Hiroshige. Famous Places in the Sixty-Odd Provinces. München/London/New York: Prestel Verlag 2021, Hardcover, 110 S., seidenbezogene Leporello-Ausgabe mit 70 Farbtafeln und Booklet, im Schmuckschuber, ISBN 978-3-7913-8719-2, € 35,00.
Auch dieser Band mit einer Serie von Farbholzschnitten unter dem Titel „Berühmte Orte der mehr als 60 Provinzen Japans“, die der japanische Künstler Utagawa Hiroshige (1797–1858) zwischen 1853 und 1856 angefertigt hat, ist kein Fachbuch im strengen Sinne des Wortes. Er stellt eine bibliophile Kostbarkeit für Kenner des Genres dar, zu der man den Verlag nur beglückwünschen kann. Der luxuriös gestaltete Band steckt in einem schönen Schuber, denn er hat keinen Buchrücken und erlaubt deshalb dem Betrachter, die insgesamt 70 Abbildungen nacheinander aufzuschlagen und auszubreiten. Das ist auf den ersten Blick sicherlich originell, aber nicht unbedingt zweckmäßig, weil für diese Art der Betrachtung den meisten Käufern der Platz fehlen dürfte. Außerdem verlangen die Bilder für sich genommen die ganze Konzentration des Betrachters. Dem Band beigegeben ist eine Broschüre, in der Anne Sefrioui über Leben und Werk dieses Ausnahmekünstlers informiert. Es folgt dem ein Katalogteil, der die Bilder noch einmal in Schwarz-Weiß wiedergibt, wobei die einzelnen Abbildungen mit ca. zehn Zeilen langen Erläuterungen zu den „berühmten Orten“ versehen wurden. Es handelt sich bei diesem Textteil um die englische Übersetzung aus dem französischen Original von 2019.
Hiroshige, so der Künstlername, unter dem man ihn kennt, begann seine Lehre im Alter von 14 Jahren bei dem berühmten Holzschnittkünstler Utagawa Toyohiro, dessen Atelier und Nachnamen er später übernahm. Er malte zunächst Vögel und Pflanzen und setzte die Tradition seines Lehrers fort, indem er schöne Frauen, Schauspieler und große Krieger portraitierte. Bekannt wurde er aber mit Landschaftsszenen, darunter die „53 Stationen des Tôkaidô“ (um 1835), der wichtigsten Verkehrsverbindung der Edo-Zeit (1603–1867).
Der vorliegende Band ist dem Spätwerk Hiroshiges zuzuordnen. Er enthält Farbholzschnitte, in denen die berühmtesten Orte und Landschaften in den 68 Provinzen Japan s dargestellt werden; hinzu tritt noch eine Abbildung über Hiroshiges Heimatstadt Edo, wo sich der Regierungssitz des Shôguns befand, und ein Inhaltsverzeichnis. Nicht alle Provinzen hat der Künstler selbst besuchen können. Stattdessen griff er in vielen Fällen auf Reiseführer zurück. Dies erklärt auch, warum er sich für das vertikale Format entschied. Üblicherweise wählten Künstler für die Landschaftsdarstellungen eher das horizontale Format. Die Entscheidung für das vertikale Format zwang Hiroshige dazu, einzelne Elemente eines Ortes oder eines landschaftlichen Panoramas hervorzuheben. Menschen erscheinen in diesen Landschaften in der Regel als Miniaturen; sie sind Teil einer größeren Natur. Nur in wenigen Fällen, wo es um die Darstellung von Männern und Frauen bei der Arbeit, etwa beim Fischen oder bei der Reisernte geht, treten Figuren stärker in den Vordergrund. Aber selbst dann bleiben sie Teil der Landschaft, in der sie agieren.
Der große Erfolg dieser und anderer Serien von Farbholzschnitten, welche Ansichten von berühmten Landschaften und Städten enthalten, war zu Lebzeiten Hiroshiges dem Umstand geschuldet, dass sich nach der „Öffnung“ Japans durch ein amerikanisches Geschwader im Jahre 1853/54 das Land nun noch schneller zu modernisieren begann. Das Ende der Tokugawa-Zeit war nicht nur von politischen Unruhen und wirtschaftlichen Krisen geprägt, sondern zeichnete sich auch durch eine erhöhte Mobilität aus. Kaufleute, Pilger und Samurai verschiedener Ränge, die zwischen der Zentrale und den Provinzen hin- und herpendelten, gehörten zu den Kunden der Farbholzschnitte. Gerne hätte man über die Herstellung und den Markt für die Holzschnitte mehr erfahren. In welcher Auflage wurden sie zu Lebzeiten des Künstlers vertrieben? Auch Hiroshiges Arbeiten gelangten, wie die seiner Zeitgenossen, über ausländische Sammler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Europa. Der junge Vincent van Gogh etwa hat sich manche Bilder Hiroshiges zum Vorbild genommen.
Das Buch ist trotz der aufwendigen Gestaltung erschwinglich. Wer schon Vorkenntnisse über die Kultur Japans und die japanische Holzschnittkunst hat, für den bietet der Band eine willkommene Gelegenheit, sich in die einzelnen Bilder, die durchgängig in hochwertiger Qualität wiedergegeben sind, zu vertiefen und auf diese Weise in eine mittlerweile vergangene Welt einzutauchen. (wsch)