Jürgen Neitzert: Muslime und Christen. Ein franziskanischer Blick auf den Islam. Würzburg: Echter-Verlag, 2017. 100 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-429-04332-2. € 9,90
Das schmucke Büchlein ist Band 13 der Reihe „Franziskanische Akzente“, die zeigen will, wie dem nach „Sinn und Glück“ suchenden Menschen „Leben heute gelingen kann“ (Seite 2). Spirituell-erbauliche Anregungen? Der Text endet tatsächlich mit dem Wort „bauen“, allerdings nicht individualistisch, sondern auf mögliche „Erfahrungen miteinander“ ausgerichtet, die „helfen, gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen“ (94). Jürgen Neitzert, 1959 geboren, auf dem Buchrücken vorgestellt als examinierter Krankenpfleger, berichtet im Text (8487): Aus Anlass der Geburt des heiligen Franziskus vor achthundert Jahren hielten im Oktober 1982 in Assisi dreizehn Franziskaner aus zehn Ländern mit muslimischer Bevölkerung eine Konferenz über den Islam (96 Anmerkung 21) und sandten einen Brief an alle Franziskaner aus: Franziskus habe seit seiner Begegnung mit dem Sultan in Ägypten 1219 erhofft, die unter Nichtchristen gehenden Brüder würden „Selbstverteidigung und Widerspruchsgeist sowie jeden Wunsch, die Andersgläubigen durch Argumente zu besiegen, und jedes Suchen nach Macht vermeiden“; das war leider im Verlauf der Geschichte nicht immer so – und alle durch uns Verletzten bitten wir um Entschuldigung –, doch es ermutige, „gegenseitiges Verstehen und Achtung zueinander“ zu fördern, so dass „Gerechtigkeit und Frieden“ wachsen können. Die Kölnische Franziskanerprovinz gründete daraufhin eine Arbeitsgemeinschaft „Gerechtigkeit und Frieden“, zu der er, Neitzer, seither gehöre. (Vier Jahre nach der Franziskanerkonferenz, am 27. Oktober 1986, lud Papst Johannes Paul II. religiöse Leiter zum Interreligiösen Friedenstag nach Assisi ein.) Ab 1991 studierte Neitzer Islamwissenschaft und interkulturelle Pädagogik an der Universität zu Köln, nicht etwa zwecks Höhersteigen auf Stufen sozialen Ansehens, sondern, typisch Minderbruder (im Ordo Fratrum Minorum, OFM), um für seinen unspektakulären Dienst auch intellektuell gerüstet zu sein. Vertrautheit mit muslimisch geprägtem Leben gewann er ab 2004 zwei Jahre lang in Istanbul (29). Seinen Tageslauf im sozialen Brennpunkt Köln-Vingst schildert er im Vorwort (9-11) am Beispiel des 27. Januar 2016: Von der Franziskanergemeinschaft aus mit dem Fahrrad unterwegs, begleitet er muslimische und andere Migrationsjugendliche bei der Anmeldung zur Schule, der Bewerbung um Lehrstellen und dem Planen eines interreligiösen Abends sowie eines Fußballturniers. Aufmerksames Mitleben des Alltags der anderen versteht er seit 1994 als seine Aufgabe (88, 90-91). All das erfährt man bloß nebenher. Hauptsache ist die konzentrierte, ruhige und genaue, Kenntnisdefizite abbauende Information über den Islam.
Der alleinige Gott, Allah – der mit Neunundneunzig Schönsten Namen Angerufene –, sandte vom Himmel herab sein Wort durch den Erzengel Gabriel auf Mohammed (570-623). Dieser empfing als „Prophet“, Sprecher, über zwanzig Jahre Gottes Wort auf Arabisch, so dass es wortgetreu aufgeschrieben werden konnte in einem Buch. „Lies [aus Koran-Sure 96]: Dein Herr ist der Edelmütigste, der durch das Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste.“ (39) Den Koran ergänzt Sunna, das überlieferte Maßgebliche. Eine Aufzeichnung Mitte/Ende des 9. Jahrhunderts erzählt als erlebte Begebenheit: Plötzlich trat in Gestalt eines weiß gewandeten Mannes mit pechschwarzem Haar Gabriel zu einer Gruppe um Mohammed, setzte sich zu ihm Knie an Knie und sprach: Berichte mir über Islam! Als Mohammed die fünf Säulen nannte, auf denen das Leben in der Hingabe ruht – Gott als den Einen bekennen und Mohammed als seinen Gesandten; täglich fünfmal sich gen Mekka beugen im Gebet; abgeben aus den Mitteln, die man hat, denen, die Zugabe benötigen; im Monat Ramadan tagsüber fasten; zum Hause Gottes in Mekka pilgern –, entgegnete der Mann: Du hast recht gesprochen. Berichte mir über Iman! Mohammed erwiderte: Wir glauben an Gott, Seine Engel, Seine Bücher, Seine Gesandten und an den Jüngsten Gerichtstag sowie die Vorherbestimmung zu Gutem oder Bösem. – Recht gesprochen. Berichte mir über Ihsan! – Tun, was gut ist vor Gott. (40-41, cf. 43-45)
Gabriel forderte keinen Bericht über Dschihad, Anstrengung: sich voll einsetzen im Abwehrkampf, und das nicht nur auf dem Schlachtfeld – das ist der kleine –, sondern im großen Kampf gegen das eigene niedere Ich, das zum Guten überwunden werden muss (45-46).
Mohammed organisierte für seine Anhänger auch ihr politisches, nicht nur ihr religiöses Leben. Der Kampf gegen äußere Feinde war nachgeordnet gegenüber der rechten Regelung des Miteinanderlebens im Gemeinwesen. Da muss geurteilt werden, wie öffentliches Verhalten – verbindlich gefordertes, empfohlenes, zulässiges (halal), zu missbilligendes, verbotenes – zu belohnen oder zu bestrafen sei: Scharia, Weg zur Wasserquelle des Rechts. Das Vorgehen bei der Rechtsfindung wird von Schulen verschiedenen gelehrt; die vier bedeutendsten stehen seit dem 8. Jahrhundert in Geltung. (46-48, 50-51) Bald nach Mohammeds Tod führte das Problem, was wen zur obersten Leitung des muslimischen Gemeinwesens berechtige, zur Spaltung der Einheit. Um Mohammeds Vetter und Schwiegersohn Ali, der auf die drei ersten Kalifen folgte, sammelten sich Parteigänger, „shi’at ’Ali“, die ihn und seine Söhne für einzig berechtigt ansahen; Schia und Sunna drifteten auseinander. Aus der Schia flossen vielerlei Sonderströmungen ab (unter anderem Drusen und Aleviten) wie eigensinnige Wasserläufe in einem Delta. Weltweit sind von den etwa 1,6 Milliarden Muslimen 85 % Sunniten, 15 % Schiiten (49). Im Glauben überwiegen Gemeinsamkeiten; im Recht ist in der Sunna, anders als in der Schia, das Treffen neuer Urteile seit dem 10. Jahrhundert ausgeschlossen. (51-54)
Im Bereich muslimischer Herrschaft genießen unter den NichtGleichberechtigten die Besitzer anderer heiliger Bücher – Juden, Christen, auch Hindus und Buddhisten – Privilegien als Schutzbefohlene, wenn sie sich verpflichten, loyale Untertanen zu sein und Schutzgeld zu zahlen (55).
Das Sufitum im Islam zeigte sich in Ansätzen schon um 700 und fand, obwohl strenggläubige Muslime es ablehnen, weite Verbreitung. Von einer weiblichen Sufi im 8. Jahrhundert wird erzählt: Gefragt, wozu sie mit einem Eimer voll Wasser und einer brennenden Fackel durch die Straßen Bagdads gehe, erklärte sie, um in der Hölle zu löschen und im Paradies Feuer zu legen, damit niemand mehr anders – aus Furcht um oder Hoffnung für sich selbst – Gott anbete denn allein aus Liebe zu Ihm. Um 1100 unterstützte der in Bagdad tätige Perser Al-Ghazali das Sufitum als Philosoph. Im 13. Jahrhundert beeinflusste der persischsprachige Dichter Rumi die Entwicklung des Sufitums in der Türkei (Derwische). Im 14. Jahrhundert dichtete Hafis in Schiraz im Geist des Sufitums; eine Sammlung seiner Liebeslyrik erschien 1812 in deutscher Übersetzung und regte Goethe zu seinem „West-östlichen Diwan“ an. Sufi- und Franziskanertum stimmen überein in der Erwählung der Armut, der geschwisterlichen Zuneigung zur Schöpfung und der Bevorzugung des begegnenden anderen Menschen vor der Aufmerksamkeit auf sich selbst. (57-64)
Die Begegnungs-Erfahrung des Franziskus, die den franziskanischen Blick auf den Islam anleitet, ist jetzt fast genau 800 Jahre her. Der im Jahre 1215 auf dem Vierten Laterankonzil beschlossene fünfte Kreuzzug begann am 1. Juni 1217. Im April 1218 kämpften die Kreuzfahrer in Ägypten mit den Sarazenen, den Muslimen am Mittelmeer. 1219 schiffte Franziskus sich in Ancona an der Adria ein und reiste über Akkon in Syrien in die Hafenstadt Damiette im Nil-Delta. Im September 1219 begab er sich aus dem Kreuzfahrer-Lager ins Lager der Feinde. Dort empfing der Sultan al-Malik al-Kamil, der in Franziskus einen Unterhändler vermutet haben könnte, ihn zu einem Gespräch. (9, 15, 17) Daraus erwachsene Erkenntnis ist eingegangen in die von Franziskus 1221 dem Pfingstkapitel, dem damals jährlichen Ordens-Treffen, vorgelegte Regel: Brüder, die „auf göttliche Eingebung hin“ unter die Sarazenen gehen wollen, können unter ihnen „geistlich wandeln“, indem sie „weder zanken noch streiten, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind“. Ob unter Christen oder Muslimen, ohne Unterschied seien sie „subditus“, dienstbar mit dem, was sie – etwa handwerklich – können. (19-20)
Seit 1218 sind Franziskaner bei Konstantinopel ansässig. Sechs 1219 nach Marokko gegangene Brüder erhofften sich das Martyrium und fanden den gesuchten Tod, was im Orden missbilligt wird. Im „Heiligen Land“ wurden Franziskaner 1342 zu Hütern, Kustoden, der heiligen Stätten als Vertreter der Kirche von Rom bestellt; im 17. Jahrhundert verliehen ihnen drusische Herrscher den Titel „Emire von Nazareth“. In Bosnien waren Franziskaner ab 1463 loyale Untertanen des osmanischen Sultans. Bei der zweiten Türkenbelagerung Wiens (die erste war 1529) brachte der Kapuziner Marco d’Aviano OFMcap die Führer der christlichen Truppen dazu, sich gegen das osmanische Heer zu vereinen; sie siegten am 12. September in der Schlacht am Kahlenberg. (21-29) ‘Heute leben Franziskanergemeinschaften unter Muslimen im nördlichen Afrika und südlich der Sahara, im vorderen Orient, in Pakistan, auf Indonesien und den Philippinen (25-31). In Amerika und Europa haben Franziskaner Kontakt mit den Muslimen, die seit dem 19. Jahrhundert zuwandern (31-32). Nach Deutschland kamen Muslime zuerst 1961 als angeworbene Gastarbeiter. 2009 waren sie vier Millionen – 5 % der Gesamtbevölkerung –, davon 75 % Sunniten, 12,5 % Aleviten, 7 % Schiiten. (31, 65, 95 Anmerkung 10) Neitzert listet auf, wie die verschiedenen Gruppierungen organisiert sind – Moscheeverbände, Frauenzentren, Hilfswerke, Bildungseinrichtungen der von Fethullah Gülen gegründeten „Hizmet-Bewegung“ –, und betrachtet übergreifende Formationen – Salafismus, Islamismus, Al-Qaida. Er erwähnt die Vorgeschichte der gewaltbereiten Extremisten in der vom Westen in den 1970er Jahren geförderten Re-Islamisierung gegen den Kommunismus und die Entstehung der sunnitischen Miliz „Islamischer Staat“ nach dem von den USA geführten zweiten Irakkrieg 2003. (65-74)
Die Recherchen und Überlegungen, deren Konzentrat sich in diesem Büchlein findet, hat Neitzer offenbar angestellt für seine 2009 veröffentlichte Arbeit über Jean-Mohammed Ben Abd-el-Jalil OFM, „Wegbereiter des christlich-islamischen Dialogs“ (97, in den Literaturangaben). Jalil (1904-1979) aus Fès in Marokko erhielt 1925 als Hochbegabter die Gelegenheit zum Studium an der Pariser Sorbonne. 1928 entschied er sich, Christ zu werden. Dafür fühlte er sich vom Koran vorbereitet. Mit päpstlicher Erlaubnis behielt er seinen MuslimNamen Mohammed bei. Er wurde Franziskaner und 1935 zum Priester geweiht. In seiner Diplomarbeit an der Sorbonne und in seiner Lehrtätigkeit von 1936 bis 1964 beschäftigte er sich mit Al-Ghazali. In vielen Vorträgen stellte er den Islam vor, unter anderem in München 1960: Den Kindern bringe man mit der überlieferten Erzählung von der Befragung des Propheten Mohammed durch den Engel Gabriel Islam Iman Ihsan bei: in Hingabe, auf fünf Grundpfeiler gestützt, angesichts des Schöpfers, Offenbarers und End-Richters die Haupttugend üben, deren Merkspruch die Kinder auswendig lernen: „Diene Gott so, als ob du Ihn sähest. Siehst du Ihn nicht, Er sieht dich.“ (77-82)
Die französischen Bischöfe, die am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) teilnahmen, beauftragten Jalil, ihnen über den Islam in der Gegenwart Bericht zu erstatten. Dieser Stellungnahme des Bruders Jean-Mohammed (Papst Paul VI. ernannte ihn am 26. August 1965 zum Berater des Sekretariates für die Nichtchristen) ist es – zumindest auch – zu verdanken, dass in der Einleitung der „Erklärung zum Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“, Nostra aetate, steht: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat.“ Die „Heilige Synode“ ermahnt alle, „Zwistigkeiten und Feindseligkeiten zwischen Christen und Muslimen“ in den vergangenen Jahrhunderten „beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten“ für Güter wie „Gerechtigkeit“ und „Frieden“. (it)
Michael Basse / Gerard den Hertog (Hg.), Dietrich Bonhoeffer und Hans Joachim Iwand – Kritische Theologen im Dienst der Kirche (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 157). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017. 362 Seiten. Gebunden (Hardcover). ISSN 0429-162X. ISBN 978-3-525-56452-3. € 90,00
Die Hans Iwand-Stiftung beging ihr 31. Symposion vom 28. bis 30. August 2014 in Dortmund. Dort wirkte Iwand, nachdem 1937 die Gestapo das von ihm geleitete, im Dritten Reich als illegal geltende Predigerseminar der Bekennenden Kirche geschlossen hatte, als Pfarrer, bis er im Spätherbst 1945 Professor an der Universität Göttingen wurde. In das Tagungsthema 2014, das jetzt der Buchtitel ist, führte Christian Neddens biographisch und zeitgeschichtlich ein (im Buch 13-37). Ralf Wüstenberg referierte über die „Verarbeitung der Soziologie“ für die Lehre von der Kirche bei den beiden Theologen. Den Abschlussvortrag auf Wunsch von Gerard den Hertog dazu, „Was mit Bonhoeffer und Iwand im Blick auf die heutige Lage der Kirche und der Theologie zu verhandeln wäre“, hielt Hans G. Ulrich (301-335). Die Buchfassung enthält ein Literaturverzeichnis (337-360) und kurze Angaben über die vierzehn Personen, deren Beiträge abgedruckt sind. Denn zwischen der Einführung und dem Ausblick stehen, einschließlich des Wüstenberg-Referats, zwölf Texte zu „Einzelthemen“. Das Themen-Gemisch wunderte mich, bis ich begriff, dass die Beiträge nach den Verfassernamen in alphabetischer Reihenfolge angeordnet sind. Daraufhin entwickelte ich eine andere Lesereihenfolge nach der Fragestellung: Wozu äußerten sich laut der zwölf beitragenden Personen, die zwischen 1941 und 1986 geboren sind, Hans Joachim Iwand (1899–1960) und Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)? Wovon sprechen Theologen, wenn sie – wie man so sagt – über Gott und die Welt reden?
—Theologen sprechen von einem die Menschen anredenden Gegenüber.
Johannes von Lüpke (149-163): Wirklichkeit. Die Menschen „sampt allen Kreaturn“ (Luther, Kleiner Katechismus) leben vor einem ihnen wirklich, real, begegnenden Gegenüber. „Theologus crucis dicit, id quod res est“ (Luther, Heidelberger Disputation 1518): Der vom Kreuz Jesu Christi – vom „Leiden Gottes in der Welt“ (Bonhoeffer, 21. Juli 1944) – zeugende Theologe sagt, was Sache ist.
Cees-Jan Smits (165-188): „Lückenbüßer“? Können Menschen das Gegenüber beanspruchen zum Ausfüllen von Mängeln, die sie im eigenen Erkennen und Verhalten konstatieren? Ist Christi Blut so billig, dass er „nur das Verächtlichste am Menschen erlöst“ (Luther, De servo arbitrio)? Nein. Der Mensch wird in Anspruch genommen.
Edgar Thaidigsmann (189-205): Diesseits. Das vom wirklich anredenden Gegenüber Inanspruchgenommenwerden löst Menschen heraus aus dem „Wahn“ von „Hinterweltlern“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra) und setzt frei zum Leben in der Diesseitigkeit.
Clara Aurelia Tolkemit (207-233): Eschatologie. Letztes, Endgültig Zukünftiges wehrt der Ausflucht in ein vermeintliches Jenseits und weist ein in wirklichkeitstreues Leben. In
Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ist die Treue zur Erde vollbracht.
—Theologen sprechen vom Beieinandersein von Menschen vor dem Gegenüber.
Ralf K. Wüstenberg (283-298): Soziologie. Die Menschen, die sich als angeredet erfahren, nehmen einander von diesem Gemeinsamen her wahr. So zueinander gefügt sind sie als Zeugengemeinschaft da für andere (Kirche).
Annette Kern (129-148): Sünde. Das Ausfallen der Gegenüber-Beziehung verletzt tödlich. Erst im Erfahren der Zuwendung dennoch und des Neuerstehens wird die notwendige Vernichtung von bei sich selber Vorfindlichem bewusst: Recht-fertigmachen des Sünders. „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ (Römerbrief 2,4)
Gerard den Hertog (85-102): Gesetz. Auf den Menschen kommt Zuspruch (Evangelium) im Anspruch zu: was ständig (Gesetz-mäßig) und was jetzt, heute und hier, geboten ist im Leben in Beziehung.
—Theologen sprechen vom Miteinander der um das Angesprochenwerden wissenden Menschengemeinschaft mit anderen. Markus Franz (63-84): Stände. Menschengruppen, die zusammenleben wie in einer Stadt (polis), entwickeln Ordnungen für ihr Gemeinwesen, und zum Hüten der entstandenen Ordnung sind Instanzen mit zu respektierender Durchsetzungsmacht nötig. Luthers Lehre von den dreierlei Ständen oder Hierarchien unterschied politia, oeconomia und ecclesia in der von Christenheit bevölkerten Umwelt – allerdings standen die Türken 1529 schon einmal vorübergehend vor Wien. Ordnungen sind auf Dauer angelegt (Verlässlichkeit); sie können sich aber als unhaltbar herausstellen. Am Prüfen, welche Regelungen vorerst weiterbestehen bleiben dürfen oder tunlichst bald verworfen werden müssen, und am Suchen nach sachgemäßeren Regelungen sollten möglichst viele im Gemeinwesen teilnehmen. Den Kirchengliedern im politischen Gemeinwesen, die sich sachkundig gemacht haben, obliegt es, ihren Rat vor dem Gegenüber zu verantworten.
Bernd Wannenwetsch (267-282): Zeitgeschichte. Die Zustände und Vorgänge in ihrer Umwelt erleben alle Zeitgenossen mit. Um, eingebunden in eingelebte Bahnen, wirklich wahrzunehmen, was für einen Kurs der Zeitgeist steuert, muss nüchterne kritische Urteilskraft wach werden, ein Geist, der nicht letztlich auf Selbstgerechtigkeit in den eigenen Lebensvollzügen aus ist.
Wilken Veen (235-266): Schuld. Kirchenglieder wissen sich als persönlich Angeredete schuldig an Geschehen in der Welt. „Wir sind in die Irre gegangen“ (im Dritten Reich; Iwand, Entwurf für das Darmstädter Wort 1947). Vom Sich-Ausliefern an die Herrschaft von Göttern in der Welt tut Umkehr not zur Führung durch das wirkliche Gegenüber.
Marco Hofheinz (103-128): Widerstand. In der AusnahmeSituation des Dritten Reiches haben einige wachsam standhaltende Menschen geplant, den herrschenden irdischen Gott mit vernichtender Gewalt zu stürzen. Das war nach geltendem Recht Hoch- und Landesverrat, aber politisch verantwortlich beschlossen auch gegen das für Gemeinwesen im Regelfall gebotene Nicht-Töten, – ein freies Wagnis, in dem sie sich bewusst nicht nur dem akuten, sondern dem letztgültigen Richterspruch aussetzten.
Michael Basse (41-62): Frieden. Ordnung so zu gestalten, dass im und zwischen Gemeinwesen – kommunal, national, international – Menschen friedlich miteinander auskommen können, sollte menschlich machbar sein, etwa durch sorgfältige, wechselnden Zeitläufen immer wieder neu gerecht werdende Gesetzgebung. Dann muss allerdings Feindschaft, statt für ein Grundgesetz des Lebens, für behebbar gehalten werden (Epheserbrief 2,14 „er ist unser Friede“). Die „Bilanz“ Ulrichs hat mir vorgegeben, beim Thema Wirklichkeit mit dem Lesen zu beginnen und bei der Skizzierung der zwölf Themen vom Anreden auszugehen; zu Gegenüber regte an, dass wirklich anredendes Wort „uns begegnet“ (302f). Iwand und Bonhoeffer sind Wort-Gottes-Theologen; sie denken dem Logos nach, in dem alles geschaffen ist und der zur Welt kommt (Prolog des Johannesevangeliums [1,15.9-14] und Kolosserbrief-Hymnus [1,15-20]). Beide schätzen besonders die Theologie Luthers, aber auch die vom reformierten Schweizer Karl Barth nach dem Ersten Weltkrieg vorgelegte Theologie. Ab 1931 lehrten sie als Privatdozenten an einer theologischen Fakultät, Iwand in Königsberg, Bonhoeffer in Berlin. Ab 1935 waren beide im Dienst der nichtregimekonformen Bekennenden Kirche Predigerseminardirektoren, Bonhoeffer in Pommern, Iwand in Ostpreußen. 1939 besuchte Bonhoeffer auf der rechtzeitig vor Kriegsausbruch angetretenen Rückreise nach dreieinhalb in den USA verbrachten Wochen am 26. Juli in Dortmund Iwand, der sich später (1957) erinnerte, damals im Gespräch „Zweifel gegenüber seiner Neigung zum Pazifismus“ geäußert zu haben (107, 252). Den kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs und Dritten Reiches – mit anderen an der Verschwörung zum Attentat auf Hitler Beteiligten – hingerichteten Bonhoeffer überlebte der sechseinhalb Jahre ältere Iwand um fünfzehn Jahre. Dass sie sich zu Lebzeiten persönlich nahe gestanden hätten, geht aus Dokumenten nicht hervor. Ende August 1945 begegnete Iwand auf einer Kirchenkonferenz Eberhard Bethge und erfuhr von Bonhoeffers Manuskripten für eine Ethik und dem darin enthaltenen 1941 geschriebenen Schuldbekenntnis der Kirche. Im Prozess gegen Otto-Ernst Remer, der als Major des Wachbataillons Großdeutschland am 20. Juli 1944 in der Bendlerstraße in Berlin den Umsturzversuch niedergeschlagen hatte und 1951 auf einer Parteiveranstaltung die Verschwörer als vom Ausland bezahlte Verräter verunglimpfte, berief der Braunschweiger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1952 Iwand als einen der Gutachter. Vom Verteidiger des Angeklagten Remer befragt sagte Iwand: „Mein Freund ist etwa Dr. Bonhoeffer gewesen“ (105). Während des Kalten Krieges bemühte Iwand sich um den Abbau des Feindbildes, betreute Ostpreußen, die nun westlich des Eisernen Vorhangs lebten, und bestärkte sie im Hinnehmen des Heimatverlusts. Woher rührt solches Verhalten? Angesprochen durch die Bergpredigt (Matthäusevangelium 5-7) weiß Iwand: „die Liebe Gottes dringt uns“ (95).
In den Beiträgen sind theologische Aussagen Iwands und Bonhoeffers nebeneinander gestellt, je nach Expertise mehr von dem Werk des einen oder dem des anderen her. Wo die divergenten Denklinien Bonhoeffers und Iwands „auffällige Konvergenzen“ zeigen (101), wo sie „eines Sinnes“ sind (Philipperbrief 2,2), ohne des anderen Sinn gekannt zu haben, da wird an ihrer Rede über Gott und die Welt wohl Bedenkenswertes dran sein. (it)
Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 nebenamtlich Kollegiumsmitglied im Institut für interdisziplinäre Forschung / Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.
itoedt@t-online.de