Medizin | Gesundheit

Klinische Ethik. Konzepte und Fallstudien

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2018

Andreas Frewer/Florian Bruns (Hg.): Klinische Ethik. Konzepte und Fallstudien (Angewandte Ethik Bd. 15), Freiburg/München: Karl Alber 2013, 279 S., geb., ISBN 978-3-495-48517-0. € 39,00

Klinische Ethik ist ein dicht besiedeltes Feld. Institutionen der Klinischen Ethikberatung sind inzwischen weithin etabliert, wenngleich unterschiedlich gestaltet und genutzt. Von dem zum Zweck der Zertifizierung installierten Ethikkomitee, das noch niemals einberufen wurde, bis zur differenzierten Landschaft der Ethikberatung aus individuellen Beratungsgesprächen, fallbezogenen Konsilen, Ethik-Cafés und anderen Veranstaltungsformaten für Patienten und Angehörige, prospektiv und retrospektiv arbeitenden Ethikkomitees auf den Ebenen des einzelnen Krankenhauses und des Trägers reicht die Wirklichkeit Klinischer Ethikberatung. Verschiedene Einrichtungen bilden Fort- und Weiterbildungen für Ethikberaterinnen und Ethikberater an. Die entsprechende Literatur ist breit gefächert und reichhaltig. Philosophinnen, Theologen, Medizinerinnen und Medizinethiker sind in Praxis und Theorie Klinischer Ethik aktiv, nicht ohne Konflikte hinsichtlich Definitionshoheit und Repräsentanz. Angesichts dieses diversen Feldes ist eine systematisierende Zusammenschau und Auswertung des Vielen, was unter dem Label der Klinischen Ethik angeboten und praktiziert wird, sehr wünschenswert. Dieser verdienstvollen Aufgabe ist der in der Reihe „Angewandte Ethik“ des Verlages Karl Alber erschienene Sammelband „Klinische Ethik. Konzepte und Fallstudien“ gewidmet. Der Band ist herausgegeben von zwei Medizinern, die in Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Medizinethik tätig sind: Andreas Frewer ist Inhaber der Professur für Ethik in der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg, Florian Bruns war Geschäftsführer des Klinischen Ethikkomitees ebendort. Das Buch ist hervorgegangen aus einer vom Bundesforschungsministerium geförderten Klausurwoche zum Thema „Klinische Ethik“; zusätzlich wurden weitere Beiträge eingeworben, „um das Spektrum der klinischen Ethik in allen Bereichen repräsentieren zu können“ (11). Die Autorinnen und Autoren sind zumeist Nachwuchswissenschaftler/-innen in der Post-Doc-Phase. Als primärer fachlicher Hintergrund überwiegt bei weitem die Medizin; hie und da vertreten sind die Philosophie, die Gesundheitswissenschaften, die Pädagogik und die Ökonomie. Theologie ist – mit Ausnahme des Bioethikers László Kóvács, der auch einen katholisch-theologischen Hintergrund hat, aber hier nicht als Theologe schreibt – nicht einbezogen. Das verwundert insofern, als Theologinnen und Theologen nicht nur in der medizinethischen Literatur, sondern auch nach Auskunft mehrerer Beiträge des Bandes in der praktischen Klinischen Ethikberatung vielfach engagiert sind (20; 23; 28; 30; 143; 168). Entsprechendes gilt für die Pflegewissenschaften, wobei immerhin ein Beitrag (aus der Feder eines Pädagogen) sich speziell mit der ethischen Qualifizierung Pflegender beschäftigt (260ff.). Durch diese Zusammensetzung der Autoren nimmt der Band, ohne dies explizit zu reflektieren, Stellung zu der umstrittenen Frage nach der disziplinären Definitionshoheit über Klinische Ethik.

Im Zentrum des Interesses stehen Instrumente der einzelfallbezogenen Klinischen Ethikberatung. Diese werden unter verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt und diskutiert; das Spektrum reicht von konkreten normativen Fragen etwa der Therapiebegrenzung in der Neonatologie (110ff.) oder der Therapie Amyotropher Lateralsklerose (ALS, 205ff.) bis hin zu prozeduralen Fragen wie der Ausgestaltung von Beratungsgesprächen (137ff.; 159ff.). Aufgaben Klinischer Ethikberatung jenseits der Reflexion von Einzelfällen – wie die Erstellung allgemeiner Empfehlungen oder auch die Weiterbildung und Information von Mitarbeitenden, Patienten und Angehörigen – spielen eine geringere Rolle (110ff.; 243ff.; 260ff.; auch 137ff.). Eine große Stärke des Bandes ist die Vielzahl der angeführten Fallstudien, die sowohl die materialethischen Probleme wie die Herausforderungen der Ethikberatung plastisch werden lassen.

Der Band enthält neben einer knappen Einführung der Herausgeber, die einen Überblick über den Inhalt verschafft, 12 Beiträge, die vier Rubriken zugeordnet sind. Die erste Rubrik führt in „Grundlagen von Klinischer Ethik und Ethikberatung“ ein. Der Beitrag „Klinische Ethik. Eine Übersicht zu Geschichte und Grundlagen“ von Andreas Frewer bietet eine instruktive historische Übersicht und situiert die Klinische Ethik in plausibler Weise zwischen der moralphilosophischen Grundlagenreflexion einerseits und den konkreten Entscheidungserfordernissen der Klinik andererseits (17ff.). Ebenso instruktiv ist Florian Bruns’ Text über „Komparative Studien zur Ethikberatung“, der sich insbesondere an der Frage der Kontrollierbarkeit von Ethikberatung abarbeitet (39ff.). Wie auch einige weitere Beiträge (60ff.; 137ff.; 159ff.) zeigt er die Fruchtbarkeit und weitere Notwendigkeit der empirischen Untersuchung von Instrumenten Klinischer Ethikberatung auf. Ebenfalls empirisch orientiert ist die Darstellung von Leyla Fröhlich-Günzelsoy und Inken Emrich zum Instrument des Patientenfürsprechers (60ff.).

Die weiteren Rubriken sind, für die medizinische Ethik nicht ungewöhnlich, anhand des Lebenszyklus gegliedert. Es geht um „Klinische Ethik am Lebensbeginn“, „in Lebenskrisen“ und „am Lebensende“. Christa Wewetzer legt in einem erfahrungsgesättigten Beitrag die Notwendigkeit wie die Schwierigkeiten interprofessioneller Kooperation in „Entscheidungsprozesse[n] bei Pränataldiagnostik“ dar (89ff.). Der Bioethiker László Kóvács untersucht in seinem Beitrag den Begriff der Vergeblichkeit (futility) auf seine Bedeutung als Kriterium für Therapiebegrenzungen in der Neonatologie. Seine differenzierte Analyse ist weniger am Einzelfall als an der Formulierung und Weiterentwicklung allgemeiner Leitlinien orientiert (110ff.). Tanja Ramsauer und Andreas Frewer widmen sich unter dem Titel „Klinische Ethikberatung in der Pädiatrie“ anhand der Auswertung von 27 Beratungsprotokollen wiederum der empirischen Analyse Klinischer Ethikberatung. Sie zeigen auf, dass der Rückschluss von der schriftlichen Dokumentation auf das vorangegangene Beratungsgespräch nur bedingt möglich ist, können aber doch einige Probleme der dokumentierten Beratungen aufweisen. Zu diesen gehören etwa die mangelnde Berücksichtigung der Perspektive der (nichteinwilligungsfähigen) Patienten sowie Unsicherheiten im Umgang mit medizinethisch-juristischen Termini (137ff.).

In der Sektion zur Klinischen Ethik „in Lebenskrisen“ evaluiert Stephan Kolb die Fallberatungen eines „Ethikkreises“ in der Nephrologie (159ff.), während Kirsten Brukamp anhand eines Einzelfalls „Psychiatrische Komplikationen bei tiefer Hirnstimulation als Herausforderungen für die Klinische Ethik“ untersucht (192ff.). Wiederum auf allgemeiner Ebene ist der sprachlich schwer lesbare Beitrag von Martin Mattulat, „Amyotrophe Lateralsklerose und Ethik“, angesiedelt (205ff.). Verdienstvoll an diesen drei Beiträgen ist es, gerade nicht klassische Beispiele Klinischer Ethik am Lebensanfang oder Lebensende, sondern ebenso praxisrelevante, aber seltener reflektierte Themen und Fallbeispiele zu behandeln. Allerdings fällt bei den letzten beiden Beiträgen auf, dass sie zwar die konkrete klinische Praxis intensiv wahrnehmen, aber kaum an hochstufigere Reflexionsfiguren der Medizinethik anschließen. Hinsichtlich des bei Brukamp im Zentrum stehenden Problems der Autonomie in ihrem Verhältnis zur Einwilligungsfähigkeit hat die Medizinethik in den letzten Jahrzehnten einiges Problembewusstsein erreicht. Demgegenüber bietet Brukamp nur kurze, apodiktische Bemerkungen (201f.). Die von Mattulat formulierten „Gegensatzpaare“ (210ff.) im Umgang mit ALS werden ebenfalls nicht recht deutlich, wie etwa der unklare Begriff der „Lebensmöglichkeiten“ (212) zeigt. Der Spagat Klinischer Ethik zwischen allgemeiner medizinethischer Kategorienbildung und Wahrnehmung des Einzelfalls ist hier deutlich zuungunsten der ersteren ausgefallen.

Die letzte Sektion zum Lebensende beginnt mit Arnd T. Mays Beitrag zur „Klinische[n] Beratung am Lebensende als präventive Ethikberatung“, der die im Titel prägnant formulierte These luzide entfaltet und hier spätere Diskussionen zu Advance Care Planning vorwegnimmt. Klinische Ethikberatung, so ließe sich sein Beitrag verallgemeinern, muss in Formen umfassenderer ethischer Kommunikation in der Klinik eingebettet sein, zu denen die individuelle Beratung zu Patientenverfügungen gehört (229ff.). Thela Wernstedt behandelt „Leitlinien und Empfehlungen im Klinikalltag am Beispiel der Palliativen Sedierung“. Sie zeigt überzeugend die Bedeutung allgemeiner Leitlinien im Kontext einer einzelfallorientierten Klinischen Ethik: nicht Einzelfallentscheidungen in Form allgemeiner Checklisten oder Entscheidungsbäume mechanisch zu strukturieren, sondern gerade umgekehrt die selbständige Reflexion und die diskursive Auseinandersetzung der Beteiligten zu stimulieren (243ff.). Schließlich bietet Jörn Gattermann eine Reihe sehr konkreter Reflexionen zu Palliative Care-Lehrgängen für Pflegende, ohne allerdings auf die anderswo im Band benannten Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit einzugehen (260ff.).

Insgesamt bietet der Band einen guten Überblick über Themen, Institutionalisierungsformen und Probleme Klinischer Ethik. Auch wenn Titel und Untertitel des Bandes systematischer klingen, als der Band dies einlöst, ist insbesondere mit der Fülle an Fallstudien wie auch mit der empirischen Forschung zu Institutionen der Ethikberatung gutes Material geboten, um zum einen die Aus-, Fort- und Weiterbildung in Klinischer Ethik zu bereichern und zum anderen weitere Begleitforschung zur Institutionalisierung Klinischer Ethik zu stimulieren.

Prof. Dr. Thorsten Moos, Theoretischer Physiker und Theologe, ist Inhaber des Lehrstuhls für Diakoniewissenschaft und Systematische Theologie/Ethik am Institut für Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel.

moos@diakoniewissenschaft-idm.de

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