Gedächtnisinstitutionen, Zeitgeschichte

„Lasst nie wieder eine solche Katastrophe geschehen.“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2023

„Wichtiger als unser Leben“. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Hrsg. von Ulla-Britta Vollhardt und ­Mirjam Zadoff. Wallstein Göttingen 2023, 134 S., 66 z.T. farb. Abb., Klappenbroschur, ISBN 978-38353-5492-0, € 15,00.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war Polen die Heimat von 3,3 Millionen Jüdinnen und Juden, Warschau, wo jeder dritte Einwohner jüdisch war, das kulturelle, religiöse und politische Zentrum dieser diversen Gemeinschaft. Allein in Warschau gab es 440 Synagogen und Gebetshäuser, zahlreiche religiöse Vereinigungen und Verbände, Sportvereine und Jugendorganisationen sowie mehr als 250 soziale Einrichtungen.

Ein Jahr nach Beginn des deutschen Angriffskrieges zwangen die Nazis die jüdische Bevölkerung in einen abgeriegelten Teil der Stadt, dort fristeten sie ihr Dasein in einer überfüllten, maroden und krankmachenden Umgebung; etwa 100.000 Männer, Frauen und Kinder starben an den furchtbaren Bedingungen im Ghetto. Die Nationalsozialisten deportierten dann von Juli 1942 bis September 1942 mehr als 260.000 Menschen aus Warschau in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurden. Der Historiker und Lehrer Emanuel Ringelblum begann seine Untergrundaktivitäten in den ersten Tagen der deutschen Besatzung. Er regte ein beispielloses Projekt an: eine im Geheimen arbeitende Gruppe von bald 60 Personen, die unter dem Decknamen Oneg Schabbat (Freude des Schabbat) den Alltag des Ghettos genau dokumentierte. Abgeschnitten von der Welt sammelte und produzierte sie von 1939 bis 1943 eine Fülle an Material und versteckten es für die Nachwelt. Mit Beginn des systematischen Mordes an den polnischen Jüdinnen und Juden wurden sie unwillentlich zu Chronistinnen und Chronisten der Shoah, die sie selbst mit wenigen Ausnahmen nicht überlebten.

Nach dem Krieg konnte ein Großteil des in Blechkisten und Milchkannen vergrabenen Archivs unter den Ruinen des Ghettos wiedergefunden werden. Mit seinen rund 35.000 erhaltenen Seiten zählt das Archiv seit 1999 zum UNESCO Weltkulturerbe. Aus den Zehntausenden von Blättern haben die Ausstellungsmacher eine kleine Auswahl von bewegenden Dokumenten ausgewählt.

Sie betreffen die Gründung der Oneg Schabbat-Gruppe, die Konzeption des Archivs sowie den Alltag im Ghetto und spiegeln die große Bandbreite der gesammelten und produzierten Dokumente wider: Tagebücher, Berichte, Statistiken, Briefe, Lebensmittelkarten, Fotografien, deutsche Zeitungen, jüdische Untergrundzeitschriften. Über viele, deren Texte im Ringelblum-Archiv überliefert sind, ist wenig bekannt. Doch durch die Dokumente wissen wir ihre Namen, wissen, dass es sie gab, sie werden als Individuen sichtbar. Der Band erscheint anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, die das NS-Dokumentationszentrum München in Kooperation mit dem Jüdischen Historischen Institut Warschau bis 7. Januar 2024 zeigt. (red)

„Ich möchte nur, dass von mir und meiner kleinen Tochter, dem talentierten Mädchen Margolis Lichtensztejn, eine Erinnerung bleibt.“

Gela Seksztajn mit ihrer kleinen Tochter Margolis, um 1941 (Jüdisches Historisches Institut Emanuel Ringelblum in Warschau, Ringelblum Archiv I 1450)

2. August 1942
Ich schreibe mein Testament während der Deportationen des Warschauer Judentums. Sie hält seit dem 20. Juli ununterbrochen an. […] Es ist der 14. Tag dieses grausamen Geschehens. Wir haben praktisch jeden Kontakt zu unseren Genossen verloren. Jeder ist auf sich allein gestellt, um sich so gut es geht zu schützen. Drei von uns sind noch übrig: Genosse Lichtensztejn, Grzywacz und ich. Wir haben beschlossen, unsere Testamente zu ­schreiben, etwas Material über die Deportationen zu sammeln und alles zu vergraben. Wir müssen uns beeilen, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. […]

Wir spürten die Verantwortung. Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben.

[…] Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben.

Ich will keinen Dank. […] Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt. Damit diejenigen, die es nicht überleben, getröstet sein können […]. Aber nein, wir werden das gewiss nicht erleben, und deshalb schreibe ich meinen Letzten Willen nieder. Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist […] im 20. Jahrhundert. […] Wir können jetzt in Frieden sterben

… Wir haben unseren Auftrag erfüllt … Möge die Geschichte für uns zeugen. David Graber, 19 ­Jahre 

Aus David Graber, Mein letzter Wille [Fragmente], 2. August 1942

[David Gruber vergrub Teile des Archivs. Er kam kurz darauf ums Leben.]

Ich weiß, dass wir nicht standhalten werden. Solch schreckliche Morde und Untaten zu erleben und selbst weiterzuleben, ist unmöglich. Deswegen schreibe ich hier mein Vermächtnis nieder. Vielleicht bin ich nicht wert, dass man sich meiner erinnert – aber doch meiner Mitarbeit in der Gruppe „Oneg Schabbat“ und daran, dass ich in der größten Gefahr schwebte, weil ich das gesamte Material versteckt hatte. Den eigenen Kopf hinzuhalten, wäre eine Kleinigkeit. Aber ich riskiere auch den Kopf meiner lieben Frau, Gela Seksztejn, und den meines Schmuckstücks – meines Töchterchens ­Margolis.

Ich will dafür keinen Dank, kein Denkmal, keine Lobreden, ich will nur, dass man sich meiner erinnert, damit mein Bruder und meine Schwester auf der anderen Seite des Meeres einmal wissen werden, wo meine sterblichen Überreste geblieben sind.

Ich will, dass man sich meiner Frau erinnert, Gela Seksztejn, Malerin, die Dutzende Bilder hergestellt hätte, es aber nicht konnte, nicht im Rampenlicht stehen ­konnte. […] Jetzt bereitet sie sich mit mir zusammen auf den Tod vor.

Ich will, dass man sich meiner Tochter erinnert. Margolis ist heute 20 Monate alt. Beherrscht vollkommen die jiddische Sprache. […] ­

Ich betrauere nicht mein Leben oder das meiner Frau, leid ist es mir nur um das kleine, wohlgeratene Mädchen. Auch sie ist es wert, dass ihrer gedacht wird. Izrael Lichtensztejn, Mein Vermächtnis, Warschau, 31. Juli 1942

[Izrael Lichtensztejn vergrub im Juli 1942 Teile des Archivs in einem ­ Schulkeller.]

An der Schwelle zwischen Leben und Tod stehend, in der Gewissheit, dass ich nicht überleben werde, möchte ich Abschied nehmen von meinen Freunden und von meinen Werken. […] Ich möchte keine Lobreden, ich möchte nur, dass von mir und meiner kleinen Tochter, dem talentierten Mädchen Margolis Lichtensztejn, eine Erinnerung bleibt. […] Meine Werke vermache ich dem jüdischen Museum, das einmal entstehen wird, um das jüdische Kunst- und Kulturschaffen der Zeit vor 1939 abzubilden und um die furchtbare Tragödie des polnischen Judentums studieren zu k­önnen. Lebt wohl, meine Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe geschehen. Gela Seksztajn, Mein letzter Wille, 31. Juli 1942

[Izrael Lichtensztejn, Gela Seksztajn und ihre Tochter ­Margolis überlebten die Deportationen im Sommer 1942, kamen aber kurz vor oder während des Aufstands im Warschauer Ghetto 1943 ums Leben.]

 

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