Landeskunde

Kühne Reisende

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2018

1956 gründet Horst Erdmann den „Verlag für Internationalen Kulturaustausch“, der 1967 unter dem Namen „Horst Erdmann Verlag für Internationalen Kulturaustausch“ fortgeführt wird und nach mehreren Eigentümerwechseln den Namen „Edition Erdmann“ trägt. Seit seiner Gründung verlegt er über 150 historische Reiseberichte, von 1976 bis 1986 erscheint eine zehnbändige „Bibliothek arabischer Klassiker“. Zu den verlegten Autoren gehören u.a. Roald Amundsen, Sven Hedin, Alexander von Humboldt und Robert Falcon Scott. Seit 2012 widmet sich der Verlag sukzessive der Veröffentlichung der einhundert bedeutendsten Entdecker.

Die einprägsam gestaltete, von Susanne Gretter herausgegebene Reihe DIE KÜHNE REISENDE, für die der Verlag den „ITB Berlin Buch Award 2017“ erhält, stellt Frauen unterschiedlicher Herkunft und Lebensverläufe vor, die in Büchern über ihre Reisen in ferne Länder berichten. Der Bildungshunger der Schriftstellerinnen und ihres Publikums und die Tatsache, dass Literatur über ferne Länder Mangelware ist, lässt diese Veröffentlichungen allesamt zu Klassikern unter den Reiseberichten werden. Diese Frauen sind wirklich kühne Reisende. Vier Beispiele zeigen dies.

Frances Calderón de la Barca: Viva Mexiko! Im Wirbel der Revolution. Wiesbaden: Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, 2017. 331 S. ISBN 978-3-7374-0040-1. € 24.00

Die protestantische Schottin Frances Erskine Inglis (1804– 1882) wächst in Edinburgh auf. Nach dem Tod ihres Vaters 1830 emigriert die Mutter mit den erwachsenen Kindern nach Boston, sie gründen dort eine Mädchenschule. Frances arbeitet als Lehrerin, verfasst ihre ersten Bücher, zieht nach New Brighton und lernt den Katholiken Ángel Calderón de la Barca kennen, seines Zeichens bevollmächtigter Gesandter der spanischen Königin in Washington. Beide heiraten 1838, sie ist nun Frances Calderón de la Barca und tritt zum Katholizismus über. Ein Jahr später wird ihr Mann Gesandter der spanischen Krone in Mexiko, Frances begleitet ihn.

In die Zeit des Aufenthaltes in Mexiko von 1839 bis 1842 fallen zwei Revolten. Der Ausgangspunkt: „Die Spannungen innerhalb der Mexikanischen Gesellschaft – hervorgerufen durch den zwischen 1810 und 1824 geführten Unabhängigkeitskampf, den letzten Versuch der Spanier, Mexiko 1829 zurückzuerobern, die erst Jahre später erfolgte politische Anerkennung der Mexikanischen Republik, die bereits am 4. Oktober 1824 ausgerufen worden war, die disparaten Programme und die Machtkämpfe innerhalb der kurzlebigen, instabilen Regierungen – entladen sich auch während der beiden Jahre, in denen sich Fanny in Mexiko aufhält.“ (S. 19) Frances reist in Begleitung ihres Mannes, aber auch allein, quer durch das Land, auch dorthin, wo Gefahren lauern. Sie beschreibt diese Zeit in Briefen an Freunde und Familienmitglieder, die in dem 1843 erscheinenden Buch „Life in Mexico. During a residence of two years in that country“ in 36 Briefen zusammengefasst werden. Der Leser erhält durch die erstaunlichen historisch-politischen Kenntnisse der Autorin in spanisch-mexikanischer Geschichte Einblicke in eine sehr unruhige Zeit. In Ermanglung anderer Veröffentlichungen über Mexiko aus dieser Zeit ist dies eine willkommene Bereicherung der historischen Literatur.

Frances reist durch das Land, sie lernt die politische Elite kennen, sie kommt mit Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten zusammen („heute sind die Indianer nichts als Knechte, die Holz hauen und Wasser tragen – in einem Land, als dessen Könige sie einst herrschten“, S. 205), sie schließt Bekanntschaft mit Dichtern und Schriftstellern und Freundschaften mit katholischen Ordensschwestern, „die ihr den Zugang zu Konventen und die Teilnahme an verstörenden Ritualen und Zeremonien ermöglichen“ (S. 17), sie schaut sich in Kinderkrippen, Gefängnissen und Irrenhäusern um, sie besucht Schulen und Lehranstalten, sie zeigt ein besonderes Interesse am Leben der Frauen, sie analysiert die Bildung im Lande („Es gibt nur eine Tageszeitung in Mexiko … die offizielle Verlautbarung der Regierung, gespickt mit Verfügungen und Dekreten … Es gibt keine Leihbibliotheken in Mexiko. Bücher kosten doppelt so viel wie in Europa. Nützliches Wissen gelangt nicht unter die einfachen Leute.“, S. 76-177).

Nun liegt das Buch zum ersten Mal in deutscher Sprache vor, übersetzt, bearbeitet, mit Anmerkungen und einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski. Ein großartiger Reisebericht, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Zur Biographie von Frances nach dem Aufenthalt in Mexiko: Ihr Mann wird 1843 nach Madrid zurückbeordert und wird „Senator von Spanien“. Nach dem Tod ihres Mannes 1861 wird Frances von der spanischen Königin mit der Erziehung der neunjährigen Infantin Isabel de Borbón betraut. Sie stirbt 1882 in Madrid.

 

Isabella Bird: Durch die Wildnis der Rocky Mountains. Allein unter Goldgräbern und Desperados. Wiesbaden: Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, 2017. 281 S. ISBN 978-3-7374-0041-1. € 20.00

Isabella Bird (1831–1904) wächst in Yorkshire in einem Pastorenhaushalt auf. Durch eine Wirbelsäulenerkrankung gehandicapt, vergräbt sie sich in die Literatur, mit 16 verfasst sie ihren ersten Essay, eine Analyse von Freihandel und Protektionismus, der in einer kleinen Auflage gedruckt wird. Der Vater schickt sie 1854 auf ärztlichen Rat hin auf eine Seereise zu Verwandten nach Kanada, ein von ihr verfasster Reisebericht erscheint anonym 1856 unter dem Titel „The Englishwoman in America“ und erhält viele positive Kritiken. Isabella entdeckt die heilsame Wirkung des Reisens. Viele weitere Reisen folgen, u.a. nach Schottland, Australien, Japan, China, Vietnam, Korea und China, die letzte Reise führt sie 72jährig nach Marokko, wenige Monate später stirbt sie.

Reisen, Forschen, Lesen und Schreiben ist ihr Lebensinhalt. Mit ihren acht Reisebeschreibungen wird Isabella eine anerkannte Reiseschriftstellerin.

Ihr bekanntestes Werk ist „A lady´s life in the Rocky Mountains“, das in deutscher Sprache 1989 erscheint und nun von Klaudia Ruschkowski neu übersetzt, mit Anmerkungen und einem Vorwort herausgegeben wird. Es beruht auf einer 1872 unternommenen Reise. Sie führt Isabella von Neuseeland nach Hawaii, von dort nach San Francisco und schließlich in die Rocky Mountains von Colorado. Sie lernt gänzlich unerforschte Gegenden kennen, sie berichtet von der überwältigenden Schönheit der Natur und vom Kampf gegen deren Unbilden, von Trappern, Pelzjägern, Goldsuchern, Siedlern und Ranchern, von Bären, Wapitis und Schlangen. Sie besteigt den 4345 Meter hohen Longs Peak („Trotz aller Anstrengungen und Schmerzen würde ich die Erinnerung an die vollkommene Schönheit des Longs Peak, an seine außerordentliche Herrlichkeit für keine andere Bergsteigererfahrung in keinem anderen Teil der Welt eintauschen.“, S. 118) und unternimmt zahlreiche Bergtouren.

Zur Biographie ist ergänzend zu berichten, dass Isabellea 1881 den Arzt John Bishop heiratet, 1892 wird sie als erste Frau in die Royal Geographical Society aufgenommen.

 

Ethel B. Tweedie: Ins Land der Sagas und Geysire. Ein wilder Ritt durch Island. Wiesbaden: Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, 2017. 179 S. ISBN 978-3-7374-0038-1. € 18.00

Ethel B(rilliana) Harley (1862–1940) wird in die englische High Society hineingeboren, ihr Vater ist der berühmte Arzt George Harley. In ihrem Elternhaus verkehren Mitglieder der Londoner Gesellschaft und namhafte ausländische Wissenschaftler, ihr Patenonkel ist der deutsche Chemiker Justus von Liebig. Sie besucht u.a. das Queen´s College London. 1886 reist Ethel mit einem ihrer drei Brüder, ihrem zukünftigen Ehemann Alexander Leslie Tweedie (1849–1896), die Hochzeit findet 1887 statt, zwei Freunden und einer Freundin nach Island – um Urlaub zu machen! Das Gegenprogramm zu den Partys in London! Was für ein Wagnis und was für ungewohnte Reise- und Lebensbedingungen für die aus der High Society stammenden Jugendlichen.

Ethel beschreibt in ihrem Reisebericht die faszinierende Landschaft und die Lebensverhältnisse der Menschen und weist immer wieder auf den Unterschied hin zwischen der sog. zivilisierten Welt und dem rückständigen, noch im Mittelalter behafteten Island.

Das große Interesse an dem Buch ist nicht nur auf das Fehlen an ausreichenden Informationen über Island zurückzuführen, sondern auch auf die Verstöße der Reisenden gegen Verhaltensregeln. Ein Skandal beispielsweise ließ auch nicht lange auf sich warten, denn auf dieser Reise begeht Ethel einen schockierenden Tabubruch: sie verschmäht den Damensattel und setzt sich mit gespreizten Beinen auf das Pferd. In der zweiten Auflage des Buches 1894 muss sie sich für diese Missachtung (vermeintlich) unumstößlicher Anstandsregeln erklären: „Darf eine Frau im Herrensitz reiten? Welch erstaunliche Feuersbrunst ein kleiner Funken auslösen kann.“ (S. 19) In der Diskussion obsiegt die Sittsamkeit und die Frauen reiten weiterhin im Damensattel.

1896 wird Ethels Schicksalsjahr. Zuerst verliert ihr Mann das gesamte Vermögen, dann stirbt ihr Vater und schließlich auch ihr Mann. Plötzlich mittellos muss sie einen Weg finden, sich und ihre beiden Söhne zu ernähren. Die einzige Erwerbsquelle wird das Schreiben, bisher ein Zeitvertreib, jetzt harte Arbeit. Die Liste ihrer Veröffentlichungen ist lang, sie schreibt tausende von Artikeln für Tageszeitungen und Magazine, und sie schreibt Bücher. Die Themen sind sehr breit gestreut – von der Feuerbestattung, Stechmücken und Frauen in Uniform über autobiographische Schriften und eine Biographie über ihren Vater bis hin zu Reisebeschreibungen. Über 30 Bücher sind es geworden.

Was ist geblieben? In Großbritannien gilt Ethel als eine beliebte Reiseschriftstellerin ihrer Zeit, dem Island-Buch folgen weitere u.a. über Norwegen und Finnland. Hier gilt sie auch als Anwalt der Frauen, sie kämpft für das Wahlrecht und für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Und sie arbeitet auch als Fotografin und Malerin.

Was ist noch zu entdecken? Zumindest in Deutschland ist alles noch zu entdecken, auch ihre Rolle als Kämpferin für Frauenrechte, als Fotografin und als Malerin. Schon aus diesem Grund ist die Herausgabe ihres Island-Reiseberichtes eine Bereicherung.

Die Übersetzerin Ebba D. Drolshagen fügt dem Bericht ein wichtiges Vorwort hinzu.

 

Freya Stark: Auf der Weihrauchstraße. Eine Reise durch das südliche Arabien. Wiesbaden: Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, 2017. 376 S. ISBN 978-3-7374-0037-4. € 24.00

Freya Stark (1893–1993) ist die jüngste, an Jahren älteste und auch bekannteste der hier vorgestellten Frauen. Freya wächst in einem weltoffenen Haus auf, der Vater stammt aus Devon, die Mutter ist Italienerin deutsch-polnischer Abstammung. Sie beherrscht mehrere Sprachen, studiert Geschichte in London, dient während des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester in Italien. Mit diesem Hintergrund entwickelt sie sich zu einer unkonventionellen Frau, die sie zu einer bedeutenden und heute noch viel gelesenen Autorin macht.

Zwischen 1927 und 1979 bereist Freya vorwiegend den Nahen Osten und verfasst mehrere Bücher über ihre Reisen. Ihre erste Reise führt sie in den Libanon und nach Damaskus. 1930 reist sie nach Persien in die noch unerforschten Täler der Assassinen, das über diese Reise verfasste Buch begründet ihren Ruf als Forschungsreisende und Reiseschriftstellerin. Weitere Reisen führen sie u.a. nach Bagdad und zu den Beduinen, nach Transjordanien, in den Irak und den Jemen, nach Ägypten und – mit 86 Jahren – in das Gebirgsmassiv des Annapurna im Himalaja.

Die meisten Reiseberichte erscheinen auch in deutscher Sprache, so The Southern Gates of Arabia 1948 als Die Südtore Arabiens. Abenteuerliche Reise einer Europäerin auf den Spuren der Weihrauchstraße, übersetzt von Hans Reisiger (1884–1968), 1992 und öfter neu bearbeitet von Nicola Volland – und nun unter dem Titel Auf der Weihrauchstraße. Eine Reise durch das südliche Arabien. Diese Ausgabe basiert also vom Text her ausschließlich auf der 1948er und 1992er Auflage, ergänzt um einen ausführlichen Anhang mit einem längeren vorzüglichen Beitrag über die Weihrauchstraßen Südarabiens und einer Nachbemerkung über das Ergebnis der Reise. Leider fehlen diese Editionshinweise, es fehlen auch Hinweise auf Freyas Patenkind, den britischen Autor und Islamforscher Malise Ruthven, der zahlreiche Bücher von und über Freya herausgibt.

Zum Inhalt. Im November 1934 bricht Freya in den Süden der arabischen Halbinsel, den heutigen Jemen, auf. Das Buch enthält ausführliche Beschreibungen der Landschaft, der Städte, der Menschen, vor allem viele Informationen zur Geschichte dieser Gegend. Freya ist die erste Europäerin, die sich in das unzugängliche und verschlossene Gebiet der arabischen Halbinsel wagt. Ihr Ziel ist der südliche Teil der mittelalterlichen Weihrauchstraße, die durch das 600 Kilometer lange Hadramaut-Tal führt. Leider gelingt es ihr nicht, auf die tief in der Wüste liegende Hauptstadt des antiken Königreichs Hadramaut, Shabwa, zu stoßen, die am Ostrand der Wüste Ramlat-es-Sayhad liegt und die eine Schlüsselstellung in der Weihrauchstraße einnimmt. Ihr ausführlicher Bericht ist noch heute eine wichtige Informationsquelle. Die großartige Kenntnis des Landes kommt Freya übrigens zugute, als sie im Zweiten Weltkrieg zu einem Stab der britischen Kolonialveraltung gehört, der das 400.000 Quadratkilometer große Hadramaut verwaltet.

Ergänzend zu Freya noch folgende Bemerkungen. Neben Reiseberichten verfasst sie u.a. Bücher über die Türkei, Mesopotamien und Alexander den Großen. 1947 heiratet sie den englischen Diplomaten Stewart Perowne (er verfasst u.a. das auch heute noch viel gelesene Buch „Die Reisen des Apostel Paulus“), die Ehe hält nur vier Jahre, 1972 adelt sie Elisabeth II., sie kann sich seitdem Freya Madeline Stark nennen. Die letzten Jahre verbringt sie in Asolo.

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Biblio theksdirektor an der Berg akademie Freiberg und von 1989 bis 1990 General direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin.

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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