Kulturgeschichte

Kulturgeschichte

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2021

Pavel Richter: Die Wikipedia-Story. Biografie eines Weltwunders. Frankfurt: Campus 2020. 232 S., Kt., ISBN 978-3-593-51406-2, € 22,95

Ich erinnere mich noch gut: Als in den späten 1970er Jahren nach und nach die Bände des Meyerschen Konversationslexikons erschienen, nahm mein Vater jeden einzelnen Band sofort nach dem Eintreffen zur Hand, verzog sich in seine Bibliothek und las dort (mehr oder weniger gründlich) den gesamten Inhalt von A bis Z durch… Tempi passati: Meyer fusionierte 1984 mit Brockhaus, wo in den Jahren 2005/06 die letzte, 30bändige Printausgabe erschien. Seitdem gibt es im deutschsprachigen Raum kein gedrucktes Großlexikon mehr.

Pavel Richters flüssig geschriebenes und gut gegliedertes, zudem handliches und gut aufgemachtes Buch schildert sozusagen aus erster Hand, wie es zu diesem Medienbruch kam – nicht zuletzt durch Wikipedia, das neue, auf dem Internet mit seinen Möglichkeiten basierende, aber vor allen Dingen kostenlose Angebot eines „allumfassenden Wissens“, zusammengetragen und betreut von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Richter, der mit sympathischer Offenheit die Stärken und Schwächen des Systems beschreibt, muss es wissen, war er doch in den Jahren 2009–2015 Geschäftsführer des deutschen Zweigs der kalifornischen Wikimedia Foundation, einer Gründung der Internetlegende Jimmy Wales, der Jahr für Jahr durch persönliche Aufrufe auf seinen Webseiten für den nötigen Spendenzufluss sorgt. Spendenfinanzierung, Werbefreiheit, eine offene Software und die Möglichkeit für jedermann (oder -frau), sein Wissen fast ohne Computerkenntnisse in ein weltweites Lexikon einzubringen sorgten seit der Gründung im Jahr 2001 für ein rasantes Anwachsen der Artikelzahlen, der Zugriffe und der Sprachableger. Heute sind es über 300 Versionen, mit denen das Nachschlagewerk nahezu überall vertreten ist; die deutschsprachige Version nimmt dabei an Artikelzahl die zweite Stelle nach der englischen ein, die freilich die gesamte angelsächsische Welt sowie weite Teile von Afrika und Asien abdeckt. Die Wikipediaseiten, die schon im Jahr 2010 365 Mio. mal aufgerufen wurden, haben heute 11 Millionen Besucher – täglich. Pavel Richter, in dessen Ära das deutschsprachige Online­ lexikon einen Aufschwung ohnegleichen verzeichnete, hatte bei den zu einem Verein zusammengeschlossenen Wikipedianern mit immer stärkerem Gegenwind zu kämpfen und musste gehen – zu tief war der Graben zwischen dem erfolgsorientierten Manager, der heute den Bundesverband Deutscher Stiftungen vertritt, und den Ehrenamtlichen. Es folgte ein Interregnum, bis 2016 angesichts des Umfangs des Projekts mit seinen mehr als 50 Mitarbeitern und einem Millionenetat doch wieder ein Geschäftsführer angestellt wurde – ein Vorgang, wie er für Vereine nicht ganz untypisch ist. Für Empfindlichkeiten hat unser Autor jedoch keine Ader, und seine Übersicht über die Ziele, das Wachstum, die Stärken und Schwächen des ­Lexikons kommen ausgewogen, sachlich bis humorvoll und immer mit einem Schuss Selbstkritik daher – für sein Erstlingsbuch eine beachtliche Leistung!

Schien der Erfolg in der Vergangenheit das unkonventionelle Vorgehen des Wikipedia-Gründers zu rechtfertigen, so zeigen sich – das deutet Richter an – heute Diskrepanzen. Was mit dem Anspruch auf fairen Zugang zum gesammelten Weltwissen unter Berufung auf die aufklärerische Encyclopédie gestartet war, verfängt sich zunehmend in den Fallstricken des Internets; bei Twitter und Facebook mutierte die Schwarmintelligenz schon einmal zum Flashmob, bei Wikipedia entpuppen sich vermeintlich selbstlose Beiträger als zähe Rechthaber, bezahlte Vielschreiber oder schlicht Verleumder, die das Medium als digitalen Pranger missbrauchen. Das Internetlexikon ist, wie verschiedene TV-Sendungen und Zeitschriftenveröffentlichungen belegen, in den Sog einer anonymen Unverantwortlichkeit geraten. Die „toxische Gruppendynamik“ (Richter), das verantwortungslose in Grund- und Bodenschreiben hat ein Ausmaß angenommen, das inzwischen nicht nur Gerichte und Tagespresse beschäftigt, sondern mit Andreas Mäcklers erschütterndem „Schwarzbuch Wikipedia“ (2020) auch den Buchmarkt erreicht hat.

Zwar hatte die deutsche Wikipedia, um die ausufernden edit wars – Auseinandersetzungen um die Hoheit über bestimmte Artikel –, Vandalismus und Fehlinformationen zu begrenzen, schon früh Schlichter und Administratoren eingesetzt – mit beachtlichem Erfolg. Ohne die aufwändige Mitarbeit dieser „Hausmeister“ (so Richter) wäre das erfreulich uneigennützige, aber durch seine Offenheit auch verletzliche Projekt Wikipedia wohl schon lange in der verbalen Anarchie versunken. Wer wird sich diese Sisyphusarbeit in Zukunft aber noch antun? Auch den AutorInnen dürfte es immer weniger einleuchten, warum sie ohne Entgelt Datenbanken füttern sollen, die das Fundament der Sprechblasen Alexa und Siri bilden und dem Internetgiganten Google seine Snippet-Vorschauen an erster Stelle der Hauptseite ermöglichen.

Ob es die Wikipedia in fünf Jahren noch geben wird? Richter selbst ist sich unschlüssig, und auch der Rezensent würde dafür seine Hand nicht ins Feuer legen. Wenn Wikipedia nicht wie jede Tageszeitung, jedes Werbeblättchen oder jede Webseite mit einem Impressum im Sinn des Pressegesetzes Verantwortung für die Inhalte übernimmt – Gemeinnützigkeit hin oder her – und zugleich mit der Arbeit seiner Ehrenamtlichen sorgsamer umgeht, könnte es eng werden für ein Wissens- und Bildungsprojekt, das in der Tat seinesgleichen sucht. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und kann auf mehr als 500 wikipedia-Bearbeitungen zurückblicken.

thkohl@t-online.de

 

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