden 1941.

Zu den porträtierten Jüdinnen gehören u.a. die Kinderärztin Hertha Nathorff, die Architektin Lotte Cohn, die Dichterinnen Mascha Kaléko und Else Lasker-Schüler, die Schauspielerin Ruth Klinger, die Journalistin Gabriele Tergit, die Schriftstellerinnen Anna Seghers (ihr 1941 und 1942 geschriebener und 1944 veröffentlichter Roman „Transit“ ist hoch aktuell und großartig verfilmt) und Monika Mann und die Malerin Anna Frank-Klein.

Ein bisher in der Geschichte der Emigration von 1933 bis 1945 kaum berücksichtigtes Thema!

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Biblio theksdirektor an der Berg akademie Freiberg und von 1989 bis 1990 General direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. dieter.schmidmaier@schmidma.com

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