Steffen Heinrich/ Gabriele Vogt (Hrsg.): Japan in der Ära Abe. Eine politikwissenschaftliche Analyse. München: Iudicium 2017 (= Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien; Bd. 60), 291 S., geb., ISBN 978-3-86205-048-2. € 49,00
Nachdem im September diesen Jahres der derzeit amtierende Premierminister Shinzô Abe zum dritten Mal zum Vorsitzenden der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) gewählt wurde, stehen seine Chancen gut, auch der mit Abstand am längsten amtierende Regierungschef Japans zu werden. Das ist ein durchaus ungewöhnlicher Fall, da in der Vergangenheit viele Premierminister nur für eine kurze Zeit im Amt blieben. Auch Abe schien ein solches Schicksal beschieden, als er im September 2007 als Premierminister nach einer etwas mehr als einjährigen Amtszeit überraschend zurücktrat. Umso bemerkenswerter ist sein politisches Comeback, das in Japan und international vor allem mit dem Begriff „Abenomics“ in Verbindung gebracht wird. Dazu gehören eine expansive Geldpolitik, ein staatliches Investitionsprogramm sowie gesellschaftliche und politische Strukturreformen. Der vorliegende Band präsentiert sich bescheiden als eine „Zwischenbilanz“, doch ist er mehr: Er bietet seinen Lesern einen facettenreichen und fundierten Einblick in die Art und Weise, wie Japan zur Zeit regiert wird. In 12 Beiträgen werden vier größere Themenkomplexe behandelt; dabei geht es um die sicherheitsund außenpolitische Rolle Japans, das Reformprogramm der Regierung Abe, das Verhältnis zwischen Regierung und den Medien sowie um das Selbstverständnis der regierenden LDP. Eingerahmt werden die Artikel von einer kohärenten Einführung und Zusammenfassung der beiden Herausgeber, die den Autoren hinsichtlich ihrer Beiträge einen Fragenkatalog an die Hand gegeben haben, der den Band systematisch zusammenhält.
Die erste Frage zielt auf die merkwürdige Diskrepanz zwischen den hohen Unterstützungswerten für die Regierung Abe und der doch verbreiteten Skepsis in der Bevölkerung, was einzelne Aspekte seiner Politik betrifft. In den ersten Beiträgen von Raymond Yamamoto über die Sicherheitspolitik und von Franziska Schultz über die Chinapolitik deutet sich bereits ein Erklärungsansatz für den Erfolg Abes an. Er gehört nicht zur Sorte der populistischen Politiker, die momentan in Europa und Amerika reüssieren, denn er scheut sich nicht, auch unpopuläre Maßnahmen anzugehen. Doch zeigt er sich immer auch als Pragmatiker, der auf kritische Stimmungen zu reagieren versteht, dann eine breitere Debatte anmahnt und vor allem nie zu viel auf einmal will. Er agiert weder zu konfrontativ noch zu konsensorientiert, sondern operiert auf einer mittleren Ebene, um insbesondere die ökonomischen Erfolgsaussichten seiner Politik nicht zu gefährden. Dieser wirtschaft liche Pragmatismus vor allem bestimmt seine Politik, – nach innen und gegenüber China, dem mächtigsten Nachbarn. Ein zweiter Fragenkomplex behandelt die Rolle der außerparlamentarischen Gegenbewegungen, da die Opposition in den beiden Häusern des Parlaments selbst nur schwach vertreten ist. Abes Stärke ist, wie Christian G. Winkler in seiner Studie über den Klientelismus und die Programmatik der LDP zu Recht vermutet, auch ein Ergebnis der Schwäche der Oppositionsparteien. Stattdessen haben sich in den neuen Medien Strömungen formiert, die ihren Protest gegenüber der Regierung bei verschiedenen Anlässen lautstark vertreten haben, insbesondere in den Fragen der Atomenergie, an der die Regierung Abe auch nach Fukushima festhält (so Anna Wiemann in ihrem Beitrag), und der Sicherheitsgesetze, die seit 2015 den Handlungsspielraum des Militärs deutlich ausweiten (Robin O’Day). Demgegenüber wurde auch in den etablierten Medien Kritik geäußert. Felix Lill zeigt in einer besonders anregenden Studie, mit welch restriktiven Maßnahmen sich die Regierung Abe die Medien gefügig machen will. Gelegentlich führt das auf Seiten der Journalisten, die um ihren Zugang zu Informationen fürchten, zu einer Art Selbstzensur. Wer immer bei einer Japanreise Gelegenheit hatte, die Nachrichten des öffentlichen Senders NHK zu sehen, versteht, warum die Zähne der „vierten Gewalt“ oft stumpf bleiben. Hier hätte man natürlich auch mal nach den Erwartungen des Publikums fragen können oder herausstellen müssen, dass die viel gelesenen Wochenzeitschriften schon manchem Politiker das Leben schwer gemacht haben, auch dem derzeit amtierenden Premierminister.
Dem Wandel der LDP zwischen einer traditionellen Klientelund einer modernen Programmpartei gehen mehrere Autoren nach, besonders prägnant Nadine Burgschweiger-Rieck in ihrer Studie über die Reform der Landwirtschaft. Diese wurde lange von der LDP hofiert, da die bäuerliche Bevölkerung auf dem Lande ein wichtiges Wählerreservoir darstellte. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Subventionen und überhöhten Lebensmittelpreise sind allerdings hoch, weswegen die Reform der Landwirtschaft eine der Säulen der Strukturreformen im Rahmen der „Abenomics“ war und ist. Der ganze Sektor ist aus wirtschaftlichen und sozialen, d.h. insbesondere demographischen Gründen instabil geworden. Der Konsum von Reis ist in den letzten vier Jahrzehnten stetig gefallen. Die Alterung der Gesellschaft ist im ländlichen Milieu noch deutlicher zu spüren als in den Städten. Diese strukturellen Veränderungen haben auch auf Seiten der Agrarlobby die Reformbereitschaft wachsen lassen. Dass die Regierung Abe nun die Liberalisierung des Agrarmarktes vorantrieb, hat ihr aber dort nicht nur Freunde gemacht. Von der Abwertung des Yen und den dadurch verbesserten Exportchancen haben nämlich nur wenige Sparten profitiert. Viele Landwirte sind deshalb immer noch auf Subventionen angewiesen, und dort zeige sich, so die Autorin, „dass auch unter Abe diese Form des Klientelismus von Bedeutung ist“ (S. 108). Gleichwohl scheint auf lange Sicht der Rückzug des Staates aus dem Agrarmarkt ausgemacht.
Den Stärken und Schwächen der „Abenomics“, vor allem den strukturpolitischen Dimensionen dieses Reformprogramms, geht Phoebe Stella Holdgrün am konkreten Beispiel der Frauenpolitik der Regierung Abe auf den Grund. Dieser geht es u.a. darum, Frauen stärker als bisher in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Insbesondere was die Gleichstellungspolitik betrifft, hat Japan hier einen deutlichen Nachholbedarf. Die Verf. verweist auf den Global Gender Gap Report von 2016, wonach Japan unter 144 Ländern auf Rang 111 liegt, weit abgeschlagen hinter allen anderen fortgeschrittenen Industrienationen. Ob Abes „Womenobics“ aber zu einer Kehrtwende führen, darf nach Einschätzung der Autorin bezweifelt werden? Zwei Ziele hat sich die Regierung gesetzt: 30% aller Führungspositionen sollen bis 2020 mit Frauen besetzt sein, und die Erwerbsquote von Frauen im Alter zwischen 25 und 44 Jahren soll von 68% auf 73% anwachsen. Was die praktische Umsetzung dieser Leitziele anbelangt, bleibt die Verf. skeptisch. Es gehe der Regierung weniger um eine progressive Gleichstellungspolitik, sondern eher um Wählerunterstützung. Dass nach der jüngsten Kabinettsumbildung in diesem Herbst nur noch eine Frau in der Regierung vertreten ist, scheint auf oberster Ebene die These von Holdgrün zu bestätigen.
Beim fünften Fragenkomplex, der die Änderungen aufgrund der Sicherheitsgesetze, der Internationalisierung und der außenpolitischen Initiativen thematisiert, zeigt sich das Dilemma der Abe-Administration besonders deutlich. Die nationalistischen Tendenzen im Innern werden durch Forderungen nach Stärkung des Militärs und der Verfassung befördert, während gleichzeitig die Normalisierung zu den Nachbarn in den Dienst wirtschaftlicher Interessen gestellt wird. Strukturreformen, die etwa im Sinne einer Internationalisierung des Arbeitsmarktes eine dauerhafte Einwanderung erlauben würden, werden, wie der Betrag von Gabriele Vogt zeigt, entweder dilatorisch behandelt oder ganz vermieden; das ist auch der Rücksicht auf die fremdenfeindlichen Ressentiments geschuldet. Mehr als ein Drittel aller Japaner möchte keine Ausländer in der Nachbarschaft haben.
Indem der Band einerseits mit einem systematisch klar umrissenen Fragenkatalog an eine „Zwischenbetrachtung“ der „Ära Abe“ herangeht, andererseits aber auch ein breites Themenspektrum abdeckt, gelingt im Ergebnis eine fundierte Analyse des gegenwärtigen politischen Systems. Es gibt allerdings ein paar Punkte, die man vermisst und die für eine Gesamtbewertung nicht unwichtig sind. Das betrifft beispielsweise die Tendenzen hin zu einer Konzentration der Macht im Amtssitz des Premierministers, was mit einer Schwächung der Ministerien einhergeht. Dort, etwa im Außenministerium, steht man dieser Machtfülle in den Händen des Premiers durchaus skeptisch gegenüber. Im Finanzministerium wiederum sieht man die ultralockere Geldpolitik Abes äußerst kritisch. Seine Administration ist in ihrem Innern also keinesfalls so homogen, wie es der Band in vielen seiner Beiträge nahelegt. Auch fragt man sich, wie sich die Rolle des Koalitionspartners, der pazifistisch geprägten Kômeitô, im Kabinett ausnimmt. Sie wirkt ja insbesondere im Bereich der äußeren Sicherheit und der prospektiven „Reform“ der Verfassung eher mäßigend. Einfach „durchregieren“ kann Shinzô Abe also nicht! Wenig wird auch über die divergierenden Interessen der Faktionen innerhalb der LDP gesagt. Wie gelingt es Abe eigentlich, die verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Partei auszutarieren? Blass bleibt in diesem Band auch das Verhältnis zu den USA, der großen Macht, auf die Japan mehr als auf alle anderen angewiesen ist. Diese wenigen kritischen Bemerkungen schmälern den Wert des Sammelbandes jedoch keineswegs. Wer sich für die japanische Politik interessiert, wird bei der Lektüre mit einer Vielzahl aufschlussreicher Einsichten belohnt.
Prof. Dr. Wolfgang Schwentker (wsch) ist seit 2002 Professor für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka und Mitherausgeber der Neuen Fischer Weltgeschichte.
schwentker@hus.osaka-u.ac.jp