Politik, Recht

Nachlese zum Weimarer Verfassungsjubiläum

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2021

Jubiläen sind Gelegenheiten der vergegenwärtigenden Erinnerung, der Feier, der aufgeklärten Retrospektive und auch der Bilanz. In der nüchternen Aufstellung der Aktiva und Passiva bildet sich die Lage und Leistungsfähigkeit des Jubilars ab. Dies gilt auch für Verfassungsjubiläen.

Waldhoff / Dreier, Weimars Verfassung. Eine Bilanz nach 100 Jahren. Göttingen: Wallstein Verlag, 1. Aufl. 2020, Hardcover, 398 S., ISBN 978-3-8353-3657-5, € 29,90.

Der von Horst Dreier und Christian Waldhoff herausgegebene Tagungsband „Weimars Verfassung“ dokumentiert die Beiträge einer interdisziplinären Tagung, die in der Berlin-Brandenburgischen Akademie im Jubiläumsjahr stattfand. Die Beiträge von Juristinnen und Juristen sowie Historikerinnen und Historikern zeichnen ein buntes Panoptikum der Weimarer Republik und ihrer Verfassung. Die Beiträge dokumentieren, dass das alte Narrativ des Scheiterns der Republik auch aufgrund der Konstruktionsfehler ihrer verfassungsrechtlichen Ordnung abgelöst wird durch eine geradezu optimistische Wiederentdeckung des Weimarer Verfassungssystems, seiner Innovation, sozialen Errungenschaften und seines beträchtlichen Entwicklungspotenzials. Der Band widmet sich sowohl der Rekonstruktion der zeitgenössischen Verfassung, den Kontroversen in der Weimarer Republik, die den Auftakt bildet, als auch ganz unterschiedlichen und heterogenen Perspektiven auf die lange, kurze Weimarer Verfassungsperiode.

Jörn Leonhard ordnet die Weimarer Verfassungsgebung in die Außenperspektive der völkerrechtlichen Friedensbemühungen und des Versailler Vertrages ein. Christoph Schönbergers Text kontextualisiert diesen Prozess, indem er das Weimarer Verfassungswerk im Kontext der nahezu zeitgleich entstehenden Verfassungen der europäischen Staaten, insbesondere im Fokus auf Mittel- und Südosteuropa, erörtert. Fabian Wittreck spiegelt diese Pluralität europäischer Verfassungen in der Binnenperspektive der Weimarer Ordnung als eine föderale Ordnung und erläutert gekonnt die Verfassungen der Länder, die ganz unterschiedliche Akzente in die Weimarer Verfassungsgebung einspeisen. Almut Neumann schließlich wendet sich der verfassungsrechtlichen Unwucht der Weimarer Republik zu, der Herausforderung, den Koloss Preußen verfassungsrechtlich und föderal einzuhegen. Christoph Gusy entfaltet die demokratische Ordnung der Weimarer Republik und die Interpretation dieser durch die demokratische Weimarer Staatsrechtslehre. Anna Bettina Kaiser wendet sich dem Gemeinplatz und bekanntesten Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung zu, nämlich dem schwierigen Verhältnis zwischen Reichspräsident und Reichstag. Florian Meinel entdeckt die soziale Dimension der Weimarer Verfassung und insbesondere die soziale Dimension ihres Grundrechtsteils, der selbst heute in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik seinesgleichen sucht. Der Beitrag von Matthias Jestaedt macht überhaupt klar, dass die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung vermutlich zu den unterschätzten Bereichen der Verfassungsentwicklung gehören. In drei Miniaturen erarbeiten sich Gabriele Britz die Gleichbehandlung und Gleichberechtigungsgebote der Weimarer Reichsverfassung, Hans-Michael Heinig das religionsverfassungsrechtliche bzw. staatskirchenrechtliche Ordnungsmodell der Weimarer Republik und die es begleitenden gesellschaftspolitischen Diskurse und Christian Waldhoff gemeinsam mit Holger Grefrath die Kommunalverfassung, zu der selten etwas gesagt wird. Andreas Wirsing wiederum relativiert den allzu nationalgeschichtlichen Eindruck des Weimarer Sonderwegs, in dem er die Stabilität der Weimarer Verfassungsordnung vergleichend untersucht. Der Band wird beschlossen von dem Abdruck der Weimarer Reichsverfassung und einem ausführlichen Register. Beide erleichtern die Arbeit mit dem Buch ganz erheblich. Wenn es etwas Verbindendes in den Beiträgen gibt, dann ist es das, was der Band nicht zeigt: wer auf der dokumentierten Tagung den Diskussionen zwischen Historikern und Juristen folgen konnte, der bemerkte noch immer erhebliche disziplinspezifische Unterschiede in den Bewertungen und Zugängen zur Weimarer Verfassungsordnung. Interdisziplinäre Bände wie dieser sind nötig. Im besten Sinne ein Lesebuch, das gerade durch seine Vielstimmigkeit anregt.

 

 

Austermann, Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2020, Hardcover, 338 S., ISBN 978-3-412-51985-8, € 30,00.

Einem institutionellen Zugriff ist die Studie Philipp Austermanns „Der Weimarer Reichstag“ verpflichtet. Das Buch zeichnet die Geschichte des Weimarer Reichstages und damit einen Ausschnitt der Parlamentarismusgeschichte nach. Sie zeigt, dass sich im Weimarer Parlament – man möchte fast ergänzen selbstverständlich – die Probleme der jungen Republik widerspiegeln. Die heftigen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen prägten nicht nur die Politik auf der Straße, sondern natürlich auch die Politik in den Parlamenten. Der Band ist ein Beitrag zur Verfallsgeschichte der Weimarer Republik, er fokussiert auf die parlamentarischen Akteure in der Spätphase der Republik. Innovativ ist diese Fokussierung auf die Institution des Parlaments, innovativ ist die konsequente Perspektive auf den proletarischen Alltag in der Republik. Ein Parlament ist immer nur so gut wie seine Parlamentarier. Deutlich wird in der Spätphase der Republik der institutionelle Gegensatz zwischen Reichstag und Reichspräsident, den Austermann bis in die Abstimmungsergebnisse einzelner Kommentare nachzeichnet und indem er die Vorgänge, insbesondere auch die Aufhebungsanträge zu Notverordnungen, nachvollzieht.

Deutlich wird die Unfähigkeit im Parlament Mehrheiten zu organisieren, deutlich wird der schleichende Verlust des parlamentarischen Rückhalts der Reichsregierungen und die Verabschiedung eines proletarischen Regierungssystems hin in eine präsidiale Demokratie. Die Studie ist quellenreich unterlegt und doch in leicht zugänglicher Sprache geschrieben. Ihre Vorzüge begründen allerdings in der Lektüre zugleich einen erheblichen Nachteil: durch die Konzentration auf die Republik und den Parlamentarismus in der Krise bleiben wesentliche politische Akteure blinde Flecken. Die außerparlamentarischen Kontexte politischer Entscheidungen in der Spätphase der Republik bleiben eher undeutlich entwickelt. Insoweit bietet das Buch die Nacherzählung des Bekannten und der bekannten Verlustgeschichte immerhin aus einer neuen Perspektive. Nun beginnt der Weimarer Parlamentarismus im Juni 1920 – hier bleiben weite Teile der Institutionsgeschichte des Parlaments unerzählt. Der Lesende sollte sich dieses Abbildungsdefizits bewusst sein. In diesem Bewusstsein kann sich dann aber eine aufschlussreiche Nacherzählung Weimarer Parlamentsgeschichte entfalten. ˜

Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) hat einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verwaltungsrecht, Religionsverfassungsrecht und Kirchenrecht sowie Steuerrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen inne. Er ist Direktor des Instituts für Recht und Religion und Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht. In der Forschung ist Droege im Staats- und auch im Verwaltungsrecht breit ausgewiesen. In seinen Publikationen zum Finanzverfassungs- und Steuerrecht sowie zum Kirchen- und Religionsverfassungsrecht spiegeln sich seine Forschungsinteressen wider.

michael.droege@uni-tuebingen.de

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