Landeskunde

Laboratorium einer neuen Moderne

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2020

Lagerdenken vs. Seidenstraßen

In einer Zeit beschleunigter Globalisierung und gigantischer Warenströme über Containerschiffe und Schienenwege ist die Wiederentdeckung und Aktivierung alter Handelswege wenig überraschend. Vielleicht ist es eine Begleiterscheinung dynamischer Entwicklungen, dass nicht alle Menschen mitgenommen, sondern viele von solchen Bewegungen ausgeschlossen werden und behauptete oder tatsächliche Ängste und Gefahren zu neuen Abschottungen und Lagerbildungen und zu neuen Grenzbefestigungen führen – in Afghanistan ebenso wie in Neu Mexiko, in der Türkei wie in Griechenland, in Xinjiang wie in Guantanamo. Abschottung hat gegenwärtig weltweit Konjunktur. Solche Erscheinungen sind auch Ausdruck von Wohlstandsgefälle und Ungleichzeitigkeiten. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown („Mauern“ 2018) deutet dies als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Übersichtlichkeit. Ängstliche Gemüter beruhigt es daher wenig, wenn die mit dem Nobelpreis für Wirtschaft bedachte Armutsforscherin Esther Duflo konstatiert: „Es ist nicht überraschend wie viele Migranten es gibt, sondern wie wenige.“

Die Politik zieht daraus bisher jedenfalls nicht die notwendigen Konsequenzen. Stattdessen ist ein neuer Wettlauf um Rüstung entfacht worden, um bisherige Machtkonstellationen nicht hinterfragen zu müssen. Der Westen mit den USA an der Spitze will seine Überlegenheit behalten und tut alles, um große Teile der Weltgesellschaft durch eine neue Containment-Politik in Schach zu halten. Wendy Brown spricht auch von einem Niedergang der Souveränität. Dieser Niedergang – könnte man hinzufügen – spiegelt sich in zunehmender Auflösung des Völkerrechts und zeigt sich auch in den Ängsten, die gegenüber China geschürt werden – und zwar gerade auch von solchen, die es besser wissen müssten.

Die inzwischen allgemein gewordene Rede von einer „Zeitenwende“, von einem Ende des „amerikanischen“ und dem Beginn eines „chinesischen Jahrhunderts“ will nun Glauben machen, ein gänzlich neues Zeitalter stünde bevor. Dies wird verknüpft mit einem Chinabild, wonach dieses Land mit einem „System aus autoritärer politischer Herrschaft und expansionsgetriebener, eher kapitalistischer Wirtschaft“ sich aufmache, die Weltherrschaft zu übernehmen. Anders als die USA wolle sich China, schreibt die Süddeutsche Zeitung, „nicht aus der Welt zurückziehen“. Im Gegenteil, Peking betreibe „eine auf Afrika und Asien, aber durchaus auch auf Europa ausgerichtete Weltpolitik“. Das Projekt „Neue Seidenstraße“ gilt als Beleg. Hier werden mehrere Zerrbilder miteinander verknüpft: Denn erstens ziehen sich die USA keineswegs aus der Welt zurück, sondern verfolgen eine aktive Eindämmungspolitik (containment) gegenüber China ebenso wie gegenüber Russland, dem östlichen Großreich Europas. Vor allem aber ist zweitens das „System autoritärer politischer Herrschaft“ Chinas nur zu erklären aus der Notwendigkeit, ein Territorium von der Ausdehnung und Vielfalt Europas zu modernisieren und nicht Teile desselben, insbesondere an den Rändern, fremden Mächten auszuliefern. Es ist noch nicht so lange her, dass Russland wie Indien Teile von Chinas Außengrenzen in Frage stellten und tibetische Luftlandeeinheiten im US Bundesstaat Colorado für einen Einsatz trainiert wurden. China selbst hat große freiheitliche Traditionen, und Gedanken der Aufklärung sind den konfuzianischen wie den daoistischen Traditionen eingeschrieben. Doch die Ränder drohen sich weiter zu verselbständigen, wie man an Taiwan und neuerdings an Hongkong sehen kann. Der über lange Jahre in der internationalen Politik stabile Konsens, wonach es nur ein legitimes China gibt, ist brüchig geworden.

Wird die Postmoderne in China vorbereitet?

Hinzu kommt, wenn man genauer hinschaut, die Erkenntnis, dass die Stärke Chinas aus der Übernahme der Errungenschaften des Westens und deren Realisierung entstanden ist. Doch es scheint viele zu ängstigen, wenn andere den westlichen Modernisierungsvorgaben folgen. Vielleicht ist es auch nur unser eigenes Spiegelbild, welches wir in China erkennen und vor dem wir uns ängstigen. Oder sollte gar China tatsächlich in mancher Hinsicht eine Alternative zu den europäisch-amerikanischen Modernitätskonzepten des 19. und 20. Jahrhunderts darstellen? China hatte keine Renaissance wie Europa, keinen Michelangelo oder Albrecht Dürer. China hatte keine Bill of Rights und keinen Sturm auf die Bastille und keine Unabhängigkeitserklärung wie jene in Philadelphia von 1776, und doch sind seit dem Ende des Kaiserreiches Demokratie und Wissenschaft Teil der DNA des modernen China. Zu Hundertausenden besuchen junge Chinesinnen und Chinesen die Universitäten Westeuropas und der USA. Kann das ohne Folgen bleiben?

Doch in einer Hinsicht ist ein eigener Modernisierungspfad Chinas unabweisbar. Während Europa die Entwicklung hin zu allgemeinen und freien Wahlen in den beiden vergangenen Jahrhunderten jeweils begrenzt auf einzelne Nationen organisierte, schickt sich China an, die Modernisierung nachholend in wenigen Jahrzehnten in einem mit Europa vergleichbaren Territorium zu realisieren. Dies ist längst nicht gelungen und bleibt ein gefährdetes Projekt. Gerade deswegen kommt es darauf an, die Beziehungswege auf dem eurasischen Kontinent zwischen dem Fernen Osten und dem Fernen Westen erneut in den Blick zu nehmen, unter Berücksichtigung der jeweils einzelnen Interessen der Völker und Regionen in den Zwischenzonen. Europäische Diplomatie könnte mit dazu beitragen, dass das neue Seidenstraßenprojekt zu einem Friedensprojekt wird.

Susan Whitfield (Hrsg.), Die Seidenstraße. Landschaften und Geschichte. Darmstadt: wbg THEISS. 2019. 479 S., Hardcover. ISBN 978-3-8062-3997-3. € 50,00

Wer sich einmal zurück zu beamen versucht und die globalen Handels- und Verkehrswege der Zeit der Heiligen Dreikönige, um Christi Geburt also, aufsuchen möchte, findet in dem von der wohl besten Kennerin dieser Materie herausgegebenen wunderbaren Bild- und Textband reiches Anschauungsmaterial. Das von Ferdinand Freiherr von Richthofen erstmals als „Seidenstraße“ bezeichnete Wegeund Beziehungsnetzwerk wird einem auf einer doppelseitigen Grundkarte vor Augen gestellt, in deren Mitte sich jene vielfältig vernetzten Gebiete Vorder- und Südasiens befinden, die wir in den letzten Jahrzehnten als Ausgangsort von Kriegsberichterstattung, etwa aus Afghanistan, Pakistan oder dem Irak und Syrien kennen. Steppen und Agrarlandschaften, Textilwerkstätten sowie Mosaiken und Bilder von Ruinen und alten Heiligtümern und zahlreiche Karten und Tafeln veranschaulichen den Austausch von Glaubensinhalten, Wissensbeständen und Motiven. So finden sich die in einem Kreis angeordneten drei Hasen, die jeweils ein Ohr gemeinsam haben, in China und Zentralasien ebenso wie im mittelalterlichen elsässischen Weissenburg sowie in Deutschland in Synagogen des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit diesen Bildern der alten Seidenstraße vor Augen verliert die neue seit 2013 von China betriebene Seidenstraßeninitiative jeden Schrecken und könnte zur Erwartung von blühenden Landschaften führen.

 

Thierry Meynard, Gerd Treffer, Sancian als Tor nach China. Kaspar Castners Bericht über das Grab des Heiligen Franz Xaver. Regensburg: Schnell & Steiner 2019. 192 S., Hardcover. ISBN 978-3-7954-3455-7. € 39,00

Der Bericht des Jesuiten Kaspar Castner, verfasst kurz vor dem von der päpstlichen Kurie verfügten Ende der Jesuitenmission in China im Jahre 1704, berichtet von den Erlebnissen bei der Errichtung eines Grabmahls für seinen Ordensbruder Franz Xaver, der, bereits im Jahr 1622 heiliggesprochen, vor Erreichen Chinas auf der Insel Sancian im Jahre 1552 dort verstorben war. Die sorgfältige Präsentation dieses Berichtes in deutscher, englischer und chinesischer Sprache mit ausführlichen Anmerkungen würdigt dieses zentrale Zeugnis aus den Anfänger der Jesuitenmission und ist ein Beleg für das weltumspannende und Völker verbindende Wirken der Jesuitenmission in der Frühen Neuzeit. Die so nachgezeichneten Beziehungswege sind bis heute anschlussfähig.

 

Heinrich Geiger, Chinesische Mauern. Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart. Freiburg/München: Karl Alber 2019. 171 S., Hardcover. ISBN 978-3-495-49051-8. € 29,00

Wenn Heinrich Geiger sein neuestes Buch zum Verständnis der inneren Widersprüchlichkeit Chinas „Chinesische Mauern“ betitelt, erinnert dies zunächst an den erwähnten Bestseller der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown, die mit ihrem Buch „Mauern“ von 2018 die weltweit erfolgenden Abschottungstendenzen beschreibt. Doch die erste Assoziation, wonach sich China seit jeher immer wieder zu verschließen scheint, hält nur bei flüchtigem Blick stand. Am Ende seiner facettenreichen Beobachtungs- und Kommentierungstour eröffnet der Autor nämlich, was sich auf den zweiten Blick zeigt: „dass sich die chinesische Kultur von jeher durch eine Beweglichkeit auszeichnet, mit der sie fremde Einflüsse in sich aufzunehmen vermag.“ Es handele sich um eine „unorthodoxe Beweglichkeit, die potentiell alles einschließt, auch das, was außerhalb der chinesischen Mauern liegt.“ (S. 162f.). In sensibler und kundiger Weise zeigt Geiger, wie sich das heutige China trotz des Macht- und Organisationsmonopols der Kommunistischen Partei unter Zuhilfenahme eines „konsultativen Autoritarismus“ den Herausforderungen der Gegenwart stellt, zugegebenermaßen unter Hinnahme großer Opfer, aber auf lange Sicht doch erfolgreich agierend.

Kreativität und Vielfalt als Wiege des Neuen

 

Micro Era. Medienkunst aus China. Bielefeld: Kerber Verlag 2019. 128 S., Softcover. ISBN:978-3-7356-0620-4. € 30,00

Eine Science-Fiction-Kurzgeschichte von Liu Cixin von 1999, deutsch in dem Buch „Die wandernde Erde“, München 2019 erschienen, lieferte den Titel zu einer Ausstellung von Medienkunst aus China im Berliner Kulturforum, auf deren Begleitband hier hingewiesen werden soll. Die unter dem Titel „Micro Era“ präsentierten Arbeiten von vier chinesischen Künstlern zeigen, so die Kuratorin AnnaCatharina Gebbers, „wie zeitgenössische Künstler*innen aus China auf den ökonomischen, politischen, ideologischen, aber auch technologischen Wandel in China seit den 1980er-Jahren reagiert haben“ (S. 7). Dabei war das Experimentieren mit Videokunst eine Reaktion auf den Verdacht, die Kunst im China der Gegenwart sei entweder politisch willfährig oder aber einfach eine vom westlichen Postkolonialismus aufgedrängte Kunstform. Der informative Beitrag von Pi Li über „Die Entwicklung der Videokunst in China“ (S. 9-27) sowie die Vorstellung der einzelnen Arbeiten ersetzen nicht die Videos selbst, aber sie geben doch eine Idee von dieser neuen Kunst und durch Imagination von Zukunftsvisionen einen Eindruck von der Kreativität und Lebendigkeit der Künstler*innen und machen den Leser/Betrachter neugierig auf die Originalarbeiten.

 

Thekla Chabbi, Die Zeichen der Sieger. Der Aufstieg Chinas im Spiegel seiner Sprache. Hamburg: Rowohlt 2019. 192 S., Hardcover ISBN 978-3-498-00111-7. € 25,00

Wie Vielfalt zur Wiege des Neuen wird, ist in China immer wieder erprobt worden – ja China ist selbst erst ein Ergebnis der Vermischung von Verschiedenem. Nichts veranschaulicht dies deutlicher als das Chinesische, die Schrift und die Sprache. Die Geschichte von Sprache und Schrift und zugleich ihre die chinesische Welt zusammenhaltende Funktion wird von Thekla Chabbi in lesbarer Weise dargestellt. Wie in Frankreich sich die Académie française „die Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“ zum Ziel gesetzt hat, so suchen in China seit dem Ende der Kaiserzeit staatliche Institutionen eine Vereinheitlichung und Normierung der chinesischen Sprache und Schrift, worunter Sprecher von Dialekten, vor allem aber Angehörige ethnischer Minderheiten oftmals leiden und woraus insbesondere in konflikthaften Beziehungen wie etwa bei der uighurischen Bevölkerung in Xinjiang gesteigerte Spannungen erwachsen können. In der Sicht solcher Minderheiten führt die Durchsetzung der Standardsprache im Bildungswesen und in den landesweit ausgestrahlten Medien dazu, beim Chinesischen als von den „Zeichen der Sieger“ zu sprechen. Während Angehörige der tibetischen und der uighurischen Völker dies so nennen mögen, gilt für einen großen Teil der zahlreichen zum Teil sehr unterschiedlichen Dialekte Chinas, dass sie sich schon seit langem der chinesischen Schriftzeichen zur Verschriftung ihre Sprache bedienen. Die gesprochenen Sprachen Chinas haben sich gleichwohl eine Kraft und Lebendigkeit bewahrt, die zur fortdauernden Lebendigkeit des Chinesischen beiträgt. „Die chinesische Gesellschaft ist bunt und reich an Ideen, Meinungen, Witz und Subversion, wie es moderne Gesellschaften sind“, so Thekla Chabbi in der Einleitung (S. 13). Und nach vielfältigen Streifzügen durch die Erscheinungsformen von Schrift, Sprache und Normierungsbemühungen schreibt sie im Kapitel „Macht“: „Vor der Heterogenität der globalisierten Welt können die Chinesen keine Angst haben. Sie kennen sich aus mit der Heterogenität, wissen mit ihr umzugehen, sie zu nutzen, gut vorbereitet auf eine unübersichtliche Zukunft. […] Die Ambivalenz, auch die Ambivalenz der Sprache, ist ihnen in jedem Augenblick gegenwärtig, ihr Potenzial, Macht auszuüben und die Macht zu unterwandern.“ (S. 173 f.) Ein kluges und zu einem Lesegenuss einladendes Buch.

 

Li Yuming, Li Wei (Eds.), The Language Situation in China. Vol 4. 2012-2013 [Language Policies and Practice in China 6]. Berlin: de Gruyter 2019. XIV+332 S., ISBN 978-1-5015-1741-9. € 129,95

 

Guangshu Cao, Hsiao-jung Yu (Eds.), Language Contact and Change in Chinese. Berlin: de Gruyter 2019. VIII+255 S., ISBN 978-3-11-061006-2. € 99,95

Zwei Bände aus verschiedenen Reihen „Language Policies and Practices in China” und „Trends in Chinese Linguistics” stellen sich dem Umstand, dass in China mit seinen nach offizieller Zählung 56 Ethnien mehr als einhundert Sprachen, davon etwa 30 mit jeweils eigener Schrift, existieren. Diese Vielfalt bedeutet nicht nur ein hohes Potential, sondern auch eine Verpflichtung zur Respektierung und Bewahrung dieser zum Teil nur von kleineren Gruppen gesprochenen Sprachen. Denn die bereits seit dem Beginn der Republikzeit vor über hundert Jahren intensiv verfolgten Bemühungen um eine nationale StandardSprache geraten nicht selten in Widerspruch zum Schutz und der Erhaltung von Minderheiten-Sprachen, zumal Anstrengungen zur Verbreitung des Hochchinesischen („Putonghua“) als Ausdruck der Vereinnahmung durch die Ein-China-Politik verstanden wird. Neben zahlreichen Spezialuntersuchungen und detaillierten Berichten, etwa zur Sprache in den sozialen Medien oder bei der Armee, finden sich in dem Band zur Lage der Sprachen auch allgemein programmatische Texte zum Umgang mit ethnischer, sprachlicher und kultureller Vielfalt, so auch zum Umgang mit der Sprachensituation in Xinjiang (S. 317320). Hier stehen programmatische Texte allerdings oft im Widerspruch zur gelebten von der Kommunistischen Partei verfolgten politischen Praxis. – Der andere Band zum Sprachkontakt und Sprachwandel ist eher historisch orientiert und beginnt mit dem sprachbildenden Einfluss bei der Übersetzung buddhistischer Texte ins Chinesische sowie mit dem Sprachwandel im Mittelalter überhaupt, dann aber auch mit den Folgen von Zweisprachigkeit, etwa in Minderheitengebieten. Angesichts des Verlustes von Vielfalt in den hochindustrialisierten Ländern seien jedem, dem die sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt Chinas am Herzen liegt, diese Studien wie eine weiter gehende Beschäftigung mit Chinas Sprachenvielfalt empfohlen.

 

Thomas Maissen, Barbara Mittler, Why China did not have a Renaissance – and Why that Matters. An Interdisciplinary Dialogue. Berlin: de Gruyter2018. XVII+240 S., ISBN 978-3-11-057396-1. € 68,95

Der Notwendigkeit einer nicht nur interdisziplinären, sondern auch transkulturellen Beschäftigung mit zentralen Fragen ideengeschichtlicher Verständigung widmet sich eine „Critical Readings in Global Intellectual History“ benannte Reihe, deren erster Band sich in vergleichender Perspektive der Frage widmet, warum China keine Renaissance gehabt habe. Auf diese Frage einzugehen ist das westliche Publikum gegenwärtig, insbesondere nach dem Erfolg der unter dem Titel „Der Morgen der Welt“ erschienenen „Geschichte der Renaissance“ von Bernd Roeck (2017) bestens vorbereitet. Da mag es als Vorteil gelten, dass die beiden Hauptautoren intermittierend ihre Ansichten und Einsichten vortragen. Doch wie es der Epilog selbst ausspricht, ist das Buch nichts als ein begonnener Dialog, der sicher gewonnen hätte, wenn sich die Autoren über die historiographische und begriffsgeschichtliche Perspektive hinaus reflexiv intensiver auf jene „Renaissance“ eingelassen hätten, die in Europa gerne als „Der Morgen der Welt“ bezeichnet wird und als Aufbruch in die Europäisierung derselben gelten muss – mit allen bis in unsere Gegenwart reichenden Folgen.

Dynamik in den Randzonen

 

Thilo Diefenbach (Hrsg.). Kriegsrecht. Neue Literatur aus Taiwan. München: iudicium 2017. 452 S., ISBN 978-3-86205-510-4. € 34,00

 

Cheng Chiung-ming, Gedanken in Weiß. Gedichte aus Taiwan. Aus dem taiwanesischen Chinesisch von Thilo Diefenbach. München: iudicium 2019. 192 S., ISBN 978-3-86205-613-2. € 20,00

Der Titel „Kriegsrecht” der Anthologie von Literatur aus Taiwan bezieht sich auf die Zeit der dreißig Jahre zurückliegenden Militärdiktatur, die erst 1987 beendet wurde. Nach einem halben Jahrhundert japanischer Kolonialherrschaft hatte Taiwan fast ein weiteres halbes Jahrhundert Kriegsrecht erlebt, eine Zeit, in der die Ein-China-Doktrin in Taiwan vehementer vertreten wurde als irgendwo sonst. Daran hat sich in den letzten 30 Jahren vieles geändert, und dies spiegelt sich in den 30 hier versammelten Prosatexten, von denen einige aus der Spätphase des Kriegsrechts, die meisten aber aus der Zeit danach stammen. Bekannte, aber auch außerhalb Taiwans bisher weniger bekannte Autorinnen und Autoren kommen zu Wort, und man liest sich schnell fest in den Milieustudien und Schicksalsdarstellungen. Auch wenn man gleich in die einzelnen Übersetzungen einsteigen kann, ist die informative Einleitung (S. 9-31) doch empfehlenswert, denn sie thematisiert gleich zu Beginn die Sprachenvielfalt und die literarische Eigenheit Taiwans. Dem Band ist das Gedicht „Der Hund“ des 1948 geborenen Arztes und Schriftstellers Cheng Chiung-ming vorangestellt, dem Thilo Diefenbach eine eigene „Gedanken in Weiß“ betitelte Lyrikanthologie gewidmet hat. Die dort neben das chinesische Original gestellten Übersetzungen von 65 Gedichten Cheng Chiung-mings sind mit den politischen Umständen ihrer Entstehungszeit, aber auch mit ganz persönlichen Erfahrungen des Autors verknüpft, wie „Die Süßkartoffel“ und „Die Mütze“ (S. 77ff.) oder „Vater“ (S. 153).

 

Josef Wieland, Ross Cheung, Julika Baumann Mentecinos (Eds.), Hybridity and Transculturality. Learning about the Case of Hongkong. Marburg: Metropolis 2019. 241 S., ISBN 978-3-7316-1401-2. € 29,80

Ein Beispiel dafür, dass eine zunächst akademisch intendierte Recherche von höchster Aktualität werden kann, ist die aus einem studentischen Projekt zur Transkulturalität an der Zeppelin Universität Friedrichshafen, speziell am dortigen „Leadership Excellence Institute Zeppelin“ (LEIZ) hervorgegangene Publikation zum Thema Hongkong, herausgegeben von Josef Wieland, dem Leiter des LEIZ, Ross Cheung, dem Projektleiter, sowie der auf „transcultural competence“ spezialisierten Julika Baumann Mentecinos. Aufgrund seines besonderen Status seit der Übergabe an die Volksrepublik China hatte sich Hongkong als langjährige britische Kolonie und zugleich eng verbunden mit der kantonesischen Kulturwelt als ein Ort ganz besonderer Art als Forschungsgegenstand angeboten. Allerdings haben die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen dazu geführt, dass die Annahme einer stabilen Fortschreibung der Verhältnisse nicht mehr gesichert erscheint, wie der Beitrag „The History and Transformation of Hong Kong’s Elites“ von Max Röcker vor Augen stellt (S. 61-103). Es wäre erfreulich, wenn die hier begonnenen Studien fortgeführt und auch die sozialen und kulturellen Dimensionen der seit dem Sommer 2019 verstärkt in Aktion tretenden Protestkultur berücksichtigt würden. Dies umso mehr als, wie manche Beobachter vermuten, solche Protestkulturen, wie sie sich in Hongkong zeigen, auch in anderen Teilen der Welt von den Rändern her Herrschaftsstrukturen aufzulösen beginnen.

 

Martin Winter, China 2049. Wie Europa versagt. München: Süddeutsche Zeitung Edition 2019. 304 S., ISBN 978-3-86497-525-7. € 19,90

Angesichts solcher Dynamiken und immer wieder aufflammender Protestbereitschaft der Menschen in China, für die Partizipation eine Grundforderung darstellt, ist die Lektüre einer China als Gefahr für andere bezeichnenden Darstellung irritierend, wenn nicht ein Ärgernis. Zu Beginn der Lektüre des im Verlag der Süddeutschen Zeitung erschienenen Buches von Martin Winter, welches von dem Versuch Chinas spricht, „dem liberalen, westlichen Modell von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu bereiten“, lohnt es sich, einen Schritt zurück zu treten. Wenn man China länger beobachtet hat, ergibt sich nämlich ein anderes Bild, und als Europäer wissen wir, dass die Geschichte genau in eine andere Richtung zu lesen ist: Der Westen will seit über hundert Jahren dem Rest der Welt sein Modell aufdrücken und hatte zugleich an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit außerhalb seiner Grenzen ganz und gar kein Interesse. Dies belegt die Geschichte von Indonesien über Hongkong bis in den zentralafrikanischen Kongo. Die früheren kolonialen Strategien wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts abgelöst durch den US-amerikanischen Ansatz, den man als neokolonial bezeichnen muss, der nicht darin besteht, Kontrolle über einzelne Territorien zu erlangen, als vielmehr darin, sich einen geostrategischen Vorteil zu sichern. Vor diesem Hintergrund sollte von europäischer Seite die international als BRI (Belt and Road Initiative) bekannte Seidenstraßeninitiative aufgegriffen werden, an der bereits manche euro­päische Firmen partizipieren, die aber zur Neubelebung der von den alten Seidenstraßen vorgezeichneten Korridore auch von diplomatischer Klugheit begleitet und langfristig unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen und regionalen Interessen ausgebaut werden müsste.

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschienen von ihm in der Reihe C.H.Beck Wissen in neuen Auflagen „Das alte China“ (2018), „Der Buddhismus“ (2019) und vollständig neu bearbeitet „Das neue China“ (2020).

Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de

 

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