Geowissenschaften

Karten des Krieges

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Oliver Kann (2020): Karten des Krieges – Deutsche Kartographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg. BRILL/ Ferdinand Schöningh. ISBN 978-3-50670312-5 (Hardback). 346 S., 1.007 Fußnoten, 39 Abb., Quellenverzeichnis, Literaturverzeichnis, Ortsregister. € 105,00.

Nach einer Einleitung in den Forschungsstand und Ausführungen zu Quellen und Methode folgt „Die Entstehung eines kartographischen Systems im 19. Jahrhundert“ (S. 1985). Dann geht es um die „Kartographische Praxis an der ‚Westfront‘ 1914-1918“ (S.87-184) und anschließend um „Raumwissen und Kartenkompetenz an der ‚Heimatfront‘ “ (S. 185-235). Die Seiten 269-320 sind dem Kartenteil mit 39 Abbildungen gewidmet. Eine der Karten ist doppelt vorhanden, eine Seite blieb leer. Die größte Karte nutzt lediglich 50% der verfügbaren Doppelseite, eine füllt sogar nur 11% des für sie reservierten Blattes. Das Quellen- und Literaturverzeichnis enthält 28 Signaturen aus dem Bundesarchiv in Freiburg und sechs Signaturen aus der Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha. Unter „Gedruckte Quellen“ (88 Titel) dominiert der Geographische Anzeiger mit 38 Nennungen. Es folgen Quelleneditionen (3 Titel), Internetdokumente (2 ­Titel) und Literatur (221 Titel). Den Abschluss bilden ein Orts- und ein Personenregister. Das Buch ist zugleich eine Dissertation der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt, der Autor ist Geograph der Fachrichtung Humangeographie. Das Buch wird mit vier Fragen eingeleitet, die auf die Rolle der Karten im Ersten Weltkrieg zielen, auf ihren Anteil am Geschehen an der Front und im Heimatgebiet, auf die Veränderungen der Kartographie durch die moderne Form des Krieges und auf die Veränderung der Karten selbst und ihrer Nutzer. Das wird anschließend in Form von drei Hypothesen formuliert: Im 19. Jahrhundert entstand ein kartographisches System, das militärischen Interessen diente.

Nach und nach erreichten die militärisch geprägten topographischen Karten die Öffentlichkeit. Der bestehende Bedarf an Karten rief private Kartenverlage auf den Plan, die nach „Marktlogiken“ arbeiteten. Dieser Zustand wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Stellungskrieg konfrontiert, dessen Besonderheiten veranlassen den Verfasser anzunehmen, „dass sich eine Verschiebung der vormals ‚von oben‘ gesteuerten Wissensproduktion zu den ‚einfachen‘ Soldaten hin vollzog, da eine Flexibilisierung der festgeschriebenen Praktiken und das Generieren neuer Expertise nötig wurde“ (S. 9). Da der Krieg im Heimatgebiet den Alltag der Bevölkerung erreichte, wird postuliert, dass: „Raumbezogenes Wissen und speziell Karten instrumentalisiert [wurden], um ein einseitig-tendenziöses Bild vom Krieg an der ‚Heimatfront‘ zu vermitteln“ (S. 9). Dabei spielte die Schule eine besondere Rolle.

Die Studie befasst sich exemplarisch mit der Königlich Preußischen Landesaufnahme, die eng mit dem preußisch-deutschen Generalstab verbunden war. Es werden „die Bedingungen von Produktion und Konsumption von Raumwissen im Kaiserreich aufzeigt“ (S. 83). Ein Versuch, die Verhältnisse beim Königlich Bayerischen Heer oder bei den Sachsen oder den Württembergern vergleichend heranzuziehen wurde nicht gemacht, obwohl z.B. das Bayerische Kriegsarchiv in München über sehr vollständige Aktenbestände verfügt, die immer wieder auch Einblicke in die Belange der anderen Heereskontingente erlauben. Die Deutung der Triangulationsnetze als Schaffung einer Raumordnung, die eine „abstrakte (politische) Gesamtheit ‚Land‘ suggerierte“ (S. 83) und der Hinweis darauf, dass „diese grundlegenden Arbeitsschritte von Offizieren und militärischem Personal angeleitet und durchgeführt wurden, [wodurch] die Rolle des Militärs bei der Entwicklung und Anwendung von Techniken zur Territorialisierung deutlich [wird]“ (S. 83), erscheint überzogen. Die Topographen wichen von der rein militärischen Geländebeurteilung zunehmend ab und kartierten ihr Messtischblatt umfassender. Am Ende der dargestellten Entwicklung sollen die Karten im Maßstab M 1: 25.000 an militärischer Bedeutung verloren haben, sie blieben aber weiterhin Grundlage, damit bedeutungsvoll, für die Erzeugung von Karten kleinerer Maßstäbe. Die abgeleitete Karte des Deutschen Reiches M 1: 100.000 wird wie folgt kommentiert: „Das politisch geeinte Territorium wurde somit auch auf dem Papier zu einem zusammenhängenden Konstrukt, dessen Charakter von der herrschaftlich-militärischen Elite geprägt war. Mittels der Karte fand dieses Bild breite Aufnahme in der Bevölkerung, angefacht durch die enthusiastische Empfehlung geographischer Experten.“ „Seh- und Nutzungsgewohnheiten anderer Akteure als des Militärs blieben weitestgehend unberücksichtigt, stattdessen wurde das kartographische System ‚top down‘ durchgesetzt“ (S.84).

Dieser Meinung stelle ich eine Aussage des bekannten Geographen Albrecht Penck (1858–1945) gegenüber. Er schrieb 1912 in seinem Vorwort zur ersten der in drei Auflagen (1912, 1921, 1938) erschienenen Schrift: 40 Blätter der Karte des Deutschen Reiches 1: 100 000 – Ausgewählt für Unterrichtszwecke, Erläuterungen bearbeitet von Prof. Dr. Walter Behrmann, veröffentlicht von der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. „Nach wenig mehr als 30jähriger Tätigkeit ist die Karte des Deutschen Reiches 1:100 000 vollendet worden, und das Deutsche Reich hat zum ersten Male eine Spezialkarte erhalten, welche sein ganzes Gebiet in einheitlicher Weise zur Darstellung bringt.“ Hier ist folgende Ergänzung angebracht: Von 1878 an haben die vier Bundesstaaten mit eigener Heeresverwaltung 675 Blätter bearbeitet. Diese vier Königreiche umfassten im Jahr 1875 85% der Fläche und 83% der Bevölkerung des Deutschen Reiches. Von Preußen (64% der Fläche und 60% der Bevölkerung) wurden 545 (=81%) Blätter bearbeitet, von Bayern (14% / 12%) 80 Blätter (=12%), Sachsen (3% / 6%) 30 Blätter (=4%) und Württemberg (4% / 4%) 20 Blätter (=3%). Und weiter bei Penck: „Sind es auch in erster Linie militärische Rücksichten gewesen, welche zur Herstellung des großen Kartenwerkes drängten, so sind dabei doch auch die Bedürfnisse der Verwaltung im Auge behalten worden, und die Karte erstrebt größtmögliche Genauigkeit, um auch für praktische Zwecke nutzbar zu sein. Wie die Karte bei der Führung von Truppenteilen unentbehrlich ist, so ist sie auch für jeden, der auf deutschen [sic] Boden wandern will, ein ausgezeichneter Begleiter: sie gestattet die Einheiten der politischen Verwaltung ebenso klar zu überblicken, wie die Verteilung der Siedlungen, die Verzweigung des Gewässernetzes bis in seine kleinsten Adern, die Gliederung der Höhen und den Verlauf der Gebirge. Aus diesen Gründen ist die Karte ein ausgezeichnetes Hilfsmittel für den Unterricht der Geographie. Jede Volksschule sollte wenigstens das Blatt der Karte besitzen, auf welchem der Schulort gelegen ist, um den Schüler mit dem wichtigsten Hilfsmittel geographischer Orientierung in Deutschland bekannt zu machen; jede höhere Schule sollte ferner wenigstens eine Auswahl von Blättern besitzen, welche die charakteristischen Oberflächenzüge des deutschen Landes und die bezeichnende Verteilung seiner Siedlungen erkennen lassen.“

Das Kartenwerk war vor dem Ersten Weltkrieg, so meine ich, im Interesse des Reichslandes Elsass-Lothringen (2,7% / 3,6%), dessen Militärverwaltung durch Preußen wahrgenommen wurde, der vier Königreiche, sechs Großherzogtümer, fünf Herzogtümer, sieben Fürstentümer, der drei Republiken, deren Bevölkerung und deren Wirtschaft, aber auch im wohlverstandenen Interesse der Schulen. Im zweiten Kapitel „Kartographische Praxis an der ‚Westfront‘ 1914-1918“ rückt das im Titel des Buches signalisierte Thema näher. Einige Zitate geben einen Einblick: „Von der Produktion und Distribution über das Vorhandensein von Experten bis hin zum eigentlichen Kartenbild wurde die Logik des kartographischen Systems dem Kriegsverlauf in keiner Weise gerecht. Es mussten also neue Wege beschritten werden, bei denen nur bedingt auf vorhandenes Wissen und bereits erprobte Praktiken zurückgegriffen werden konnte. Zunächst äußerte sich dieses Defizit in Improvisation“ (S. 182). Aber: „Die Dominanz der Artillerie, die auf Grundlage mathematischer Berechnungen den Raum beherrschte und zerstörte, war konstitutiv für die kartographische Praxis der Westfront. Der Stellungskrieg machte kleinteilige Informationen über den umkämpften Raum zu begehrtem Wissen. Je ‚genauer‘ und aktueller es war, desto größer war der taktische Vorteil. Dementsprechend wurden neue Verfahren entwickelt und verfeinert, um das Raumwissen zu mehren“ (S. 182-183). Auf organisatorischer Ebene führte das Nebeneinander von militärischen und zivilen Experten zu Reibungsverlusten. Ausschlaggebend war am Ende die Befehlshierarchie. Doch selbst der Chef des Kriegsvermessungswesens war nicht in der Lage, „ein den gesamten Kriegsschauplatz umfassendes Koordinatennetz einzuführen“ (S. 184). Im dritten Kapitel wird das Thema „Raumwissen und Kartenkompetenz an der ‚Heimatfront‘“ bearbeitet. Dabei geht es um die Bevölkerung, die an der militärischen Lage und den Kriegsschauplätzen großes Interesse zeigte. Das gab dem Erdkundeunterricht neue Aufgaben. Der Blick des Verfassers beginnt und endet daher bei den Schulgeographen. Diese „zentralen Akteure“ werden verantwortlich gemacht. „Das weitgehende Ausblenden von Gewalt, Zerstörung und Tod gehörte dazu und half, den Krieg zu verklären. Damit nahmen sie nicht nur das Massensterben der jungen Generation billigend in Kauf, sondern stellten bereits im Krieg die Weichen für eine revanchistische Geopolitik“ (S. 253). Das Urteil wirkt oberflächlich, es wäre anders ausgefallen, wenn eine größere Zahl Lehrerinnen und Lehrer zu Wort gekommen wären.

In „Fazit und Ausblick“ liegt der Schwerpunkt bei zusätzlichen Themen und bei Fragestellungen, die sich zu Forschungsvorhaben entwickeln lassen könnten. Die Dissertation interessiert sich weniger für Karten, das zeigt der Blick in den Abbildungsteil. Sie interessiert sich auch wenig für die Menschen und ihre Werke, die in der Kaiserzeit Karten gemacht haben. Ihr Interesse ist, wie in der Einleitung begründet wird, auf das Raumwissen am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in Preußen gerichtet. Das Buch gibt Anregungen, tiefer darüber nachzudenken, aber seine breite Anlage auf schmaler Basis, was die Erschließung neuer archivalischer Quellen betrifft, führt die Leserin und den Leser mehr oder weniger zum Stand der Literatur und zur Feststellung, dass Karten immer auch „politische“ Raumbilder sind. (jp)

Univ.-Prof. Dr. Johannes Preuß (jp) war von 1991 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2011 Professor für angewandte Physische Geographie am Geographischen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Von 2000–2009 war er Vizepräsident für Forschung.

jpreuss@uni-mainz.de

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