Christine Kupfer: Bildung zum Weltmenschen. Rabindranath Tagores Philosophie und Pädagogik. Bielefeld: transcript 2014. 430 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-8376-2544-8. € 36,99
Sollte es Sie durch einen blanken Zufall einmal an einem 7. Mai nach Bengalen oder in die Landeshauptstadt Kolkata verschlagen, so seien Sie nicht erstaunt darüber, dass an diesem Tag nicht nur das öffentliche Leben in Stadt und Land ruht, sondern sich Heerscharen von Jugendlichen, Schülern und Schülerinnen sowie Studenten beiderlei Geschlechts sowie Radio- und Fernsehteams in hellen Scharen zum Geburtshaus des Mannes aufmachen, zu dessen Ehren in seinem Geburtsland eigens ein Staatsfeiertag eingerichtet wurde: des Schriftstellers, Gelehrten und Pädagogen Rabindranath Tagore (1861–1941). Die am ehesten mit dem Goethekult zu vergleichenden Feierlichkeiten gelten einem bis heute in ganz Bengalen und Indien hoch verehrten Mann, dessen Bedeutung sich aus verschiedenen Gründen bis heute uns Europäern nicht ganz erschlossen hat. Zwar erhielt der Gefeierte für sein Gedichtwerk Gitanjali bereits 1913 einen Nobelpreis (übrigens als erster Asiate), der Großteil seiner Schriften jedoch liegt entweder nur in Bengali oder – an entlegener Stelle – in Englisch vor und ist dem interessierten Leser daher kaum zugänglich. Daran änderte auch nichts die gurugleiche Verehrung, die Tagore bei seinen Auslandsreisen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem in Deutschland, wenn auch gegen seinen Willen, entgegengebracht wurde – schon Zeitgenossen wie Stefan Zweig fiel der „Rummel“ um ihn unangenehm auf. So blieb es bis heute bei einer asymmetrischen Wahrnehmung dieses „Weltmenschen“, je nachdem, ob man ihn aus indischer oder außerindischer Sicht betrachtete.
Tagore entstammte einer Unternehmerfamilie, die den Ehrentitel thakur (englisch Tagore, etwa mit „Sir“ gleichzusetzen) trug – Landlords, Großgrundbesitzer und Fabrikherren, die die neuen Möglichkeiten des Weltmarktes rasch und entschlossen realisierten. Der Großvater, Dvarkanath, hatte unter dem britischen Raj mit einem Konglomerat aus Schifffahrtsunternehmen, Versicherungen und Banken die Grundlagen des Familienvermögens gelegt und gemeinsam mit dem bengalischen Brahmanen Ram Mohan Roy die religiös-soziale Reformbewegung des Brahmo-Samaj begründet, ehe er auf einer Englandreise – durch einen Wirtschaftscrash ruiniert – starb. Den weiterhin beträchtlichen Familienbesitz, meist Ländereien in der Umgebung des damaligen Calcutta, verwaltete nun der gebildete (und weit weniger geschäftstüchtige) Sohn Debendranath. In diesem weltoffenen Umfeld wuchs Rabindranath als jüngstes von vierzehn Kindern auf. Schon bald betätigte sich der junge Schriftsteller jedoch nicht nur auf den Gebieten der Literatur, Musik und Malerei, sondern erweiterte sein Wirken auch auf Bildung und Gesellschaft, indem er auf einer der Familienbesitzungen eine außergewöhnliche Bildungsstätte gründete: die Universität von Santiniketan, die bis heute floriert und Kontakte in alle Welt unterhält.
Wer war und was wollte Tagore wirklich? Seine verstreuten Schriften zu sichten, zu sammeln, zu publizieren und durch Übersetzungen zugänglich zu machen, ist eine wahre Herkulesaufgabe, und so wurde 2011 an der Napier Universität in Edinburgh eigens das Scottish Centre of Tagore Studies (ScoTs) ins Leben gerufen, an dem auch die Autorin arbeitet, die sich vor allem mit den erzieherischen Intentionen Tagores beschäftigt. Tagore als Pädagoge? Tatsächlich lässt sich – das ist das Fazit der vorliegenden Studie – Tagores Lebenswerk als Versuch der Erziehung des Menschen zu einer ästhetisch, physischen, sozialen und psychischen Gesamtpersönlichkeit beschreiben. Aktuellen Sprengstoff erhält die Studie durch den Hinweis auf die seit PISA erfolgte Verengung des Lern- und Wissensstoffs auf abfragbares, quantifizierbares und damit vergleichbares Wissen. Bildung bedeutet nach Tagore jedoch auch Förderung der künstlerischen Kreativität, des spielerischen Sinns, der Naturverbundenheit, des sozialen Miteinander, des politischen Wohlergehens und der spirituellen Reife – Dinge, die heute am ehesten in privaten Schulformen wie den Waldorf- oder Montessorischulen gepflegt werden. Der Zusammenhang zwischen Menschenbild und Pädagogik des Schriftstellers liegt auf der Hand und muss dennoch heute, siebzig Jahre nach seinem Tod, erst erarbeitet werden.
Man mag über die vermeintliche Weltferne des großen Bengalen lächeln, aber auch dem Humboldt‘schen Gymnasium und den renommierten, wegen ihrer Härte berüchtigten britischen Public Schools wie Rugby, Eton, Harrow oder den angelsächsischen Universitäten – seien es Yale, Harvard, Cambridge oder Oxford –, lagen Erziehungskonzepte zugrunde, die nicht auf Spezialwissen und dessen Verwertbarkeit, sondern in erster Linie auf Persönlichkeitsbildung abzielten. Welche Erziehungsform das Potential junger Menschen am ehesten zu heben vermag, ist angesichts der erkennbaren Mängel deutscher Bildungspolitik noch nicht ausgemacht.
Christine Kupfer stößt mit ihrem schon vor einigen Jahren erschienenen Buch in eine durchaus aktuelle Diskussion. (tk)
Oral Traditions in South India. Essays on Tulu Oral Epics. Edited by Heidrun Brückner and B.A. Viveka Rai. (Neuindische Studien 18). Wiesbaden: Harrassowitz 2017. XI, 184 S., 1 Ill., 1 Tafel, Paperback, ISBN 978-3-447-06673-0. € 38,00
Tulu gehört sicher nicht zu den Sprachen, die dem geneigten Leser als erste einfallen, wenn es um Indien geht. Sie wird zwar von nahezu zwei Millionen Menschen an der indischen Westküste um Mangalore im Bundesstaat Karnataka als Muttersprache angegeben, aber was ist das schon angesichts einer Bevölkerungszahl, die auf die anderthalb Milliarden zugeht? Anders als das berühmte Shompen der Nikobaren, das mit einigen hundert Muttersprachlern wohl die kleinste Sprachgruppe des Landes bildet, ist das Tulu keineswegs vom Aussterben bedroht – im Gegenteil: Arbeiten wie diese dokumentieren die erstaunliche Vitalität, Dynamik und Tradition einer Landessprache, die sich neben dem amtlichen Kannada und dem südlich anzutreffenden Malayalam als allgemeine Verkehrssprache behauptet hat.
Dazu beigetragen haben die lebendigen mündlichen Traditionen, die sich – ohne das Hilfsmittel der früher einmal vorhandenen, eigenen Schrift – in kürzeren und längeren rituellen oder epischen Überlieferungen kundtun. So wurden von den Frauen beim Reissetzen oder von Berufsbarden bei religiösen Zeremonien die Heldentaten der heroischen Zwillinge Kothi und Cennaya, von Siri oder Kordabbu wieder und wieder gesungen, vorgetragen oder gar personifiziert, blieben so in Erinnerung und waren Beispiele für Witz, Mut und Opfersinn, gerade und auch der niederen Kasten wie der Toddyzapfer, Reisbauern und Dalits. Siri ist die eigentliche Protagonistin der Frauen; erst seit einigen Jahren wird ihr im Rahmen von Gender Studies mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Immer wieder setzen sich die Helden dank ihrer Zauberkräfte und der unwiderstehlichen Kraft der satya, der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit durch – ein moralischer Appell an die höher stehenden Kasten, die mit ihrer anderen, gesamtindischen und zudem schriftlich niedergelegten Kultur- und Ritualsprache des Sanskrit nicht nur das kulturelle Leben dominieren, sondern auch als Landlords, Brahmanenpriester und – gegenüber den Frauen – als Männer (Ehemänner, Dorfräte) großen Einfluss auf das Wohl und Wehe der kleinen Leute bzw. der Frauen ausüben.
In den Geschichten der Heroen Kothi, Cennaya oder Siri spiegelt sich freilich auch der Versuch, die eigene Gruppe in dem sehr indientypischen Gerangel um Status, Ansehen und Prestige einige Schritte nach vorne zu bringen, gelingt diesen wahren Supermännern und –frauen zur Freude der Zuhörer oder Zuschauer doch immer wieder ein wahrer Durchmarsch durch das soziale Gefüge.
Den Frauen bietet vor allem die Siri-Saga mit ihrer epischen Breite und einer exemplarischen Lebensgeschichte, die drei Generationen umfasst, die Möglichkeit, sich im Leben der Heldin wiederzuerkennen, ja geradezu von ihr „besessen“ zu werden. Sie „erklärt die Welt aus Sicht der Frauen“ (SchusterLöhlau), denn auch in matrilinearen Gesellschaften wie denen der Bant, die diese Geschichten überliefern, gilt das so genannte Matriarchat lediglich im Erbrecht – die wirkliche Macht liegt weiter in den Händen der Männer. Tulu-Traditionen sind in Film, TV und auf Bühnen bis heute gegenwärtig, und die meisten Tulu-Sprecher kennen die Geschichten zumindest in Umrissen. Dass im 19. Jahrhundert ausgerechnet die Missionare der strengen Basler Mission und britische Kolonialadministratoren die nur mündlich erhaltenen „Teufelsgeschichten“ (bhūta bezeichnet einen Dämon, Geist oder Unhold) aufzeichneten, lag nicht an der Unvoreingenommenheit der damaligen Verwaltung, sondern war Ausdruck des missionarischen Interesses an den religiösen Bräuchen und Sitten der bis dahin kaum beachteten einfachen Leute jenseits der sanskritisierten Führungsschichten. Hier eröffnete sich der Mission ein weites Tätigkeitsfeld. Indische, amerikanische und deutsche Indologen haben sich in diesem Band zum ersten Mal gemeinsam zur Dokumentation und Erforschung dieser „kleinen“ indischen Sprache und ihrer Überlieferungen zusammengetan. Das Ergebnis ist ein wunderbarer Einblick in die bisher nur unzugänglich bekannte Welt der Stämme und Bevölkerungen der Westghats. Dass der Band auf Englisch erschienen ist, ist der internationalen Herausgeberschaft geschuldet; er ist jedoch verständlich geschrieben, leicht zu lesen und preislich gesehen noch erschwinglich. Resümee: nichts für den blutigen Laien, aber voller neuer Erkenntnisse, auch und gerade für den Indienliebhaber. (tk)
Peter Voss: Bangladesh. Fulda: Imhof 2017. 304 Seiten, 153 Farbabbildungen, Text deutsch-englisch, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-7319-0588-2. € 49,95
Der schöne, großformatige Bildband über das weitgehend unbekannte Bangladesh im Osten Indiens präsentiert sich mit zwei Gesichtern: einem fotografisch-technischen, das sich den Fotofreunden zuwendet, und einem ethnografisch-kulturellen, das auf eine Leserschaft mit landeskundlichen Interessen schaut. Wie dem doppelköpfigen Gott Janus der Antike und dem österreichisch-kaiserlichen Doppeladler ist solchen Mischwesen aber nur eine zeitlich begrenzte Dauer beschieden, und auch in diesem Fall hinterlässt der Band, der zwei Herren dienen will, einen etwas zwiespältigen Eindruck. Zunächst zum Technischen: aufgenommen mit digitalen Spitzenkameras des dänischen Weltmarktführers Pro One, beleuchtet mit den transportablen Blitz- und Kunstlichtlösungen der schwedischen Firma Profoto und retuschiert bzw. bearbeitet mit Capture One – sozusagen den Rolls Royce‘s der Fotobranche – gewähren die Bilder einen Einblick in den heutigen Stand der Studio- und Outdoor-Aufnahmetechnik. Zahlreiche Bilder – der Band muss leider ohne Seitenzahlen auskommen, die Bilder können daher nicht einzeln zitiert werden – zählen zu den technisch perfekten Aufnahmen, für die der Autor in vorhergehenden Publikationen bereits zahlreiche Fotopreise abgeräumt hat. Dass das Fotografische im Vordergrund steht, merkt man bei genauem Hinsehen auch der einen oder anderen Inszenierung an, in der der Autor die Porträtierten in ihrer Umgebung präsentiert: der hüftlange Lungi eines Sackträgers, der mit seiner Frau in einem uralten Eisenbahnwaggon haust, ist frisch gewaschen, das Hemd frisch gebügelt, Gegenstände und Personen sind bisweilen sorgfältig arrangiert, Posen und Gesten wirken wie eingefroren.
Das muss nicht negativ sein, hatte doch der große deutsche Schwarz-Weiß-Fotograf der 1930er Jahre, August Sander, seine Porträts der „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ebenfalls kunstvoll angeordnet: Sander wollte typisieren, Allgemeingültiges abbilden, sozusagen für die Ewigkeit arbeiten. Es war die Absicht, Bleibendes dem Augenblick zu entreißen, und das scheint auch Peter Voss bei seinen Aufnahmen zu leiten. Hinzu kommt der Einsatz einer hochmodernen, mobilen Beleuchtungstechnik; für den Moment sorgt diese Studiotechnik, die hier im Außenbereich eingesetzt wird, für einen Aha-Effekt, indem sie das Motiv in ein klinisch-künstliches Gegenlicht taucht und ihm dadurch Aufmerksamkeit, Würde und Dauer zu verleihen scheint; das Kunstlicht ermüdet den Betrachter aber auf Dauer und lässt ihn beim Durchblättern an der Aufrichtigkeit solcher technisch aufbereiteten Fotos zweifeln. Der gewichtige Bildband hat aber auch einiges zu bieten, was über das Technisch-Fotografische hinausgeht. Der Autor scheut nicht die Konfrontation mit dem Elend, sei es in den Prostituiertenvierteln Dhakas, in den Kliniken, die sich den Opfern von Säureattentaten widmen, bei den Schiffsab wrackern von Chittagong oder den Müllsammlern, Frauen wie Kindern, die auf den Schuttbergen der Hauptstadt dahinvegetieren. Es ist aber keineswegs die hoffnungslose Not, die dem Betrachter in den Gesichtern dieser vielen hart arbeitenden Menschen begegnet – dazu sind die Gesichter zu würdevoll, zu freundlich und dem Betrachter zu sehr zugewandt. Hier hat der erfahrene Fotograf wirklich eine Meisterleistung vollbracht. Peter Voss hat das Land mit offenen Augen und einem untrüglichen Blick für das Menschliche durchstreift. Dass dabei der Fotograf über den Landeskundler und Berichterstatter triumphiert, wird nicht jeden Leser unbedingt stören; etwas mehr Text und Informationen hätten jedenfalls nicht geschadet. – Auf jeden Fall ein prachtvoller Fotoband! (tk)
Johannes Rosenbaum: Die islamische Ehe in Südasien. Zeitgenössische Diskurse zwischen Recht, Ethik und Etikette. (Muslimische Welten. Empirische Studien zu Gesellschaft, Politik und Religion. Bd.9). Würzburg: Ergon 2017. 300 Seiten, Kartoniert, ISBN 978-3-95650-227-9. € 38,00
Johannes Rosenbaum, Islamwissenschaftler der Universität Bamberg, hat eine spannende Erkundungsreise ins Innere jener Institution unternommen, die wie keine andere die Beziehung zwischen den Geschlechtern prägt: die Ehe, und dabei eine gut zu lesende Studie zu dem Thema vorgelegt. Sein Vehikel dabei: zwanzig Eheratgeber, verfasst auf Urdu, der Sprache der Muslime Nordindiens, aus dem Zeitraum von 1940 bis 2010, für ein Massenpublikum geschrieben, mit niedrigem Preis, normativem Anspruch und in Buchform. Solche Texte ermöglichen Aussagen darüber, was Psychologen, Theologen, Journalisten oder Mediziner aus islamischer Sicht zur Ehe (Nikāḥ) und den ehelichen Umgangsformen (adāb an-nikāḥ) zu sagen haben und vor welchen Entwicklungen sie warnen. Indien ist zwar die Heimat von 170 Millionen Muslimen, die (nach Pakistan und Indonesien) die drittgrößte muslimische Gemeinde der Erde bilden, doch ihre Situation ist gemessen an Bildungsgrad, Einkommen und Vermögen unterdurchschnittlich; Muslime bilden das Schlusslicht der indischen Gesellschaft, die muslimische Mittelschicht ist relativ klein. Aufrufe zu Bescheidenheit, Selbstbeschränkung und das Ideal materieller Gleichstellung bilden denn auch den Tenor der Ratgeber.
Dass man zudem seine Identität im Meer der Hindumehrheit bedroht sieht, ist verständlich.
Wie ein Mandelbrot-Bäumchen verzweigt, so präsentiert sich das Feld der Kommentatoren; so bunt wie ihre berufliche Herkunft ist ihre Ausrichtung an einer der Rechtsschulen (Madhhab) und – mitunter heftig miteinander rivalisierenden – Lehrrichtungen (Maslak), unter denen vor allem die Schulen von Deoband, Bareilly und Alighar hervorragen. Eine Frau befindet sich bezeichnenderweise nicht unter den Autoren, wie Rosenbaum überhaupt eine grundlegend hierarchische, meist robust patriarchalische und in nicht wenigen Fällen misogyne Grundhaltung der verschiedenen Verfasser konstatiert. Dass die Stellung der Frau aus Sicht der Religion eine untergeordnete ist, wird von fast allen Ratgebern unter Berufung auf Koran, Prophetenworte (Hadith) und Überlieferung (Sunna) ausdrücklich festgestellt; dass diese Unterordnung jedoch weniger dogmatisch ist, als es auf den ersten Blick erscheint, zeigt sich bei der Lektüre der einzelnen Eheschriften.1 Grundsätzlich ist die Ehe für Muslime ein Vertrag, kein Sakrament oder heiliges Band. Die Ehe wird den Gläubigen zwar empfohlen, gehört aber nicht zu den rechtlich zwingenden Glaubensgeboten, ein Vertrag zudem, der in der Praxis vorrangig zwischen den Familien und den Elterngenerationen geschlossen wird und der die jungen Frauen – den ihnen nach der Sharia zustehenden Rechtsansprüchen (huqūq) zum Trotz – zur Handelsware der Väter und Söhne degradieren kann. Ist es bei den Hindus die Mitgift der Frau (dowry), so ist es bei den Muslimen die Morgengabe (mahr) des Mannes, die Missbräuchen Tür und Tor öffnet, was die Ratgeberautoren unsiono verurteilen. Auf der Grundlage des Ehevertrages, dessen Eckpfeiler durch Schriften und Überlieferung grob festgelegt sind, entfaltet sich nun – und das ist vielleicht das interessanteste Ergebnis – eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten, die von engherziger Schriftauslegung bis zu weit gefassten Ratschlägen an die Eheleute variieren, damit – wie Luther gesagt haben soll – „daß ein das andere in den Himmel bringe“. Für Ahmad Naqshbandi, Sheikh des gleichnamigen Sufiordens aus Pakistan und Verfasser eines 2006 erschienenen Ratgebers, gelten „Harmonie“ und „Reziprozität“ als Rezept für eine konfliktfreie, glückliche Lebensführung, gewürzt mit den Zutaten „Freundlichkeit und Güte, Nachsicht, Langmut, Großmut, Respekt und Würde, Akzeptanz, positives Denken, Mitgefühl und Anteilnahme, Wertschätzung“ – gültig jeweils für beide Seiten. Dass dabei immer die Vorstellung eines Autoritätsverhältnisses zwischen Vater und Kindern, Ehemann und -frau, älteren und jüngeren Geschwistern – keineswegs nur unter Muslimen üblich –, zugrunde liegt, sollte nicht unterschlagen werden. Innerhalb dieses Rahmens geben die Eheratgeber ihren muslimischen Lesern und Leserinnen jedoch Hinweise darauf, wie sie, gelegentlich unter Zuhilfenahme der das islamische Recht kennzeichnenden „Kniffe“ (hiyal), ihre „Ehe gelingen lassen“ (Rosenbaum) können. Rosenbaums Überblick zeigt, wie ängstlich defensiv und beharrend, aber auch dynamisch und flexibel die muslimische Community Südasiens auf die Veränderungen der Gegenwart reagiert, in der sich die Stellung der Frau durch den gesellschaftlichen, technischen und medizinischen Wandel sozusagen unter unseren Augen verändert. Eine sehr lesenswerte, klar gegliederte und informative Studie! (tk)
1 Das Personenstandsrecht der Muslime genießt in Indien seit dem Shah Bano-Prozess Mitte der 1980er Jahre einen Sonderstatus gegenüber dem staatlichen Uniform Civil Code, was in einem Land mit mehrheitlicher Hindubevölkerung zu erheblichem Unverständnis geführt hat.
Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.
thkohl@t-online.de