Recht

Jenseits der strengen Jurisprudenz

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

Kaum ein Bereich ist so stark reglementiert und an Fakten orientiert wie die Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Umso erstaunlicher scheinen juristische Werke, die sich mit „entscheidenden Gefühlen“ oder narrativen Funktionen im Recht beschäftigen. Wer interessante Abwechslung sucht und Berlin von juristischer Seite kennenlernen möchte, kann den Reiseführer „Berlin für Juristen“ zur Hand nehmen und historische Plätze mit „juristischer Bedeutung“ entdecken.

Sandra Schnädelbach, Entscheidende Gefühle. Rechtsgefühl und juristische Emotionalität vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik, Wallstein 2020, geb. mit SU, 411 S., ISBN 978-3-8353-3568-4, € 34,00.

    Auf den ersten Blick kaum vorstellbar, dass in der Jurisprudenz um 1900 ausgerechnet das Gefühl ein zentraler Debattenpunkt war. Das Idealbild des möglichst emotionslos, gleichförmig urteilenden Juristen steht einem Berufsvertreter, der sich in seinen Entscheidungen vom Gefühl leiten lässt, vollkommen entgegen: Hierarchische Strukturen und transparente Administration sind ebenso hehre Grundsätze des Rechtssystems wie die Nachvollziehbarkeit von Rechtsakten und eine Urteilsfindung unabhängig von der Person des Entscheiders. Was für den Anwalt als Beistand für seinen Mandanten noch angehen mag, hat im Amt des Richters sicher keinen Platz. Nicht nur deshalb war der Einfluss des Rechtsgefühls auf Rechtsanwendung und Wissenschaft ein umstrittenes Thema und zentraler Begriff in der Entwicklung des Rechts, seitdem Gustav Rümelin, Kanzler der Universität Tübingen, ihn 1871 in seiner „Gefühlsrede“ (S. 41) in die Diskussion eingeführt hatte. Die Beschäftigung mit der Thematik war freilich sehr viel älter: Bereits Savigny befasste sich damit und legte „einen Grundstein für die Theoretisierung des Rechtsgefühls als eines unhintergebaren Prinzips der Rechtsgenese“ (S. 48). Neben dem Rechtsgefühl als Legitimationsfigur für die rechtsphilosophische Begründung des Rechts analysiert Sandra Schnädelbach das Rechtsgefühl auch für die Legitimierung des Rechtswissenschaftlers und der Rechtswissenschaft überhaupt. Nachdem sich im Laufe 19. Jahrhunderts das Verständnis innerhalb und von der Rechtswissenschaft und der Arbeit des Juristen verändert hatte, avancierte der Jurist quasi zum „Rechtsgefühls-Übersetzer“ (S. 98), der Richter wurde zum „Emotionsmanager“ (S. 170). Sandra Schnädelbach erschließt damit ein bisher wenig beachtetes Forschungsfeld und führt als Historikerin und Germanistin dem Juristen auch vor Augen, wie sehr die Rechtsentwicklung von den Diskussionen um das Gefühl geprägt war. Ausgehend von dem Ziel der Autorin, „Ansätze der Emotionsgeschichte mit rechtshistorischer Forschung in Dialog zu bringen“ (S. 29), ist ihr eine spannende und sehr lesenswerte Auseinandersetzung mit dem Begriff des Rechtsgefühls an der Schnittstelle zwischen Rechts- und Kulturgeschichte gelungen.

     

    Rudolf Behrens / Carsten Zelle (Hrsg), Die Causes célèbres des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland. Narrative Formen und anthropologische Funktionen. Harrassowitz 2020 (culturae. 19). Hardcover, XII, 338 S., ISBN 978-3-447-11473-8. € 78,00.

      Der von Rudolf Behrens und Carsten Zelle herausgegebene Tagungsband widmet sich der Gattung der „Pitaval“-Geschichten im 19. Jahrhundert und stellt die unterschiedlichen Funktionen der Literaturgattung beim Übergang vom Inquisitions- zum reformierten Strafprozess dar. Die „Causes célèbres“ sind nicht nur eine interessante Gattung juristischer Literatur, sondern nahmen darüber hinaus auch Einfluss auf die Wahrnehmung von Schuld, Strafrecht und Gerichtswesen. Entstanden im 18. Jahrhundert nach der gleichnamigen Sammlung von François Gayot de Pitaval haben sich dem Genre bekannte Schriftsteller gewidmet; so gab Friedrich Schiller von 1792 bis 1795 eine vierbändige Sammlung „Merkwürdiger Rechtsfälle“ heraus. Die literarischen Formen waren dabei vielfältig: von einem detailgetreuen juristischen Bericht des Rechtsfalles bis hin zu einer Bearbeitung in fiktionaler Form beispielsweise als Kriminalroman. Nach einleitenden Beiträgen zum Strafverfahrensrecht (Andreas Roth), Indizienbeweis (Achim Saupe) und zu gerichtspsychologischen Berichten (Nicolas Pethes) werden exemplarische Studien in deutscher und französischer Sprache vorgestellt sowie drei Beispiele aus dem Umfeld von Psychiatrie, Literatur und Lebenswelt. So beschreibt Maximilian Bergengruen die Cause célèbre Woyzeck. Abschließend stellen die Herausgeber einen umfassenden Vergleich der französischen und deutschen Causes célèbres im 19. Jahrhundert dar. Dabei wird nicht nur die Entwicklung der Gattung beleuchtet, sondern es werden ausführlich auch die wichtigsten Pitaval-Sammlungen vorgestellt wie der „Neue Pitaval“ von Julius Eduard Hitzig und Wilhelm Heinrich Häring alias Willibald Alexis, erschienen von 1842 bis 1890 in 60 Bänden bei Brockhaus in Leipzig. Herausgestellt wird, dass der Band die erste vergleichende Studie darstellt, er gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte, Funktion und Bedeutung der ­Causes célèbres.

       

      Barbara Sternthal, Ku‘damm, Kiez und Currywurst. Berlin für Juristen. C.H.BECK (In Gemeinschaft mit Manz/Wien und Stämpfli/Bern) 2020. Hardcover, 162 S., ISBN 978-3-406-75922-2, € 29,00.

        Bei der Vielzahl von Berlin-Reiseführern auch für ganz spezifische Zielgruppen ist es erstaunlich, dass es noch keinen literarischen Berlin-Begleiter für Juristen gab. Jetzt hat Barbara Sternthal diese Lücke geschlossen und stellt neben „Ku‘damm, Kiez und Currywurst“ die Geschichte Berlins immer mit einem Fokus auf rechtshistorisch und juristisch-praktisch interessante Entwicklungen dar. Neben einem historischen Überblick finden sich Portraits bekannter Juristen im Staats- und Verwaltungsapparats Preußens, aber auch immer wieder interessante Informationen am Rande beispielsweise über den Brandenburger Zehntstreit, die Einführung der Anwaltsrobe oder den ersten Fingerabdruck. Während der Leser im allgemeinen Teil auch viel über die allgemeine Geschichte Berlins erfährt, sind für den Juristen die drei als „Streifzüge“ titulierten Kapitel fast noch spannender. Im Kapitel „Sittenbilder“ ruft Sternthal zum Beispiel den „Räuberhauptmann“ Hans Kohlhase (literarisch verewigt in Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas) oder natürlich auch Friedrich Wilhelm Voigt als Hauptmann von Köpenick in Erinnerung. Im Rahmen der Streifzüge II „Polizisten und Anwälte“ wird unter anderem an verdiente – meist jüdische – Anwälte erinnert wie Erich Frey oder Hans Litten. Die Streifzüge III „Gerichte, Reformer und Richter“ stellen auch markante Bauwerke, vor allem traditionsreiche Gerichtsgebäude, dar. Wie oft die Stadt und ausgewählte Bauwerke bereits Kulisse für Film und Fernsehen waren, erfährt der Leser in „Tatorte – Berlin fiktiv“. Die Autorin ist profunde Kennerin sowohl der juristisch-literarischen Materie, so hat sie auch ein Werk über Juristen als Schriftsteller veröffentlicht, als auch erfahren in Sachen „juristische Reiseführer“. Nach London, Paris, Venedig und Wien hat sich Sternthal jetzt auf juristische Spurensuche in die Berliner Geschichte begeben und einen ebenso detailreichen wie kurzweiligen „Juristenführer“ durch Berlin geschrieben. (uh)

        Dr. Ulrike Henschel ist Juristin, Geschäftsführerin des Kommunal- und Schul-Verlags in der Verlagsgruppe C.H.Beck und korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Über die Entwicklung des juristischen Verlagswesens hat sie am Buchwissenschaftlichen Institut in Mainz promoviert.

        Ulrike.Henschel@kommunalpraxis.de

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