Buch- und Bibliothekswissenschaften

Inspirierendes aus der Buch- und Bibliothekswissenschaft

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2019

Buchwissenschaft

Steve McCurry: Lesen. Eine Leidenschaft ohne Grenzen. Mit einem Vorwort von Paul Theroux. München, London, New York: Prestel, 2016. 140 S. ISBN 978-3-7913-8275-3 € 29.95

Der namhafte US-amerikanische Fotograf und Fotojournalist Steve McCurry, dessen „Afghanisches Mädchen“ mit den intensiv grünen Augen aus dem Jahr 1984 weltberühmt wird, und einer der bekanntesten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart, Paul Theroux, präsentieren ein außergewöhnliches Buch, den Fotobildband Lesen. Eine Leidenschaft ohne Grenzen. Für den Text, ein achtseitiges Vorwort, zeichnet Theroux verantwortlich, für die Fotos McCurry.

Theroux erzählt seine eigene Geschichte des Lesens und philosophiert über die Auswirkungen, die das Lesen auf die Tätigkeiten des Menschen hat (wir finden ihn lesend auf S. 35). „Lesen ist eine ernste Angelegenheit, doch einsam oder gelangweilt sind Leser selten, denn Lesen ist eine Zuflucht und eine Erleuchtung, eine Erfahrung, die zuweilen offen zutage tritt. Mir kommt es so vor, als ginge vom Gesicht eines lesenden Menschen etwas strahlendes aus.“ (S. 9)

Die Bilder werden über viele Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Ländern (u.a. Indien, Russland, Serbien, Spanien, Thailand, Türkei) an verschiedenen Orten (Straße, Café, Buchhandlung, Bibliothek, Park, Museum, Kloster, auf den Bergen, am Wasser) aufgenommen. Sie zeigen Menschen (Frauen und Männer, Junge und Alte, Arme und Reiche, Gesunde und Kranke) in unterschiedlichen Haltungen (sitzend, liegend, stehend, in der Hocke) mit verschiedenartigen Lesestoffen (Zeitung, Schulbuch, Roman, Gebetbuch, heilige Texte) in unterschiedlichen Stimmungen. Sie bringen deutlich erkennbar zum Ausdruck „die Selbstvergessenheit des Lesers, der leuchtende Blick, die Vorstellung von Abgeschiedenheit, die entspannte Körperhaltung, die besondere Art von Leistung, der Entdeckungsdrang – und einen Eindruck purer Freude.“ (S. 15)

Ein ungewöhnliches Buch mit wundervollen Fotografien! Für jeden Leser ein Genuss.

 

Roderick Cave, Sara Ayad: Die Geschichte des Kinderbuches in 100 Büchern. Hildesheim: Gerstenberg Verl., 2017. 272 S. ISBN 978-3-8369-2123-7 € 34.00

Dies ist nach Die Geschichte des Buches in 100 Büchern. 5000 Jahre Wissbegier der Menschheit (2015, s. fachbuchjournal 8 (2016) 2, S. 65-66) der zweite buchwissenschaftliche Titel des Bibliothekswissenschaftlers Roderick Cave, Experte für historische Bücher und Berater von Bibliotheken, Museen und Universitäten, und Sara Ayad, Expertin für Buchkunst und Bildrecherchen. Und es ist wieder ein faszinierendes Buch. In 11 Kapiteln wird die vielfältige Geschichte des Kinderbuches eindrucksvoll geschildert, in Fokussierung auf illustrierte Bücher und Bücher, „die dazu gedacht waren, vorgelesen oder selbst gelesen zu werden, und die Einfluss auf den heutigen großen, florierenden Kinderbuchmarkt hatte.“ (S. 7) „Die 100 Bücher sind ausdrücklich nicht die Klassiker oder die besten, manche interessieren uns, weil sie ziemlich schlecht oder unangenehm sind. Viele interessieren heutige Kinder dafür überhaupt nicht mehr. Wir haben versucht, anhand der Bücher wichtige Innovationen der letzen 300 Jahre in der Buchherstellung, im Marketing und Vertrieb vorzustellen.“

(S. 9) Im Mittelpunkt steht der englischsprachige Markt, es finden sich auch deutschsprachige Autoren wie Friedrich von Rochow, Heinrich Hoffmann oder Erich Kästner oder die Schwedin Astrid Lindgren. Jedes Kapitel besteht aus einem mehrseitigen Einführungstext zum Thema und aus beispielhaften Büchern, Bucharten oder literarischen Genres. Das dritte Kapitel z.B. behandelt sehr ausführlich die verschiedenen ABC-Tafeln und Abecedarien, das fünfte die kleinformatigen Bücher. Neben den Texten finden sich großartige Fotografien. Die Erschließung erfolgt durch ein Glossar, eine Bibliographie und ein Register. Das Buch ist hochwertig ausgestattet und umsichtig und lesefreundlich gestaltet. Die Autoren schließen eine große Lücke in der Kinder- und Jugendbuchforschung.

 

Marina Mahling: Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen. Die Bedeutung von Familie, Schule und Peers für die Beschaffung und Nutzung von Lesestoffen. Berlin: de Gruyter Saur, 2016. VIII, 376 S. (Schriftmedien Band 3) ISBN 978-3-11-043916-8 € 99.95 

Die Reihe Schriftmedien publiziert Veröffentlichungen, „die sich aus buch-, kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive mit Schriftmedien und dem Lesen beschäftigen“ (Rückseite des Titelblattes). Lesepraxis ist ein immanenter Bestandteil buchwissenschaftlicher Forschung und die Monografie Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen von Marina Mahling in allen Teilen ein Musterbeispiel.

Das Ziel der Forschungsarbeit besteht in der Herausarbeitung des Zusammenhangs der verschiedenen Aspekte der Lesesozialisation in der Familie, in der Schule und bei den Peers (ein eher unglücklicher Begriff, Freunde hätte es auch getan, wie dann auf S. 192) „für den Zeitraum beginnend vor dem Einsetzen der Pubertät über die Lesekrise hinaus … Es wird untersucht, wie die Kinder und Jugendlichen an die Lesestoffe gelangen und welche sie nutzen. Auch für die Beschaffung soll die Bedeutung der Instanzen der Lesesozialisation beleuchtet werden. Der Fokus liegt bei allen Analysen auf dem Lesen von Büchern bzw. E-Books in der Freizeit.“ (S. 3)

Der Einleitung (Kap. 1) folgen die Aufarbeitung des Forschungsstandes (Kap. 2), die dieser Arbeit zugrunde liegenden theoretischen Ansätze (Kap. 3) und eine Beschreibung der methodischen Herangehensweise. Der Meso-Ebene mit dem Buchbeschaffungsverhalten und dem Buchbesitz, der Bedeutung der Familie für die Lesesozialisation, der Funktion der Schule für das Lesen und den Zusammenhängen zwischen dem Lesen und den Peers sind die Kapitel 5-8 gewidmet, der Mikroebene Individuum, „also mit den inneren Einflussfaktoren auf das Leseverhalten“, (S. 6) das Kapitel 9. Abschließend werden die Zusammenhänge zwischen den Instanzen der Lesesozialisation untersucht. Überraschungen sind eingeschlossen wie das Anzweifeln einer Lesekrise und das Fazit, dass die Schule kaum Einfluss auf die Lesesozialisation nimmt!

Dieser ersten umfassenden Untersuchung zu diesem Thema ist eine weite Verbreitung zu wünschen, auch über den Kreis von Buchwissenschaftlern hinaus.

 

Meilensteine buchwissenschaftlicher Forschung. Ein Reader zentraler Quellen und Materialien. / Hrsg. Stephan Füssel und Ute Schneider in Zusammenarbeit mit einer Studierendengruppe. Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2017. VI, 436 S. (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft. Band 25) ISBN 978-3-44710600-9 € 19.90

Dieser Reader ist das Ergebnis einer Analyse mit dem Ziel, seit wann über die Funktion und Bedeutung des Mediums Buch nachgedacht wird und welche methodischen Wege uns in dem seit etwa 20 Jahren zu beobachtenden Medienumbruch begleiten. Er bietet den Studierenden und Praktikern in der Buchwissenschaft sowie den Kollegen in verwandten Disziplinen „anhand von impulsgebenden Texten eine gediegene Einführung in das Fach“ (S. 1) an, ordnet Forschungsfragen in ihren historischen Kontext ein und regt zu weiterführenden Diskussionen an. Die Sammlung von 34 Texten sind nach Ansicht der Herausgeber Meilensteine buchwissenschaftlicher Entwicklung. Die Texte werden in vier Gruppen kategorisiert:

1. ein Quellenaufriss vom 15. bis zum 20. Jahrhundert mit zeitgenössischen Äußerungen zur Bedeutung des Buchdrucks, von Enea Silvio Piccolominis Brief vom März 1455 als erstem Zeugnis über den fertigen Druck der Vulgata mit drucktechnischen und rezeptionsgeschichtlichen Details bis zu Eugen Diederichs Artikel über die wirtschaftlichen Probleme des Buchhandels anfangs der 1920er Jahre

2. Impulse für die Buchforschung aus Schriften namhafter Autoren aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Robert Escarpit, Paul Raabe und Roger Chartier, z.B. zur Literatursoziologie und zur Bedeutung der Geschichte des Buchwesens als Lehr- und Forschungsgebiet

3. interdisziplinäre Betrachtungen in theoretischen Modellen und impulsgebenden Abhandlungen u.a. von Aleida Assmann zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses und von Ulrich Saxer zu Buch und Buchwissenschaft aus kommunikationssoziologischer Perspektive

4. die Benennung aktueller Forschungsfelder in Arbeiten u.a. von André Schiffrin zur Zukunft des Publizierens, von Dominique Pleimling zum Lesen im digitalen Zeitalter und von Robert Darnton zu Forschungsbibliotheken im digitalen Zeitalter.

Die aufgenommenen Beiträge werden durch Kommentare und weiterführende Literatur ergänzt. Der Reader ist ein gelungener Versuch!

 

Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte / Hrsg. Thomas Fuchs et al. Band 25. Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2017. 289 S. ISBN 978-3-447-10895-9 ISSN 0940-1954 € 79.00

Das seit 1990 existierende Leipziger Jahrbuch ist eine Erfolgsgeschichte. Es veröffentlicht Arbeiten zur deutschen und internationalen Buchgeschichte, insbesondere zur Papier-, Einband-, Druck-, Buchhandels-, Bibliotheks- und Lesergeschichte. Nun liegt der 25. Band vor. Ein Jubiläum, auf das leider nicht hingewiesen wird – es fehlt auch in diesem Band ein Vorwort.

Veröffentlicht werden acht Abhandlungen und Berichte. Auf drei Themen sei hingewiesen: Der Buchhändler, Drucker und Auktionator Johann Daniel Gotthelf Brose (1752–1823) – Die fahrbaren Feldbüchereien im deutschen Heer des Ersten Weltkrieges (sie leisten „einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Literaturversorgung etlicher Soldaten …, denen sie einen Blick in eine friedlichere Wirklichkeit vermittelten“ S. 199) – Der deutsch-deutsche Austausch zwischen Wissenschaftsverlagen auf dem Gebiet der Philosophie am Beispiel des Felix Meiner Verlags und des Akademie-Verlags (ein Mosaikstein zur „Buch-, Verlags-, Philosophie- oder kurz Kulturgeschichte“ in beiden deutschen Staaten, S. 249). Ad multos annos!

 

Zurück in die Zukunft – Digitale Medien, historische Buchforschung und andere komparatistische Abenteuer. Festschrift für Norbert Bachleitner zum 60. Geburtstag / Hrsg. Julia Danielczyk et al. Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2016. X, 346 S. (Buchforschung. Beiträge zum Buchwesen in Österreich. Band 9) ISBN 978-3-447-10640-5 € 68.00

Eine Festschrift für Norbert Bachleitner, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien, zu dessen Forschungsgebieten auch die Sozialgeschichte der Literatur, die Buchgeschichte und die digitale Literatur gehören. Der Titel des interdisziplinären Symposiums anlässlich seines 60. Geburtstages Zurück in die Zukunft bezieht sich „nicht zuletzt auf die Wechselwirkungen, die sich zwischen digitalen Medien und historischer Buchforschung ergeben, konkret auf die Möglichkeiten einer historischen Buchforschung mittels Medien“ (S. IX) Ein Geleitwort von Murray G. Hall ehrt und würdigt den Jubilar, dessen vielfältige Forschungsinteressen sich in der Struktur des Symposiums abbilden. Die Themenblöcke sind die digitale Literatur (z.B. die Ästhetik digitaler Literatur), die Zensur (z.B. die Buch- und Theaterzensur im Habsburger Reich), die Rezeption literarischer Werke in Übersetzung und Bearbeitung (die umfangreichste Gruppe, z.B. die Literatur von James Baldwin im deutschsprachigen Raum, Aspekte der Intermedialität bei Franz Werfels „Jacobowsky und der Oberst“, „Der Löwe von Flandern“ von Hendrik Conscience in Bearbeitungen für die deutsche und österreichische Jugend), Literatur und Literaturbetrieb (z.B. die Entstehung, die Geschichte und das Wirken der Buchgemeinschaft Donauland) sowie Literatur und Reisen (z.B. der Reiseführer im medialen Wandel seit 1836).

Ein kunterbuntes Kaleidoskop in 30 Beiträgen, eine inspirierende Veröffentlichung zur interdisziplinären Lehre und Forschung in der Buchwissenschaft.

 

Buchwelten. Book worlds. Museum Sinclair-Haus Bad Homburg / Hrsg. Andrea Firmenich, Johannes Janssen. Bielefeld, Berlin: Kerber Verl., 2017. 144 S. ISBN 978-3-7356-0406-4 € 38.00

Die beste Zusammenfassung dieses außergewöhnlichen Buches findet sich im Werbeprospekt des Verlages: „Zeitgenössische Künstler, die sich in ihrem Werk mit Natur und Landschaft auseinandersetzen, richten ihren Fokus immer wieder auf das Buch als Ausdrucksform. Aus beschriebenen Seiten werden Landschaften komponiert und aus natürlichen Materialien Buchobjekte. Niedergeschriebene Mythen der Natur- und Menschwerdung, Herbarien und Kräuterbücher versuchen die Phänomene unserer naturhaften Welt zu erfassen.“ Johannes Janssen geleitet den Leser vortrefflich durch den Ausstellungskatalog. 23 Künstler zeigen ihre Werke. In den Buch- und Schriftobjekten werden „Geschichten erzählt, Landschaften geformt und Welten entdeckt … das Medium Buch bietet mit all seinen haptischen Qualitäten vielfältige Möglichkeiten. Da verwirrt schon der Buchdeckel mit der Fotografie einer ruinösen Bibliothek von Lori Nix – die Kuppel ist eingestürzt, die Stühle sind umgekippt, die Lesetische unbenutzt, Bäume erobern sich den Raum zurück und wachsen zwischen und vor den Bücherwänden in den Himmel.“ Guy Laramée gestaltet in „The Grand Library“ die Gesamtausgabe der „Encyclopædia Britannica“ zum Grand Canyon um. Hannes Möller erinnert in „Aschebücher“ an den Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar 2004, bei dem 50.000 Bücher völlig zerstört und 118.000 stark beschädigt werden.

Diesem ungewöhnlichen und außergewöhnlichen BilderBuch gilt die ganze Aufmerksamkeit der Buchwissenschaftler, Bibliothekare und Bibliophilen.

 

Bücherkisten. Von Menschen und Büchern / Hrsg. Jörn Morisse, Felix Gebhard. Mainz: Ventil Verl., 2017. 181 S. ISBN 978-3-95575-079-4 € 28.00 

Der Rezensent hofft, dass dieses Buch eine weite Verbreitung findet, denn in ihm wird dem Buch ein Denkmal gesetzt „als eine vielstimmige Kulturgeschichte, eine Collage, die in verschiedenen Lebensläufen die Bedeutung des gedruckten Buchs heute dokumentiert und ausgewählte Persönlichkeiten der Bücherwelt in O-Ton-Protokollen und Fotografien in ihrem speziellen Schaffensbereich porträtiert.“ (S. 7) Die Autoren sind u.a. Historiker (Siegfried Lokatis), Schriftsteller (Gerhard Henschel), Buchgestalter (Lothar Reher, vor kurzem im Alter von 85 Jahren verstorben), Verleger (Benno Käsmayr), Buchhändler (Annerose Beurich), Antiquare (Wolfgang Rüger) und Sammler (Albrecht Götz von Olenhusen). Sie erzählen Geschichten über das Büchermachen, das Verkaufen und Sammeln von Büchern – und über das Lesen. Daraus entwickelt sich ein lebendiges Bild „der jüngeren deutschen Buchgeschichte und dem Leben hinter Büchern … »Bücherkisten« weckt Erinnerungen, erklärt Zusammenhänge in einer Mischung aus detailkundiger Anschauung und objektivierender Distanz und versucht zu klären, warum die Liebe zum gedruckten Buch auch in digitalen Zeiten ungebrochen ist.“ (S. 7)

Eine Fundgrube passionierter Bekenntnisse und Liebeserklärungen zum Buch in einem bestens gestalteten Buch (Layout und Satz Oliver Schmitt, gesetzt aus der Joanna Nova und der Alternate Gothic No. 2) mit großartigen Fotografien (Felix Gebhard).

 

Bücher / Hrsg. Claudia Gehrke, Florian Rogge. 2., erweiterte Aufl. Tübingen: konkursbuch Verl. Claudia Gehrke, 2018. 347 S. (konkursbuch 55) ISBN 978-3-88769-955-0 € 16.80 

2018 feiert der konkursbuch Verlag seinen 40. Geburtstag. Zum Jubiläum bittet die Verlegerin Claudia Gehrke Autoren und Freunde des Verlages „Über Bücher“ zu schreiben. Die erste signierte Auflage erscheint in 666 nummerierten und signierten Exemplaren, die Auflagenhöhe entspricht genau der Anzahl an Titeln, die in den 40 Jahren erscheinen. Diese Auflage ist schnell vergriffen, so dass nun eine zweite unnummerierte und unsignierte erscheint. Die 52 Beiträge sind allesamt lesenswert. So bunt wie die Schar der Autoren (z.B. der in Teheran geborene und in München lebende Schriftsteller SAID, die in Tokio geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Yoko Tawada, die Staats- und Literaturwissenschaftlerin Sunita Sukhana, die Vorsitzende der Kurt Wolff Stiftung Britta Jürgs) sind auch die Themen: Gedanken über die Zukunft des Buches, Erkenntnisse aus dem Innenleben von Verlagen, Druckereien und Buchhandlungen und von Autoren und Lektoren, Einsichten von Lesern und Sammlern, aber auch sehr Ernstes über Bücherverbrennungen oder zu Sachbüchern aus der Zeit des Nationalsozialismus und ihren Neuauflagen in der Bundesrepublik. Jan Gympel über das Rezensieren: „Bücher zu besprechen bringt nicht viel. Jedenfalls nicht finanziell. Man liest stundenlang, tagelang, selbst wenn man das Werk eher überfliegt … Und doch umgibt das Besprechen von Büchern für mich ein besonderer Reiz“ (S. 214). So ist es.

 

Liturgische Bücher in der Kulturgeschichte Europas / Hrsg. Hanns Peter Neuheuser. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018. 213 S. (Bibliothek und Wissenschaft Band 51) ISBN 978-3-447-11010-5 € 118.00

Liturgische Bücher sind Bücher zum Gebrauch im offiziellen kirchlichen Gottesdienst und enthalten die Texte für Gebete und Lesungen der verschiedenen gottesdienstlichen Feiern und Instruktionen für den Ablauf der Riten auf die Tätigkeiten der handelnden Personen. Ihnen kommt im Gegensatz zu Büchern für private Formen der Andacht wie Gebet- und Stundenbücher ein amtlicher Charakter zu. Sie gehören zu den ältesten kulturellen Überlieferungen. Ihre dringend notwendige, sehr aufwendige retrospektive Erschließung wird durch die Anerkennung der Bibliotheken, Museen und Archive als Gedächtnisinstitutionen (vgl. fachbuchjournal 10 (2018) 3, S. 17-19) befördert. Hanns Peter Neuheuser stellt in seiner Einleitung liturgische Bücher als Sakralobjekte und Gebrauchsgegenstände vor und weist auf die unterschiedlichen Möglichkeiten hin, die gottesdienstlichen Anweisungen in Text und Bild darzubieten. In den zahlreichen Projekten werden in einer engen Zusammenarbeit von Bibliothekswissenschaft und Liturgiewissenschaft die liturgischen Bücher als Gegenstände kulturhistorischer Betrachtung untersucht.

Der Sammelband enthält acht Beiträge, die über Stand und Entwicklungstendenzen informieren, u.a. über Missale, Breviere und Proprien in den Beständen der Vatikanischen Bibliothek, über die liturgischen Bücher der Byzantinischen Kirche, über liturgische Bücher als Überlieferungsträger frühmittelalterlicher Musiktradition, über die um 1300 in den jüdischen Gemeinden Europas entstehenden Buchtypen, die das religiöse Leben ihrer Benutzer während des liturgischen Jahres begleiten sollen (wie das Mahzor und die Haggadah) sowie über die Bildausstattung des „Missale Romanum“ nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (das „Missale Romanum“ ist unter den Liturgiebüchern der katholischen Kirche von größter Bedeutung für die liturgische Praxis.)

 

Unter Druck. Mitteleuropäische Malerei im 15. Jahrhundert. Tagungsband zum internationalen Kolloquium in Wien. Österreichische Akademie der Wissenschaften / Hrsg. Jeffrey F. Hamburger, Maria Theisen. Petersberg: Michael Imhof Verl., 2018. 360 S. (Buchmalerei des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Band 15) ISBN 978-3-7319-0397-0 € 69.00

Der Tagungsband zum Kolloquium Mitteleuropäische Malerei im 15. Jahrhundert umfasst neben einer Einleitung 20 Vorträge. Sie alle beschäftigen sich mit neuesten Forschungsergebnissen zur mitteleuropäischen Buchkunst in einem Jahrhundert, in dem es durch einen tief greifenden Wandel in den gesellschaftlichen Prozessen und die Erfindung Gutenbergs auch zu wesentlichen Veränderungen in der Herstellung und Distribution von Büchern kommt. Mitteleuropa wird „zum künstlerischen Schmelztiegel, zum Generator und zur Drehscheibe für Ideen, stilistische Einflüsse und Entwicklungen, die auf ganz Europa ausstrahlten.“ (S. 9) Dies zeigen alle Beiträge auf beeindruckende Weise, von der Illumination im handgeschriebenen Buch mit einem besonderen Blick auf die Faszination Antike (und einer fabelhaften Entdeckung zum rätselhaften Buchschmuck in dem sog. Münchner Vergil, einer Handschrift aus der Zeit zwischen 1460 und 1480 aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek) bis zur Illumination im gedruckten Buch. Von großem Interesse dürfte auch ein Block mit Beiträgen zum Thema „Illustration und Publikum im Zeitalter des Buchdrucks“ sein, das den Titel der Veranstaltung Unter Druck vertieft. Ein großartiger Tagungsband, in bester Herstellung, reich an Abbildungen.

P.S. Dieser Band ist Teil einer Ausstellungsserie und m.E. nur im Kontext mit den anderen Katalogen zu verstehen. Zwölf Bibliotheken in Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligen sich von 2014 bis 2017 mit Einzelausstellungen an einem Stationenweg zur Buchmalerei des 15. Jahrhundert. Diese Ausstellungen zeigen eine eigene Perspektive auf die Kunst der Buchillustration, dokumentiert werden sie durch je einen Katalog. Alle Ausstellungen entwickeln je nach dem Sammlungsprofil einen spezifischen Blickwinkel auf die Kunst des illustrierten Buches im Mitteleuropa des 15. Jahrhunderts. Die ergänzenden Bände sind Bilderwelten. Buchmalerei zwischen Mittelalter und Neuzeit. (Luzern, 2016), Goldene Zeiten. Meisterwerke der Buchkunst von der Gotik bis zur Renaissance (Luzern, 2015) und Meisterwerke der Buchmalerei des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa (Luzern, 2016, das sind 10 Ausstellungskataloge mit insgesamt 640 Seiten).

 

David und Ulrike Ganz: Visionen der Endzeit. Die Apokalypse in der mittelalterlichen Buchkunst. Darmstadt: Philipp von Zabern Verl., 2016. 159 S. ISBN 978-3-8053-4995-6 € 49.95

Das jüngste kanonische Buch des Alten Testaments, das Daniel-Buch, und das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, das unter dem Eindruck der Christenverfolgung Kaiser Domitians entsteht, sind die populärsten Bücher der Apokalypsen-Literatur. Die Apokalypse in der mittelalterlichen Buchkunst beschäftigt sich in 21 chronologisch geordneten bebilderten Werken mit den Apokalypse-Illustrationen zur Offenbarung des Johannes. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden sie in drei Gruppen zusammengefasst. Den Anfang machen zwischen 800 und 1100 herausgegebene Bücher, eine Zeit, „die von hohen Investitionen in die Sakralisierung von liturgischen Büchern geprägt war.“ (S. 18) Die zweite Gruppe umfasst Bücher aus der Zeit zwischen 1100 und 1360, „die sich durch Experimentieren mit neuen Buchformaten auszeichnen.“ (S. 18) Die dritte Gruppe zum 13. bis 15. Jahrhundert versammelt Bilderapokalypsen als Medium privater Frömmigkeit, Bücher, „die durch intimes Format, durch auf den Leser-Betrachter zugeschnittene Bilderweiterungen oder durch Gebetstexte einen persönlichen Zugang zur Apokalypse ermöglichen.“ (S. 18) Von der Trierer Apokalypse um 800 über die Weimarer Handschrift Biblia Pauperum von 1340/1350 bis zu Albrecht Dürers Holzschnittfolge „Die heimlich offenbarung iohannis“ aus dem Jahr 1498. Es zeigt sich, dass sich die Visionen des Johannes in besonderer Weise zum Illustrieren eignen, hier großformatig in Farbe wiedergegeben. Diese Veröffentlichung wirkt durch die Kraft der Bilder und ist in dieser repräsentativen Zusammenstellung das Who`s Who zu den biblischen endzeitorientierten Illustrationen, ergänzt um sehr kurze Essays zu den einzelnen Veröffentlichungen, die Daten zu den behandelten Büchern und bibliographische Nachweise zur wichtigsten Forschungsliteratur.

 

Buchrevolution um 1500 / Hrsg. Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt: Philipp von Zabern Verl., 2016. 223 S. ISBN 978-3-8053-5027-3 € 19.95 

Dieser fabelhafte Ausstellungskatalog Textkünste. Buchrevolution um 1500 führt Bestände aus zwei europäischen Bibliotheken mit bedeutenden Sammlungen früher Drucke, der Universitätsbibliothek Leipzig und der Bibliothèque Municipale de Lyon, zusammen.

Der erste Teil beschäftigt sich mit der Erfindung der Druckseite um 1500. Anfangs orientiert sich die Gestaltung einer Druckseite an dem Erscheinungsbild der Handschrift. Die Erfindung der Buch-Druckseite „ist ein Bündel von Prozeduren, die grundlegend neu ausgerichtet wurden, um für gedruckte Texte eine Lesbarkeit überhaupt erst möglich zu machen.“ (S. 13). Die Regeln für die Seitengestaltung entwickeln sich langsam, aber kontinuierlich in den ersten 80 Jahren nach der Gutenbergschen Erfindung zwischen 1455 und 1535.

Der zweite Teil Satzspiegelungen präsentiert das historische Material in zahlreichen Beispielen zu den Veränderungen des Zeilenverbundes und des Absatzlayouts, zur Textgliederung durch Überschriften, zur Integration von Abbildungen und zur Mehrstimmigkeit der Texte („Wenn Texte sich auf andere Texte beziehen, kann das auf verschiedene Weisen durch die Gestaltung des Druckbildes verdeutlicht werden.“ S. 121).

Der dritte Teil Druckversuche enthält in Ergänzung zum ersten und zweiten Teil elf Aufsätze zu Einzelthemen. Dies alles ist der Rückblick auf die Erfindung der gedruckten Buchseite aus dem digitalen Zeitalter heraus. Der digitalen Textdarstellung im 21. Jahrhundert werden die Seitenformatierungen um 1500 gegenübergestellt. Es „darf nicht übersehen werden, dass die Druckseite als gestaltete Konvention keinesfalls auf einen Schlag erschien“ (S. 12), und „seitdem Texte elektronische Daten sind, die durch Computer bearbeitet werden, gibt es neue Anforderungen an die Formatierung von Texten“ (S. 11) Aber: Textgestaltung geschieht nie ohne Rücksicht auf das Lesen, Texte müssen in lesbare Formate gebracht werden – damals wie heute.

Dieser aufwendig gestaltete und produzierte Band ist Buchgestaltung auf hohem Niveau. Gratulation!

 

Bibliothekswissenschaft

Michael Knoche: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Göttingen: Wallstein Verl., 2018. 136 S. ISBN 978-3-8353-3236-2 € 20.00

Dieses schmale, sehr kluge Büchlein handelt von der Zukunft der wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland. „Das sind die Bibliotheken, die für Forschung, Studium und die wissenschaftlich orientierte Öffentlichkeit geschaffen wurden, also die Staats-, Hochschul- und Spezialbibliotheken.“ (S. 9)

Der Autor fordert eine neue beherzte und durch den Bund gelenkte und finanziell unterstützte Bibliothekspolitik. Seine Thesen: „Die Idee der Bibliotheken ist nach wie vor stark und notwendig“ und „Die Realisierung der Idee wird für die einzelne Bibliothek zur Quadratur des Kreises. Bibliotheken bleiben nur dann starke Akteure im Dienst von Wissenschaft und Öffentlichkeit, wenn sie in die Lage versetzt werden, viel arbeitsteiliger vorzugehen und vielmehr miteinander zu kooperieren, als dies in der Welt der gedruckten Literatur notwendig war.“ Ergo: „Bibliotheken funktionieren nur noch im System.“ (S. 10) Es ist das Fazit der Erfahrungen des früheren Direktors der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar Michael Knoche. Seine Ausführungen stehen im Kontrast zum weinseligen Gefasel vom Ende der Bibliotheken. Von Selbstzweifeln geplagt, stellen sogar einige aus der bibliothekarischen Zunft die Bibliothek als Institution in Frage. Der Autor analysiert messerscharf und notiert nachvollziehbare und realisierbare Vorschläge für ein System der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken. Dazu gehört in erster Linie die Kooperation zwischen den Bibliotheken über die Bundesländergrenzen hinaus als eine gesamtstaatliche Aufgabe bei der Digitalisierung der Altbestände ebenso wie bei den traditionellen Aufgaben wie Sammeln, Bestandserhaltung und Aussonderung. Er beschäftigt sich u.a. mit einem Archivierungskonzept für die Buchbestände, der zentralen Speicherung elektronischer Ressourcen, den Tücken der elek tro nischen Publikationen, dem Open Access als Revolution des wissenschaftlichen Publizierens. Sein Fazit: „Die Merkmale des Internets sind Flüchtigkeit, Nicht-Hierarchie, Ubiquität und Vernetzbarkeit von allem und jedem. Die Merkmale von Bibliotheken sind Dauer, Ordnung, Kontext du Konzentration. Gepriesen sei die Zeit, die über beides verfügt und es kombinieren kann.“ (S. 121)

Eine Pflichtlektüre für alle Bibliothekare und für die Entscheidungsträger von Bibliotheken aus Bund, Ländern und Kommunen, auch für die Förderer von Bibliotheken, denn Bibliotheken sind „neutrale, verlässliche und kostenfrei zugängliche Orte, an denen man sich über den Stand des Wissens anhand von ausgewählten Publikationen umfassend unterrichten kann.“ (S. 16)

 

Richard David Lankes: Erwarten Sie mehr. Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen, 2017. 175 S. ISBN 978-3-945610-32-9 € 19.50

Das zuvor besprochene Buch Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft ist ein Plädoyer für die Entwicklung der wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland und wendet sich an die Bibliothekare und an die für die Bibliotheken verantwortlichen Trägerinstitutionen in Deutschland, Richard David Lankes Erwarten Sie mehr. Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt wendet sich nur an die Trägerinstitutionen von Bibliotheken in den USA, um die Bibliotheken auf die Zukunft vorzubereiten.

Lankes verwendet durchgängig den Begriff Community in einem sehr weiten Sinne, eine Community sei eine Gruppe von Menschen, „die sich zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Communities bilden sich, wo Menschen zusammenleben, wo sie studieren und arbeiten (S. 17). Der Autor verfolgt das Ziel, die Potentiale von Bibliotheken aufzuzeigen, ihre Community oder auch die Gesellschaft allgemein zu verbessern. Er beschreibt Erwartungen, die die Entscheidungsträger an Bibliotheken haben sollten. Bibliotheken sind als Teil der Community „ein Zentrum des Lernens und der Innovation“ (S. 169), sie sind aktiv an der „Förderung des Wissens“ (S. 91) beteiligt, sie vermitteln Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten beim Recherchieren u.v.a., oft vorgetragen im Sinne eines Wanderpredigers mit zahlreichen Fallbeispielen, die aber schon wegen anderer Schul-, Hochschul-, Bibliotheks- und Infrastrukturen nicht auf Deutschland übertragbar sind. Als Anregungen sind die Vorschläge dennoch willkommen. In einem sind sich Knoche und Lankes einig: Es wird wesentlicher Veränderungen in den und um die Bibliotheken bedürfen, „in dieser neuen Sichtweise ist die Bibliothek weder ein Ort noch eine Büchersammlung, sondern eine Plattform für die Community zur Generierung und zum Austausch von Wissen.“ (S. 118)

 

Vom Sinn der Bibliotheken. Festschrift für HansGeorg Nolte-Fischer / Hrsg. Irmgard Sieber, Dietmar Haubfleisch. Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2017. 280 S. ISBN 978-3-447-10886-7 € 68.00 

Die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt ist in den letzten vier Jahren mit Festschriften reich gesegnet. 2014 erscheint zur Eröffnung der Bibliotheksbauten ein Bild- und Textband Neue Mitte(n), im Jahr des 450jährigen Jubiläums 2017 sind es der Rückblick 450 Jahre Wissen – Sammeln – Vermitteln, der Ausstellungskatalog Bildwerke des Wissens und die hier anzuzeigende Festgabe Vom Sinn der Bibliotheken zum 65. Geburtstag des langjährigen Direktors Hans-Georg Nolte-Fischer. Im Mittelpunkt aller Veröffentlichungen stehen Themen zur Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Der Titel Vom Sinn der Bibliotheken nimmt Bezug auf einen Beitrag des Jubilars zur Einweihung des Neubaus 2014 und ist sinnstiftend für die Aufgaben der Bibliotheken im 21. Jahrhundert aus der Sicht und mit den Erfolgen der Darmstädter Bibliothek. Unter den 23 Beiträgen finden sich Aufsätze zur Situation in der Darmstädter Bibliothek nach dem Bezug der neuen Gebäude hinsichtlich der Etablierung neuer Dienstleistungen, Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse, zur Bautätigkeit in anderen Universitätsbibliotheken (auch zum Zusammenhang zwischen dem Bibliotheksbau und dem Aufbau eines einheitlichen Bibliothekssystems), zur Kooperation, Organisation und Transformation sowie zu Bibliotheken als Gedächtnisinstitutionen.

Der Stil ist gegenüber anderen Festgaben erfreulicherweise recht locker. Beispiele: „Der Mensch lebt nicht vom Web allein“ (S. 203), das Problem der „Traditionsallergien“ (S. 187), „Das palliative Prinzip der Bauunterhaltung“ (S. 104) oder das wunderbare Bonmot des französischen Dramatikers André Roussin „Ein Intellektueller ist einer, der in eine Bibliothek geht, selbst wenn es nicht regnet.“ (S. 141) Eine anregende Festschrift.

 

Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren / Hrsg. Stefan Höppner et al. Göttingen: Wallstein Verl., 2018. 318 S. (Kulturen des Sammelns. Akteure – Objekte – Medien. 2) ISBN 978-3-8353-3233-1 € 34.90

Autorenbibliotheken bieten einen perfekten, aber bisher kaum genutzten Zugang zu Schriftstellern und ihrer Werke, es zeigen sich Arbeits-, Produktions- und Revisionsprozesse ebenso wie soziale Netze und literarische Allianzen. Das vom Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel durchgeführte Forschungsprojekt Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz will dem abhelfen. Es fasst die persönliche Büchersammlung eines Autors als einen komplementären Ort zu seinem Werk auf und widmet sich in Analysen den Entstehungsbedingungen von Literatur und Wissenschaft von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Eine erste Publikation ist Autorenbibliotheken. Erschließung, Rekonstruktion, Wissensordnung. (Wiesbaden, 2015. Vgl. fachbuchjournal 9 (2017) 4, S. 60).

Im November 2016 laden die Verantwortlichen dieses Projekts in das Goethe-Nationalmuseum ein, um am Standort von Goethes Privatbibliothek eine Tagung zum Thema Autorschaft und Bibliothek auszurichten. Die Ergebnisse werden mit diesem Band in 19 Beiträgen öffentlich zugänglich gemacht. Dem Rezensenten zeigen sich drei Schwerpunkte:

1. Überlegungen zum Sammeln und Schreiben von Büchern, zu literaturtheoretischen Perspektiven von Autorschaft und Bibliothek sowie Autorschaft zwischen Kontextualisierung und Kontextflucht.

2. Analysen zu mehreren Autorenbibliotheken wie frühneuzeitliche Autorinnenbibliotheken, Marginalien, Widmungen und andere sekundäre Eintragungen in Autorenbibliotheken sowie Versuche einer Rekonstruktion von Gelehrtenbibliotheken an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, die zwischen 1832 und 1889 in den Bestand der Bibliothek gelangen (z.B. die Privat- und Arbeitsbibliothek von Jacob und Wilhelm Grimm und die juristische Bibliothek von Georg Puchta).

3. Analysen zu einzelnen Autorenbibliotheken wie Johann Gottfried Herders Bücherverzeichnis von 1776, Bettina von Arnims Nutzung der Familienbibliothek, dem Nachlass des Marcel-Duchamp-Übersetzers Serge Stauffer, der Bibliothek August Boeckhs und Buchgeschenken in Goethes Bibliothek.

Hier soll noch auf das Schicksal der Bibliothek von Karl Wolfskehl hingewiesen werden, der Mitte der 1936 als jüdisch Verfolgter seine Bibliothek verkaufen muss, sie gelangt durch den jüdischen erwerbenden Verleger Salman Schocken nach Jerusalem, nach dessen Tod wird sie von den Erben an ein Hamburger Auktionshaus gegeben („die Bibliothek als zerstörter Gegenort“ S. 291) Die Gestaltung ist wunderbar (Umschlaggestaltung, Papier, gesetzt aus der Stempel Garamond und der Roboto), leider fehlt ein Personenregister. Ein sehr lesenwerter Band für einen großen Kreis von Interessenten wie Bibliothekare, Bibliophile, Archivare, Literaturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker. Er vermittelt neue Erkenntnisse über den Inhalt von Büchersammlungen, über deren Besitzer und deren gesellschaftliches Umfeld und die möglichen Netzwerke.

Beide Bände sind Teil einer Hochkonjunktur von Veröffentlichungen über Nachlässe und Bibliotheken, die noch lange anhalten möge: Literaturwissenschaft und Bibliotheken. Göttingen, 2015 (ISBN 978-3-8471-0454-43), Die Werkstatt des Dichters. Imaginationsräume literarischer Produktion. Berlin, 2017 (ISBN 978-3-11-0464931), Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen. Berlin, 2018 (ISBN 978-3-11-059196-5).

 

Milan Bulaty: Arbeitstage. Erzählung. Berlin: Hentrich & Hentrich Verl., 2017. 148 S. ISBN 978-3-95565218-0 € 17.90 

Milan Bulaty erzählt aus der Ich-Perspektive eines tschechischen Emigranten mit jüdischen Wurzeln vom Alltag in Berlin. Geboren 1946 in Prag und dort aufgewachsen, emigriert er 1970, nach dem Studium der Philosophie wird er Mitarbeiter der Amerika-Gedenkbibliothek in West-Berlin, nach der Wende zum Direktor der Bibliothek der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und Gründungsdirektor des Jacob- und Wilhelm-Grimm-Zentrum Berlin berufen. „Ich“ fährt von der Güntzelstraße über die Haltestellen Spichernstraße, Kurfürstendamm, Zoologischer Garten, Tiergarten, Bellevue und Hauptbahnhof zu seinem Arbeitsplatz in der Nähe der Friedrichstraße – das sind auch die Kapitelüberschriften – und kehrt auf derselben Route in umgekehrter Reihenfolge abends zurück. Das ist der Rahmen für die Struktur eines Arbeitstages und der Auslöser und Impulsgeber für ein Geflecht aus Autobiographie und Fiktion: Überleben und Weiterleben, Flucht und Emigration. Gegenwart und Vergangenheit wechseln sich ab, und das alles im fest strukturierten Tagesablauf. Ein Bericht in präziser Sprache, in kurzen prägnanten Sätzen, eigentlich eine Emigrationsgeschichte.

In unserem Zusammenhang ist das Wirken Bulatys als Direktor der zentralen Bibliothek der Humboldt-Universität nach der Wende von Interesse. Es sind wunderbare Schilderungen über die Alltagswirklichkeit eines Bibliotheksdirektors im vereinigten Berlin, beginnend mit Eindrücken vom Verhalten der Mitarbeiter in Ost-Berlin bis hin zum Bibliotheksbau („Meine größte Freude war der Neubau der Bibliothek“ S. 88).

Dieser Neubau gehört dank Bulatys Engagement zu den herausragenden Bibliotheksbauten („Ich freue mich noch immer, wenn ich das Haus betrete.“ S. 89) Dokumentiert wird dies in einem großartigen Text-Bild-Band, der 2010 vom Deutschen Architekturmuseum und der Frankfurter Buchmesse den DAM Architectural Book Award erhält (Bibliothek. Texte u.a. von Milan Bulaty, Max Dudler, Martin Mosebach und Peter von Matt. ISBN 978-3-82700978-4) – die Texte, ein reines Lesevergnügen für alle Bücher- und Literaturfreunde, die Fotografien alle gelungen. Der beeindruckende Bau hat national und international sowohl bei den Architekten und Bibliothekaren als auch bei den Bibliotheksbenutzern großen Anklang gefunden. Er ist ein großes Verdienst von Milan Bulaty, dessen Arbeitstage eine willkommene Hintergrundinformation eines bewegten und bewegenden Lebens sind.

 

Helga Schwarz: Das Deutsche Bibliotheksinstitut. Im Spannungsfeld zwischen Auftrag und politischen Interessen. Berlin: Simon Verl. für Bibliothekswissen, 2018. 522 S. ISBN 978-3-945610-37-4 € 23.80

Das Deutsche Bibliotheksinstitut (DBI) ist eine 1978 gegründete, gemeinsam vom Bund und den Ländern finanzierte Dienstleistungseinrichtung mit Sitz in Berlin. 20 Jahre später beschließen Bund und Länder, die gemeinsame Finanzierung zu beenden. Eine Nachfolgeeinrichtung kommt nicht zustande.

Die 80jährige Helga Schwarz, die als ehemalige Mitarbeiterin über genaue Kenntnisse aus allen Bereichen des DBI verfügt, beschreibt in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2017 minutiös die Vorgänge vom vorehelichen Verhalten, von der Zeugung und von den vielen Müttern und Vätern auf den verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Ebenen über die Mühen der Ebene mit den zugewiesenen Aufgaben mit Erfolgen und Misserfolgen bis hin zum irreversiblen Sterbeprozess und gewaltsamen Tod. Die Trauer hält sich bis heute offensichtlich in Grenzen. Es ist die Geschichte einer Institution, die trotz mancher Erfolge und machbarer Zukunft zwischen den Interessen von zentraler und Landespolitik, von Regionalisierung und Zentralisierung von Märkten und von unterschiedlichen Interessen der Bibliotheken zerrieben wird. Skeptiker beschreiben sie schon immer als kompliziert.

Überwiegende Grundlage sind die zahlreich vorhandenen Quellen wie Gesetze, Protokolle, Gutachten, Empfehlungen und Beschlussvorlagen sowie viele Interviews mit Zeitzeugen; auf Veröffentlichungen kann Schwarz nicht zurückgreifen, denn die gibt es kaum.

„Es war spannend und oft entlarvend, wie Interessen verfolgt und durchgesetzt wurden – oder manchmal auch nicht. Ich hoffe, der Leser folgt mir durch das Dickicht der Ereignisse bis zur Erhellung der Zusammenhänge.“ (S. 15) In dem Dickicht der Quellen, insbesondere solchen bürokratischen Inhalts, ist der Rezensent auch ab und an ermüdet hängen geblieben. Am meisten aber stört ihn, dass die Zahlen im Personenregister nie auf die genannten Seiten führen, sondern an ganz andere Stellen; das muss nicht sein, passt aber auch irgendwie zur Geschichte des DBI. Diese spannende, detailreiche Untersuchung schließt eine Lücke in der Bibliotheksforschung.

 

Sören Flachowsky: »Zeughaus für die Schwerter des Geistes«. Die Deutsche Bücherei in Leipzig 19121945. Band 1-2. Göttingen: Wallstein Verl., 2018. 1338 S. ISBN 978-3-8353-3196-9 € 69.00

 

Christian Rau: »Nationalbibliothek« im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945-1990. Göttingen: Wallstein Verl., 2018. 727 S. ISBN 978-3-8353-3199-0 € 54.90

Als zum 100. Geburtstag der Gründung der Deutschen Bücherei 2012 keine Festschrift erscheint, ist die Betroffenheit groß. Aber: Die Generaldirektion beauftragt zwei nicht dem Hause angehörende Wissenschaftshistoriker, eine umfassende Gesamtgeschichte zu schreiben. Sören Flachowsky nimmt sich mit Zeughaus für die Schwerter des Geistes der Zeit von 1912 bis 1945 an, Christian Rau beschäftigt sich in »Nationalbibliothek« im geteilten Land mit der Deutschen Bücherei in der SBZ und der DDR. Nun liegen zeitgleich drei Bände mit einem Umfang von über 2.000 Seiten vor.

Die Gründung einer Nationalbibliothek wird durch die föderale Struktur Deutschlands jahrhundertelang verhindert. Dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Stadt Leipzig ist es zu danken, dass 1912 die Gründung einer Deutschen Bücherei erfolgt. Die deutschen Verleger verpflichten sich, dieser Einrichtung kostenlos je ein Exemplar ihrer Veröffentlichungen zukommen zu lassen. Die Deutsche Bücherei wird die einzige Institution in Deutschland, die die gesamte seit 1913 in Deutschland erscheinende deutschsprachige und fremdsprachige Literatur und die ausländische Literatur in deutscher Sprache sammelt, bibliographisch erschließt und als Präsenzbibliothek zur freien Verfügung stellt – einzig jedenfalls bis nach der Teilung Deutschlands, als 1947 eine „Deutsche Bücherei des Westens“ als „Deutsche Bibliothek“ in Frankfurt am Main gegründet wird.

Was ist neu und ausführlicher und konkreter als in früheren Darstellungen über eine Bibliothek, die in fünf ganz unterschiedlichen politischen Systemen (Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, SBZ und DDR und nach 1990 das wiedervereinte Deutschland) existiert? Alles – nichts ist geschönt, alles ist auf dem Prüfstand, insbesondere die Legenden von unpolitischen Bibliotheken, alles ist im Rahmen der deutschen und europäischen Entwicklung interdisziplinär aufgearbeitet. Beispiele:

1. Ab 1933 wird die Deutsche Bücherei zu einem bedeutenden Dienstleister für die literaturpolitischen Zensur- und Verbotsinstanzen, unliebsames Schrifttum wird sekretiert, reichsdeutschen Juden wird die Nutzung der Bibliothek untersagt, Bibliothekare beteiligen sich an der Indizierung und Beschlagnahme unerwünschter Literatur und fördern mit ihren bibliographischen Arbeiten die rassistisch grundierte Literaturpolitik, z.B. durch die Zusammenstellung schwarzer Listen, Arbeiten an der NS-Bibliographie und an einer Bibliographie des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache, sorgen für die Geheimhaltung von Werken jüdischer Verfasser und über jüdische Themen.

2. Ab 1945 gilt die Deutsche Bücherei in der SBZ/DDR als ein bedeutender Bestandteil der sozialistischen Nationalkultur und als eine gefragte Forschungsbibliothek, in der Bundesrepublik als Propagandainstrument der SED. Diese Legenden werden widerlegt, insbesondere, dass sich die Deutsche Bücherei als unpolitische Institution nur um ihren Sammelauftrag kümmert und um sonst nichts. Bibliothekare beteiligen sich an der Sekretion von Literatur viel differenzierter als bisher bekannt. Es wird gezeigt, wie der (gesamt)deutsche Sammelauftrag weitergeführt wird und wie sich die damit verbundenen Verbindungen zu westdeutschen Verlagen und die Beziehungen der Deutschen Bücherei zur Deutschen Bibliothek gestalten.

3. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Personen, die die Bibliothek oder wichtige Abteilungen seit 1912 leiten, ihre Qualifikation, ihre Fähigkeit zur Führung einer Bibliothek, ihre Beziehungen nach außen, ihre Hingabefähigkeit an die Mächtigen (z.B. als Mitglied der führenden Partei, als Mitarbeiter der Staatssicherheit).

4. Die Direktoren der Preußischen Staatsbibliothek versuchen immer wieder vehement, die Gründung und später den Fortbestand der Leipziger Einrichtung zu torpedieren, weil sie glauben, dass nur in der Reichshauptstadt eine Nationalbibliothek existieren kann. Derartige Animositäten und Sticheleien setzen sich in der DDR fort. Die heutige Deutsche Nationalbibliothek verfügt nun, unter Verwendung der zahlreichen ungedruckten und veröffentlichen Quellen, über zwei historische Darstellungen in einmaliger Qualität, minutiös, profund, stilistisch gekonnt und reich illustriert. Es ist weit mehr als die Geschichte einer Bibliothek, es ist ein wichtiger Teil deutscher Bibliotheks-, Buch-, Buchhandels-, Verlags- und Wissenschaftsgeschichte und in gewissem Sinn auch sächsischer Geschichte. Das setzt Maßstäbe in der Bibliotheksgeschichtsschreibung und ist Vorbild für ähnliche Vorhaben, auch in anderen Ländern.

 

Im Schatten der Eule / Hrsg. Eva Ramminger. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verl., 2016. 113 S. (Technik für Menschen. 200 Jahre Technische Universität Wien. Band 12) ISBN 978-3-205-20115-1 € 25.00 

Im Rahmen des 200jährigen Jubiläums der 1815 als K.K. Polytechnisches Institut gegründeten Technischen Universität Wien erscheint als eigener Teilband der Festschrift der Universität diese interessante Veröffentlichung zur zeitgleich eingerichteten Bibliothek. Sie ist heute die größte naturwissenschaftlich-technische Spezialbibliothek Österreichs.

In acht zweisprachigen Beiträgen (englisch und deutsch) werden die verschiedenen Aspekte einer modernen Spezialbibliothek im 21. Jahrhundert unter Einschluss historischer Erfahrungen präsentiert – von der Arbeit im neuen Bibliotheksgebäude und Einblicke in die bibliothekarische Arbeit („Es ist zu hoffen, dass die öffentliche Wahrnehmung dieses Berufs neue und aktuellere Formen annehmen möge – weg vom Klischee, hin zur Realität. Bis dorthin ist es jedoch eine spannende Zeit!“ S. 48) über die Rolle von Bibliothekskatalogen bis hin zur optimalen Forschungsbibliothek.

Der Titel Im Schatten der Eule ist eine Hommage an die 18 Meter hohe sowie 16 kleineren Eulenstatuen des Architekten Bruno Weber an dem 1987 eingeweihten Bibliotheksneubau – mit dem Jugendroman „Brendon Chase“ von Denys Watkins-Pitchford (Synonym B.B.) aus dem Jahre 1944 und der Fernsehserie von 1980, die in deutscher Sprache Im Schatten der Eule erscheinen, hat dies nichts zu tun.

 

Susanne Wanninger: „Herr Hitler, ich erkläre meine Bereitwilligkeit zur Mitarbeit.“ Rudolf Buttmann. Politiker und Bibliothekar zwischen bürgerlicher Tradition und Nationalsozialismus. Wiesbaden: Harrassowitz Verl., 2014. 591 S. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. Bd 59) ISBN 978-3-447-10318-3 € 86.00

Rudolf Buttmann (1885–1947) beginnt 1898 ein Praktikum an der Königlich-Bayerischen Hof- und Staatsbibliothek München, erlernt den Beruf des wissenschaftlichen Bibliothekars, wird in Staatswissenschaften promoviert und arbeitet von 1910 bis 1933 in der Bayerischen Landtagsbibliothek. In der bayerischen Landespolitik verschreibt er sich in der Weimarer Republik der nationalsozialistischen Bewegung (NSDAP-Mitgliedsnummer 4) und wird für seine Verdienste 1933 Ministerialdirektor und Leiter der kulturpolitischen Abteilung des Reichsinnenministeriums. 1935 kehrt Buttmann an seinen beruflichen Anfang in seinen erlernten Beruf zurück und wird Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, ein Amt, das er bis 1945 bekleidet. Dem Reichstag gehört er von 1933 bis 1945 an. In vielen Standardwerken fehlt trotz dieser herausgehobenen Positionen eine Einschätzung zu Buttmanns Leben und Werk. Susanne Wanninger ist zu danken, dass sie in ihrer Dissertation Buttmanns Leben und insbesondere sein Wirken an der Bayerischen Staatsbibliothek akribisch unter Zuhilfenahme des Nachlasses der Familie Buttmann und der Forschungsliteratur erstmals umfassend nachzeichnet. Es ist das Leben einer zwiespältigen, vielseitig begabten, treu dem Nationalsozialismus ergebenen Persönlichkeit. Buttmann ist eher ein gemäßigter Nationalsozialist mit bürgerlicher Tradition, ein „Bildungsbürger par excellence“ (S. 47), Kommunikation liegt ihm offensichtlich fern. Ob er ein „social broker“ (S. 12, 544) ist, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen, dieser Begriff, den die Autorin nicht näher erläutert, wirkt wie ein Fremdkörper. Die widersprüchlichen Verhaltensweisen Buttmanns lassen eine objektive Beurteilung nur schwer zu. Er leitet als überzeugter Nationalsozialist die zweitgrößte deutsche Bibliothek. Er nutzt die traditionellen Grundsätze der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken, er nimmt gekonnt Spielräume wahr, versucht sogar, bedrohte Mitarbeiter zu schützen. Das geschieht alles bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mit den Verlusten von Personal, Raum und Bestand an dessen Ende, seine politische Einstellung bleibt, ein Widerstandskämpfer ist er nie und nimmer. Gesundheitlich stark geschwächt stirbt er kurze Zeit nach Entlassung aus der Haft, seine Entnazifizierung erlebt er nicht mehr.

Buttmann spielt in der Geschichte der NSDAP, der Kirchengeschichte der NS-Zeit (u.a. die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl in Rom, die 1933 zum Reichskonkordat führen), in der bayerischen Landesgeschichte und in der deutschen Bibliotheksgeschichte eine bedeutende Rolle. Deshalb ist diese akribisch erarbeitete, klar strukturierte und gut lesbare Arbeit eine wichtige Veröffentlichung nicht nur von bibliothekshistorischem Interesse.

 

Cornelia Briel: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945 / Hrsg. Hans Erich Bödeker und Gerd-Josef Bötte. Berlin: Akademieverlag, 2013. 406 S. ISBN 978-3-05-004902-1 € 69.80

 

Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung. Die Preußische Staatsbibliothek und das deutsche Bibliothekswesen. Beiträge des Kolloquiums am 30. Januar 2013 in der Staatsbibliothek zu Berlin aus Anlass des 80. Jahrestages der nationalsozialistischen Machtübernahme / Hrsg. Klaus G. Saur und Martin Hollender. Frankfurt am Main: Klostermann, 2014. 261 S. (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderband 113) ISBN 978-3-465-04213-2 € 69.00

2006 beginnt die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz mit systematischen Untersuchungen zum NS-Raubgut. Ein besonders großer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Aktivitäten der 1926 gegründeten Reichstauschstelle, einer mit der Preußischen Staatsbibliothek in vielfältiger Weise verflochtenen Institution. Erste Ergebnisse liegen in Vorträgen einer Tagung 2008 vor: NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek (München, 2008. ISBN 978-3-598-11777-0).

2013 erscheint ein weiterer Band zu diesem Thema. Es ist eine umfassende, von Cornelia Briel vorgenommene Untersuchung: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NSRaubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945. Beide sind als zentrale Einrichtungen des deutschen Bibliothekswesens in die Erwerbung und Verteilung von NS-Raubgut in erheblichem Maße involviert. Die Reichstauschstelle erhält in großem Umfang die entbehrliche Literatur staatlicher Behörden und Dubletten und Geschenke und nach 1933 auch Raubgut aus verschiedenen Institutionen und Privatbibliotheken. Diese minutiöse, sehr ausführliche Studie zeigt sowohl die zunehmende Macht der Staatsbibliothek im gesamtdeutschen Bibliotheksgefüge u.a. durch die „Angliederung der aus dem Reichshaushalt finanzierten gesamtnationalen Bibliotheksförderung“ (S. 303), die Übernahme der Funktionen des Bibliotheksausschusses, „aufgeteilt in Reichstauschstelle, Beschaffungsamt und Deutsch-Ausländischen Buchtausch“ (S. 303) und die Verantwortung der Generaldirektion der Staatsbibliothek als auch die Abläufe bei der Verteilung von Raubgut. Viele Beispiele geben einen sehr guten Einblick in den Umgang mit dem Raubgut im Alltag zahlreicher Bibliotheken. Schließlich führt das Kolloquium Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung die Untersuchungen weiter und gibt u.a. Auskunft über die Wissenschafts-, Verwaltungs- und Mentalgeschichte im Nationalsozialismus und ihre Widerspiegelung in den wissenschaftlichen Bibliotheken, die NS-Generaldirektoren in der Berliner und Münchner Staatsbibliothek und in der Nationalbibliothek Wien, die Diskriminierung und Entrechtung von Bibliothekaren, Lesern und Förderern der Berliner Staatsbibliothek (sehr verdienstvoll, da selten erforscht) sowie die Entwicklung der Sammlungen der Berliner Staatsbibliothek in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung des Schicksals geraubter Büchersammlungen. Diese drei Veröffentlichungen geben umfassende Einblicke in die Geschichte des deutschen Bibliothekswesens im Nationalsozialismus und sind auch für Historiker von großem Interesse.

 

Bernhard Tönnies: Von äthiopischen Handschriften und ausgelagerten Büchern. Die Auslagerung der Frankfurter Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg und die Sammlung Rüppell: der Verlust einiger Handschriften und ihre Wiederauffindung. Frankfurt am Main: Klostermann, 2016. 108 S. (Frankfurter Bibliotheksschriften. Band 18) ISBN 978-3-465-03962-4 € 14.00

Im Juli 1945 versuchen Bibliothekare aus Frankfurt a.M. 60.000 Bücher und Handschriften aus Frankfurter Beständen, die während des Zweiten Weltkriegs in Depots in Thüringen ausgelagert werden, in großer Eile vor der Roten Armee nach Mitwitz in Oberfranken und Umgebung in Sicherheit zu bringen. Nicht alles kommt später in Frankfurt an. Unter den Verlusten befinden sich auch einige von 23 äthiopischen Handschriften, die der Frankfurter Afrikaforscher Eduard Rüppell (1794–1884) zwischen1830 und 1834 auf einer Reise durch Abessinien erwirbt und die später Bestandteil der Rüppellschen Sammlung der Frankfurter Stadtbibliothek werden.

Zwei Handschriften werden 2010 auf einem Dachboden gefunden und der Bibliothek zurückgegeben. Das ist der Rahmen für eine sehr interessante, sehr lesenswerte Erzählung. 2012 lassen sich die genauen Umstände des Verlustes der beiden Handschriften aufklären, im Laufe der Recherchen wird weiteres Quellenmaterial zur Auslagerung der Bestände gefunden. Der Band enthält diese Verlust- und Rettungsgeschichte, unveröffentlichtes dokumentarisches Material und eine Darstellung von Leben und Werk Rüppells. Drei weitere Handschriften sind bis heute verschollen.

Das Bändchen ist nicht nur für Bibliothekshistoriker interessant.

 

Stefan Alker, Bruno Bauer, Markus Stumpf: NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken. Berlin: de Gruyter Saur, 2017. VIII, 133 S. (Praxiswissen) ISBN 978-3-11-031858-6 € 49.95 

Nach zahlreichen Einzelpublikationen und Konferenzund Sammelbänden zum Thema NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken erscheint eine Veröffentlichung für ein breiteres Publikum, in dem alle wesentlichen Aspekte unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse dargestellt werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass dies keine Themen sind, die als Projekte abgeschlossen werden können. Ziel ist es, „in klarer und verständlicher Weise das essentielle Basiswissen für eine Beschäftigung mit dieser Problematik zu vermitteln“ (S. 1) und damit interessierten Laien eine Ergänzung zu diversen Handreichungen und Checklisten zu bieten. Aus diesen und anderen in der Veröffentlichung genannten Gründen erhalten die Interessenten „das notwendige Problembewusstsein und ein einführendes Rüstzeug.“ (S. 2) Das Buch ist logisch gegliedert, gut lesbar, alle Fragen werden beantwortet (z.B. Wozu dient die Provenienzforschung? Welche rechtlichen Regelungen gibt es? Welche Bestände sind zu untersuchen? Woran sind Vorbesitzer zu erkennen? Was ist zu tun, wenn sich herausstellt, dass sich Literatur unrechtmäßig im Bibliotheksbestand befindet?), Redundanz wird vermieden.

Den Abschluss bieten sechs Beispiele zur Provenienzforschung, Literaturhinweise, Orientierungshilfen, eine Dokumentationstabelle, ein Verzeichnis der Abkürzungen, die während der NS-Zeit verwendet werden, und ein Sachregister.

Erstmals liegt ein praxisnaher Überblick zu diesem Thema vor, und dazu noch ein ausgezeichneter. Er ist Pflichtlektüre in allen Bibliotheken und Antiquariaten, die mit der Frage nach der Herkunft von historischen Büchern, Zeitschriften und Zeitungen konfrontiert sind. ˜

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Biblio theksdirektor an der Bergaka de mie Freiberg und von 1989 bis 1990 General direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin.

dieter.schmidmaier@schmidma.com

 

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