Thorsten Moos: Krankheitserfahrung und Religion. Tübingen: Mohr Siebeck, 2018. 707 Seiten. Fadenbroschur. ISBN 978-3-16-155945-7. € 59,00
Thorsten Moos, Jahrgang 1969, ist seit Herbst 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Diakoniewissenschaft und Systematische Theologie / Ethik am Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. Für dieses Lehramt habilitierte er sich mit der Arbeit „Krankheit als Thema der Systematischen Theologie“, die im Sommersemester 2017 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde und die, geringfügig redigiert, seit Frühjahr 2018 gedruckt vorliegt. In ihr sind Erkenntnisse versammelt, die Moos in Forschungsprojekten unter anderem zu Diakonischer Kultur und Klinikseelsorge gewonnen hat. Sie beabsichtigt beizutragen nicht nur zu wissenschaftlich-theologischer Vertiefung (Seite 2), sondern – wie die Umformulierung des Titels anzeigt – auch zu praktischer Orientierungsfindung, von individueller Krankheitserfahrung bis hin zu institutioneller Gesundheitswesen-Organisation. Moos konzentriert sich auf schwere somatische Erkrankungen. Er stellt im gegenwärtigen deutschen Protestantismus „Verlegenheiten“ fest, als wäre die Bemühung um Heilung schwerkranker Körper die Domäne medizinischer Expertise – und gottesdienstliche Beteiligung „unstatthaft“ (4). In anderen Weltgegenden kümmern sich Kirchen um körperlich zu Heilende (6, 401-403; Stichwort „Heilungsgottesdienst“ im Sachregister [697-707]).
Einer der raren „Referenzautoren“ innerhalb der Theologie zum Thema Krankheit ist Friedrich Schleiermacher (11). Moos hat über ihn gearbeitet (2015a „Lebenshemmungen. Die Lehre vom Übel bei Schleiermacher und Ritschl“, im Literaturverzeichnis [603-682]) und die Auseinandersetzung in die Habilitationsschrift aufgenommen (214-229; das Personenregister [683-695] hilft zu finden, wo Moos sich auf welchen Autor bezieht). Es verlockte mich, Schleiermachers „Lehrstükk vom Uebel“ in „Der Christliche Glaube“ von 1830/1822 §§ 75-78 nachzulesen. Gestörte „Zusammenstimmung“ des Menschenlebens mit der „Vollständigkeit und Stetigkeit des Naturzusammenhanges“ in der Welt als Übel zu erfahren, zeigt, dass das „Gottesbewusstsein“ im Menschen ausgesetzt hat. Schleiermacher gab seiner Glaubenslehre als Motto den Ansatz Anselm von Canterburys (†1109), den Karl Barth 1931 meditierte: „Fides quaerens intellectum“, ‚des Glaubens Verlangen nach Einsicht‘, kann Theologie, menschliches ‚Wort von Gott‘, zu Krankheit ergeben. Aber wir sind nicht im 11. noch im 19. noch im 20. Jahrhundert. Moos muss heute und hier, Anfang des 21. Jahrhunderts in Deutschland, Theologie treiben (25). Ähnlich wie Schleiermacher, der betrachtete, was beim Zustoßen von Beeinträchtigung geschieht, betrachtet Moos das Verhalten von Betroffenen zu ihrer Krankheit und das Verhalten zu von Krankheit Betroffenen – und befragt die Weise des Aufnehmens des Widerfahrenden nach Religion. Im Kontext seiner Arbeit soll Religion die Ausrichtung des Menschen über Alltagswichtigkeiten hinaus auf „als höherrangig verstandene Wirklichkeit“ meinen (22), die ‚unbedingt‘ vorausgesetzt, aber nie ganz erreichbar ist. Die „Leitdifferenz von Ganzheit und Partikularität“ (23, 575) – die währende Spannung zwischen dem Aus-Sein aufs Ganze und dem Nicht-Alles-haben-Können – mit „religiöser Rationalität“ wahrzunehmen (2, 602), schlägt Moos als Orientierung im Umgang mit Krankheit vor. Moos entwickelt im Gespräch mit Autoren unterschiedlicher Disziplinen (Teil 2, 33-118) eine Matrix aus vier „Ebenen“ des Erfahrens von Krankheit und vier „Grundproblemen“ des Umgehens mit Kranken. „Ebenen“: Im Körper des Menschen (1.) und zwischenmenschlich (2.) stimmt etwas nicht mehr zusammen; der Mensch ist verunsichert, ob (3.) und wie lange (4.) er sich noch behelfen können wird. „Grundprobleme“: Im Krankheitszustand bedarf der Mensch in gesteigertem Maße, dass ihm Verstehen (A) entgegengebracht, seine Würde (B) anerkannt, Gesundheit (C) herbeigeführt wird oder durch Sorge (D) anderer für ihn geschieht, was er nicht mehr vermag. Die Wechselbeziehungen dieser vier mal vier Elemente nimmt Moos aus fünf „Theorieperspektiven“ in den Blick: Er lässt Menschen zu Wort kommen, die ihr Erkranken und Kranksein literarisch verarbeitet haben (a), referiert Wissen über Krankheiten (b), berichtet von religiösem Verhalten zu Krankheit (c) und reflektiert es systematisch-theologisch (d), um schließlich die Institutionalisierung des Umgangs mit Krankheit im Gemeinwesen (e) in den Blick zu nehmen. (26-31) Dieses dreidimensionale Forschungsdesign zeichnet er als fast perfekten Würfel (30) – fast, nicht ganz; seine Arbeit präsentiert nichts Abgeschlossenes, sondern ist offen für weiteres Bedenken (31f, 600-602). Die „Grundprobleme“ sind die Themen der Teile 3 bis 6. Aus der Fülle des von Moos Gebotenen tippe ich nur ganz Weniges an.
Teil 3 „Krankheit verstehen: Die Erfahrung Kranker“ (119271). Kranke erheben „Klage“, die nicht in Lob umschlägt. Krankheit ist nicht immer und überall dasselbe, sondern unterschiedlich je nach dem ‚kulturell‘ Selbstverständlichen. Als krankhaft wurde die Fluchtneigung eines Sklaven, „Drapetomanie“, in der Sklavenhaltergesellschaft diagnostiziert. Gegenwärtig ist anderes Kranksein arbeitsrechtlich relevant. Teil 4 „Die Person anerkennen: Die Würde Kranker“ (272374). Das „religiöse Symbol unbedingter Anerkennung durch Gott“ hält bewusst, dass soziale Anerkennungsbeziehungen so umfassend wie möglich sein sollten. Die Würdigung Versehrter durch die mit ihnen Umgehenden lässt gegenseitiges Vertrauen entstehen und kann Ansprüche in erfüllbaren Grenzen halten.
Teil 5 „Auf Gesundheit hoffen: Die Heilung Kranker“ (375477). Die Erfahrung des Krankseins weckt Hoffnung auf ‚utopisches‘ Gesundsein, auf vollkommenes Wohlbefinden, ja auf ‚Glückseligkeit‘. Von dieser Hoffnung ex negativo her hält Moos die Gesundheitsdefinition der World Health Organisation, die als ‚unmäßig‘ kritisiert wird – dynamisch vollständiges physisches, psychisches, spirituelles und soziales Wohlergehen –, für „sachgemäß“ (386-399). Der auf ‚unermessliches‘ Gesunden hoffende Mensch kann sich Teilhabe daran wünschen, aber wollen kann er nur das Machbare.
Teil 6 „Über den Tag kommen: Die Sorge für Kranke“ (478567). Pflegende, die sich einsetzen, um für den Kranken Lebensnotwendiges zu verrichten, müssen „basteln“, phantasievoll probierend erfinden, was sie tun können. „Spiritual Care“, Berücksichtigung individuell-religiöser Bedürfnisse, wird neuerdings im Gesundheitswesen erprobt.
Teil 7 (568-602) zieht Folgerungen für Systematische Theologie. Sie findet sich heute vor inmitten einer sich ständig verändernden Wissenschaftslandschaft. Kann sie interdisziplinär kooperieren auf einem kulturellen Feld wie dem des Umgangs mit Krankheit? Sie kann zu dem gemeinsam in den Blick genommenen Problemfeld in die Denkbewegung der Kulturwissenschaften eintreten als Wissenschaft vom überlieferten kulturprägenden Christentum – und darin als wissenschaftliche Reflexionsform von Religion, die Moos sich für diese Arbeit zurechtlegte als Suchbegriff, wie mit der Desintegrationserfahrung Krankheit umzugehen sei an Hand der Leitdifferenz von Ganzheit und Partikularität im Horizont der Idee des Unbedingten. Einleitend hat Moos kurz formuliert (28): „Die religiöse Rationalität im Umgang mit Krankheit liegt, so die Kernthese der Arbeit, darin, die Ausrichtung auf Ganzheit zugleich zu pflegen und sie in Schach zu halten.“ Rückblickend betont Moos, auf eine „lehrmäßige Geschlossenheit“ sei der Gang der Untersuchung nicht hinausgelaufen, vielmehr hätten theologische Topoi sich tendenziell voneinander gelöst (595). Die Erfahrung des Desintegrierens scheint heutiges systematisch-theologisches Denken mit dem vulnerablen menschlichen Körperleib zu teilen – das deutet Moos mit „einem Bonmot der Theologin Helga Kuhlmann“ an (598) – und wie dieser verwiesen zu sein auf zu erhoffendes ‚eschatologisches‘ Geheiltwerden. (it)
Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 nebenamtlich Kolle giums mitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg. itoedt@t-online.de