Kunst, Landeskunde

Kyūdō – der „Weg des Bogens“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2020

 

Rita Németh, Kyūdō im Wandel. Das japanische Bogenschießen von 1900 bis heute. Baden-Baden: Ergon Verlag 2019 (= Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Süd- und Ostasienforschung; Bd. 9), 284 S., Softcover, ISBN 978-3-95650-596-6. € 48,00

Befördert von Romanen und Filmen aus dem Bereich der Populärkultur wie beispielsweise „Die Tribute von Panem” („The Hunger Games”) hat der Bogensport plötzlich bei einer jüngeren Generation ein neues Interesse geweckt. Bei den letzten Olympischen Spielen verzeichneten Übertragungen der Wettkämpfe im (westlichen) Bogenschießen (archery) mit die höchsten Einschaltquoten. Das japanische Bogenschießen (Kyūdō – zu übersetzen als „der Weg des Bogens“) hat damit wenig zu tun, denn es beansprucht, mehr als nur ein Wettkampf um Punkte zu sein. „Im japanischen Kyūdō hat das Treffen der Zielscheibe keine Priorität. Im Kyūdō muss die Schönheit der Harmonie zum Ausdruck kommen.“ So heißt es in einem japanischen Lehrbuch aus dem Jahre 1971, das die Autorin Rita Németh in einer bemerkenswerten Studie über das japanische Bogenschießen zitiert. Diese Form des Bogenschießens zählt zu den traditionellen Kriegskünsten in Japan. Kyūdō wird immer wieder mit dem Zen-Buddhismus oder meditativen Praktiken in Verbindung gebracht und als traditionelles und unveränderliches Kulturgut beschrieben, doch kann davon, wie die Autorin überzeugend zeigt, keine Rede sein. Im Verlauf der vergangenen 100 Jahre hat das Kyūdō sich stark gewandelt, bedingt durch politische und soziale Veränderungen in Japan selbst. Dabei zeigt sich eine Tendenz hin zur Demokratisierung des Sports, wobei es allerdings auch immer wieder Rückbesinnungen auf die älteren religiösen oder philosophischen Grundlagen des Kyūdō gibt. Auch außerhalb des Landes findet Kyūdō mittlerweile viele Freunde und Nachahmer; der Deutsche Kyūdō-Bund feierte im vergangenen Jahr sein 50jähriges Bestehen.

Das Buch, eine Bonner Dissertation aus dem Jahre 2018, ist in zehn Kapitel unterteilt, an die sich ein umfangreicher Anhang anschließt. Das erste Kapitel ist der Frage gewidmet, was Kyūdō eigentlich ist. Es gehört in Japan, wie Kendō oder Jūudō, zum Bereich der Kampf- und Kriegskünste und nimmt im Schul- bzw. Hochschulsport sowie im Breitensport eine mittlere Stellung ein. Der Bogen ist im Vergleich zum westlichen Sportbogen mit 220 cm recht groß und wird im unteren Drittel gehalten. Geschossen wird auf eine 28m entfernte Zielscheibe. Die Bewegungsabläufe sind komplex und stark reglementiert. Der Übungsraum (kyˉudˉojˉo) strahlt Ordnung und Ruhe aus; er fördert die Konzentration und er wirkt, so die Autorin, „wie eine Insel in Raum und Zeit“ (S. 26). Zahlreiche Abbildungen im Buch dokumentieren dies anschaulich. Am Beginn und Ende eines Trainings steht die Verbeugung vor einem Objekt mit Symbolgehalt, gelegentlich vor der Nationalflagge. Außerdem sei im Übungsraum eine „militärische Haltung“ notwendig; die Verbeugung als Ausdruck des Respekts soll in Ansehung „der Zeit, dem Ort und Rang des Gegenübers ausgeführt werden“, wie die Autorin aus dem aktuellen Regelwerk des Japanischen Kyūdō Verbandes auch heute noch ein militärisches Denken in Hierarchien zum Ausdruck.

In den folgenden drei Kapiteln geht es auf 40 Seiten um die methodischen Vorgehensweisen der Studie und um den Forschungsstand – ein etwas sperriger Teil, der den Zugang zu den folgenden historischen Kapiteln erschwert. Diese Kapitel fördern eine Fülle hochinteressanter Quellen und Erkenntnisse zutage. Die Verf. beschreibt eindringlich und auf einer breiten Materialbasis die historischen Formen des Bogenschießens, die zum Teil zeremonieller, zum Teil militärischer Natur waren. Besonders beliebt waren in der Tokugawa-Zeit (1603–1867) Wettkämpfe vor Tempeln. Mit der „Öffnung“ des Landes gegenüber dem Westen verlor das Bogenschießen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Faszination. Man war eher an moderner, westlicher Militärtechnologie interessiert. Das änderte sich aber um 1900, als es zu einer konservativen Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Traditionen kam. Davon hat auch das japanische Bogenschießen profitiert. Im ersten Drittel des 20. Jahrhundert kam es zur Bildung nationaler Verbände und zu einer Standardisierung des Regelwerks. Das war nötig, weil Kyūdō nach den Regeln mehrerer Schulen praktiziert wurde. Die militärische Komponente dieser „Bewegungsübung“ wurde beibehalten; sie wurde aber durch die Pflege körperlicher Gesundheit und der Ausbildung des Charakters ­(Tugendhaftigkeit) ergänzt. In der Zeit von Nationalismus, Imperialismus und Militarismus, insbesondere in den Jahren des Kriegs gegen China und die USA zwischen 1937 und 1945, spielte Kyūdō im Rahmen der allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Das war einer der Gründe, wieso die alliierten Besatzungsmächte nach 1945 die Ausübung von Kyūdō und anderen Kampfsportarten für einige Jahre verboten haben. Aber noch während der Besatzung, im Jahre 1949, wurde der nationale Kyūdō-Verband wieder ins Leben gerufen. Er hat sich die Förderung und Verbreitung des Kyūdō als Teil der „charakteristischen traditionellen Kultur Japans“ zum Ziel gesetzt. Neue Lehrbücher ab 1953 betonten die Bedeutung des Kyūdō für die Konzentrationsfähigkeit, die Körperhaltung und die mentale Stärkung der Schützen. Kyūdō gehört zum festen Lehrplan der Schulen im Bereich der Leibeserziehung, wobei insbesondere Mädchen dem Kyūdō den Vorzug vor etwa Jūdō oder Kendō geben. Diese Entwicklungen hin zu einer Demokratisierung und „Versportlichung“ des Kyūdō zeichnet die Autorin auf der Basis einer gründlichen Auswertung von japanischen Quellen (Büchern und Zeitschriften) überzeugend nach. Dass sie die Chronologie des Kyūdō nach 1945 schlicht in Jahrzehnte unterteilt, überzeugt nicht immer, da man die Zäsuren der neueren japanischen Geschichte eigentlich anders setzen müsste. So stehen für die Verf. die 1980er Jahre für eine Kritik an den alten Idealen des Kyūdō, während die 1990er die Persönlichkeitsbildung und die 2000er Jahre eine „glückliche Lebensführung“ ins Zentrum des japanischen Bogenschießens stellen. In der scharfen Gegenüberstellung von Kyūdō und westlichem Bogenschießen tappt die Verf. in die Falle ihrer Quellen. Auch in Japan hat das westliche Bogenschießen eine große Anhängerschaft und verfügt seit dem Kriegsende über eine entsprechende Organisation. Nicht allen japanischen (und ausländischen) Bogenschützen fällt das rituelle Verbeugen vor der Nationalflagge vor und nach den Übungsstunden im Kyūdō leicht. Kritische Stimmen, die in diesem Buch etwas zu kurz kommen, monieren mit Blick auf das Kyūdō (und andere Kampfsportarten) die nach wie vor starke Bindung an Militarismus und Nationalismus. Ein Denken in hierarchischen Kategorien ist für die japanische Gesellschaft insgesamt typisch und keine Besonderheit des Kyūdō oder Kendō.

Nachdem der deutsche Philosoph Eugen Herrigel (1884– 1955) in seinem wirkungsmächtigen, in 24 Sprachen übersetzten Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ (1948) das Kyūdō stark idealisiert, ja mystifiziert hatte, zeichnet sich der hier besprochene Band dadurch aus, die verschiedenen kulturellen, philosophischen und sportlichen Facetten des Kyūdō in ihrem historischen Wandel nüchtern und auf breiter Quellenbasis nachgezeichnet zu haben. Es handelt sich um eine hervorragende wissenschaftliche Untersuchung, die unter an Japan und am Bogenschießen Interessierten ihre Leser finden wird. (wsch) ˜

Wolfgang Schwentker (wsch) ist Professor em. für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka und Mitherausgeber der Neuen Fischer Weltgeschichte.

schwentker@hus.osaka-u.ac.jp

 

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