Kinder- und Jugendbuch

Körper und Seele: Über Gesundbleiben und Gesundwerden

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

 

Ruth Anne Byrne: Ungebremst, 184 S. , Tulipan Verlag, ­München 2022, 14,00 €, ab 12

 

Manuela Inusa: Morgen und die Ewigkeit danach, 311 S. cbt München 2021, 13,00 €, ab 14

 

Piotr Socha (Ill.), Monika Utnik-Strugala (Text): Das Buch vom Dreck. Eine nicht ganz so feine ­Geschichte von Schmutz, Krankheit und Hygiene, 216 S., aus dem Poln. von Dorothea Traupe, Gerstenberg, Hildesheim 2021, 30 €, ab 5

 

Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Hören, 56 S. aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Gerstenberg, Hildesheim 2021, 20,00 €, ab 7

Körper und Seele sind nicht nur unter Erwachsenen zu einem zentralen Gesprächsstoff geworden. Auch Kinder kennen sich – vor allem seit Corona – mit Hygiene, Viren und Ansteckung ber ­ eits gut aus. Behinderungen psychischer und physischer Art sind ihnen seit der Initiative schulischer Inklusion vertrauter geworden. So können Bücher mit solchen Themen junge Leser für ihr ­ en Körper und seine Funktionen sensibilisieren.

Mitleid ist das erste Gefühl, das sich beim Anblick eines Kindes im Rollstuhl einstellt, gleichzeitig das letzte, das die 14-jährige Nina ertragen kann. Ungebremst erzählt die Geschichte dieses sportlichen und energischen Mädchens, das seit einem Reitunfall gelähmt ist. Ungebremst im wahrsten Sinne des Wortes ist Nina keineswegs bereit, ihre Selbständigkeit und ihren Bewegungsdrang aufzugeben. Die durchweg besorgte Mutter, stets auf dem Sprung, der Tochter zu helfen, wünscht sie sich weit weg. Sie hat eine Reha überstanden und den Umgang mit ihrem Rollstuhl erlernt. So erfahren junge Leser, welche Tücken der Alltag für Nina bereithält, in dem es nicht nur um technische Probleme und Hindernisse in Form von Bordsteinen und Stufen geht, sondern auch um allenthalben neugierige Blicke und sogar Hänseleien auf dem Schulhof. Aber Nina beißt die Zähne zusammen, überwindet Ängste und erwirbt sich Respekt. Zunächst wagt sie sich in einen Skaterpark, schließlich sogar auf eine Halfpipe-Rutsche. Ihr vormaliger Erzfeind Frank wird ihr bewundernder Freund und feuert sie bei ihren waghalsigen Unternehmungen an. Heimlich begleiten er und weitere Freunde Nina zu einem riskanten Hindernisrennen für Rollstuhlfahrer. Der Autorin Ruth Anne Byrne gelingt eine spannende Erzählung, in der sich Erfolge und Niederlagen abwechseln. Dass sich am Ende Nina für weiter ­ e Wettbewerbe qualifiziert, sich in Frank verliebt, und sogar die Eltern Nina gewähren lassen, macht diesen Roman trotz seiner behinderten Heldin zu einer optimistischen und unterhaltsamen Lektüre für Kinder bereits ab 12 Jahren.

Für etwas ältere Leserinnen schreibt die Bestsellerautorin Manuela Inusa, die ihren Jugendroman in den U.S.A. spielen lässt. Schauplatz in Morgen und die Ewigkeit danach ist ein Klinikzentrum namens Mount Hopeful für suicidgefährdete junge Erwachsene. Nathalies kleiner Bruder ist bei einem Unfall, für den sie sich schuldig fühlt, zu Tode gekommen. Mit einer Überdosis an Schlaftabletten hat das vollkommen verstörte Mädchen einen erfolglosen Selbsttötungsversuch unternommen. Der Alltag der Klinik, in die sie eingeliefert wird, gleicht dem in einem Gefängnis: Ständige Beobachtung, Parkspaziergänge nur unter Aufsicht, keine Besucher und Beschäftigungstherapien auf Kindergartenniveau. Die täglichen Therapiesitzungen mit der geduldigen Dr. Fynn fruchten nicht, da Nina seit dem Tod ihres Bruders nicht mehr spricht. „Ich habe vergessen, was es heißt, zu leben.“ Aber schließlich tut sich doch eine positive Perspektive auf. Ein neuer Patient namens Lucas taucht auf, die beiden verlieben sich auf den ersten Blick, obwohl Nathalie auf Lucas gewinnende Annäherungsversuche zunächst spröde reagiert. Aber sie beginnt wieder zu sprechen, kann über Schuld und Verlust reden. Auch hinter Lucas steht eine Familientragödie; seine schwer depressive Persönlichkeit gepaart mit Herzensbrecher-Charme überzeugt allerdings nicht wirklich. Nathalie hingegen, die in der Ich-Form erzählt, eignet sich mit ihren Lektüre- und Musikvorlieben, ihrer nach außen zynischen, nach innen verletzlichen Art durchaus als Identifikationsfigur. Das individuelle Schicksal im Rahmen der detaillierten Schilderung eines Klinikalltags versprechen spannende und informative Lesestunden.

Aus einer Reihe aufwendig bebilderter Sachbücher über den menschlichen Körper und seine Pflege sticht Das Buch vom Dreck besonders hervor. Eigentlich ist es ein Buch über Sauberkeit und ihre fundamentale Rolle in bereits sehr frühen Zivilisationen. Die polnische Autorin Monika Utnik-Strugala bewundert deshalb die unbekannten Erbauer von Wasser- und Abwasserleitungen weit mehr als die berühmten Feldherren. Wasserkrüge, und -schalen, Kämme, Zahnstocher, Nagelfeilen, Seifen und Kosmetik, die man aus Kräutern und Harzen herstellte, gehörten bereits zum Inventar der alten Ägypter. Die überdimensionalen Thermen der Römer als Orte der Sauberkeit und sozialen Kommunikation und ihre Wasserleitungen sind noch heute, auch nördlich der Alpen, zu besichtigen. Die längste (130 km) führte aus der Eifel in das antike Köln. Im nachrömischen Europa spielten die öffentlichen Bäder erst nach den Kreuzzügen wieder eine Rolle. Denn im Osten hatten die Ritter die türkischen „Hamams“ kennengelernt. Während die jüdische und muslimische Religion eine Reihe von Hygieneregeln und rituellen Waschungen vorschreiben, beschränkten sich die Christen auf die einmalige Reinigung durch die Taufe, und mancher Heiliger sah in der Körperpflege nur Eitelkeit und Teufelswahn. Wer bisher die Prachtentfaltung des französischen Sonnenkönigs in Versailles bewundert hat, mag von der Schilderung des Ungeziefers in Perücken und Kleidern, des Unrats im Park und gar in den Fluren und Ecken des Schlosses entsetzt sein. Ein Augiasstall war nichts dagegen. Wunderbar farbenfrohe und detailreiche Illustrationen, die sich stilistisch der jeweiligen Epoche annähern, erweitern mit vielen humorvollen Details den gut lesbaren und sehr informationsreichen Text. Ein wunderbares Bilderbuch für neugierige Kinder und Erwachsene, die die Geschichte auch einmal von ihrer dreckigen Seite her kennlernen möchten.

Ebenfalls aus Osteuropa, nämlich aus der Ukraine, kommt das Bilderbuch Hören. Es überrascht, wie gut man Töne, Geräusche, Musik und Krach, sogar die Stille bildlich darstellen kann. Denn: „Der Schall ist unsichtbar.“ Mit bunten Punktreihen, wilden Zick-Zacklinien, kräftig und zart gezeichneten Wellen werden hier die unterschiedlichsten Geräusche visualisiert. Die Harfentöne fallen in kleinen Sternen zu Boden, das Horn stoßt dicke gelbe Blasen aus und diese vermischen sich mit vielen weiteren Tönen zu einer harmonischen Linie, die in Noten ausläuft. Neben der Musik geht es auch um die zahlreichen Geräusche in einem Haus, dem Lärm der Großstadt, den Klängen der Natur und des Meeres. Ihre Wahrnehmung durch die Menschen kann sich positiv oder negativ auf deren Psyche auswirken. Nicht nur visuell, auch verbal (hier gebührt der Übersetzerin ein großes Lob) fällt ein schier unerschöpflicher Wortschatz auf, den die Sprache für Geräusche bereithält. Sie regnen auf einer Doppelseite über einem Menschen herab, der sich mit einem Regenschirm vor ihnen schützt. Denn „manchmal braucht man Stille“!

 

Dr. Barbara von Korff Schmising arbeitet als Rezensentin überwiegend im Bereich Kinder- und Jugendliteratur. Sie hat 25 Jahre lang die „Silberne Feder“, den Kinder- und Jugendbuchpreis des Dt. Ärztinnenbundes als Geschäftsführerin geleitet. bschmising@gmx.de

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