Landeskunde

Indien von Mensch zu Mensch

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Martin Kämpchen: Mein Leben in Indien. Zwischen den Kulturen zu Hause. 480 S., 33 s/w-Fotos, Lesebändchen. Ostfildern: Patmos 2022. Hardcover m. SU, ISBN 978-3-8436-1368-2. € 32,00.

Kaum jemand hat so viel zur Verbreitung des deutsch-indischen Verständnisses beigetragen wie der 1948 in Boppard am Rhein geborene, zweifach promovierte Autor, Übersetzer und Journalist, der seine deutsche und indische Leserschaft seit Jahrzehnten mit dem jeweiligen Gegenüber vertraut macht. Die Zahl der von ihm verfassten Bücher, Essays und Artikel über Indien ist Legion, und dennoch ist der rührige Autor alles andere als ein Vielschreiber. Was der überaus fleißige, disziplinierte Mittsiebziger in fünfzig Jahren Indienaufenthalt zu sagen hat, ist im Anmerkungsteil mit Literaturhinweisen nachzulesen: wenig Ephemeres, kaum einmal Wiederholungen oder Textaufnahmen, dafür viele Originalartikel und einige ganz große Übersetzungsprojekte. Alleine die Herausgabe der Reden des bengalischen Heiligen-Philosophen Ramakrishna würde ausreichen, ihm einen Platz im Übersetzerhimmel zu sichern. Nein, was ihn auszeichnet, sind nicht nur die Vielseitigkeit und der Qualitätsanspruch, den er an sich und andere stellt, sondern auch die Hingabe und Ausdauer, mit der er seine Sozialprojekte in dem von ihm geliebten Bengalen, genauer gesagt: Santiniketan bei Kolkata, verfolgt.

Mit leichter Hand führt uns der Autor in seinem Buch – vielleicht seine Summa? – durch die Jugend am Rhein und im dörflichen Westerwald, wo er ein, tief gegründetes Gefallen am ländlichen Leben findet, das ihn sein Leben lang begleiten wird. Dem Schüler und Studenten fällt es auch leicht, sich in der kulturgeladenen europäische Metropole Wien einzuleben; die laute, extrovertierte Lebensart der Amerikaner im Austauschjahr im Mittleren Westen der USA macht ihm allerdings zu schaffen. Nach dem Studium ist es ein bloßer Zufall, der ihn nach Indien führt: seine erste Wahl – Nigeria – muss er wegen des beginnenden Bürgerkriegs aufgeben; man schlägt ihm stattdessen Indien vor warum nicht? Dem abenteuerlustigen jungen Mann, überzeugten Pazifisten und bald auch Vegetarier fällt es nicht schwer, sich in dem ihm völlig fremden Kontinent zurechtzufinden; es vergehen allerdings sechs Jahre, bis er neben Englisch eine erste Landessprache seines Gastlandes lernt, nämlich das im Osten übliche Bengali. Damit öffnet sich dem Weltbürger, der bei seinen Mönchen der Ramakrishna-Mission in Kalkutta nur Englisch sprach, erstmals auch die Welt der kleinen Leute und der Dörfer. Mit seiner zweiten Doktorarbeit, einem Vergleich zwischen dem Heiligen Franziskus und Ramakrishna, macht sich Kämpchen bei den Hindu-Mönchen allerdings nicht nur Freunde: wie konnte man den göttlichen Ramakrishna mit einem zwar heiligen, letztlich aber doch simplen Menschenkind vergleichen – ein Sakrileg!

Stationen bei den christlichen und hinduistischen Ashrams im Süden und Westen des Landes befriedigen den Suchenden nicht: zu ghettoartig leben die Christen und Orden des Landes in ihren Ashrams und Kirchengemeinden, zu stark ist der Druck, den die Kasten- und Hindugesellschaft auf alles Andersartige ausübt – we are all one! Ist es nicht gerade das Individuelle, was ihn, den Europäer, auszeichnet? Ist denn die Entfaltung der Möglichkeiten und Talente jedes Einzelnen kein lohnenswertes Ziel? Die Inklusionslust der Inder, die Zwänge der omnipräsenten Familie, der Druck auf den Einzelnen drohte alles zu verschlingen oder an den Rand zu drängen, was sich abzugrenzen und eigenständig zu entwickeln suchte. In Santiniketan, jener Universität, die der bengalische Schriftsteller und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore in der Nähe von Kalkutta gegründet hatte, um dem britischen Schuldrill eine ganzheitliche Erziehung entgegenzusetzen, fand Kämpchen dann das, was ihm Raum zum Schreiben, Publizieren und Geldverdienen verschaffte. Wie finanziert man ein Leben in einem Land, das kaum adäquate Einkunftsmöglichkeiten bietet? Aus finanziellen Erwägungen blieb unser Autor deutscher Staatsbürger, seine Einnahmen aus Zeitungs-, Rundfunk- und Zeitschriftenartikeln sowie Büchern ermöglichten ihm nicht nur ein Leben ohne materielle Not – seine Universitäts-Dozentengehälter waren nicht der Rede wert –, sondern sogar selbst finanzierte Projekte mit den Einwohnern der benachbarten Stammesdörfer, die ansonsten keinerlei Kontakt zu der universitären und reinlich abgesonderten Mittelklassenwelt der Universität hatten.

Damit beginnt der letzte, vielleicht farbigste Abschnitt des Bandes, durchzogen von Anekdoten und Lebensbildern aus einer fast vierzigjährigen Sozialarbeit in einer der ärmsten Regionen des Landes. Ob es der Rikschafahrer Raju, der Wäscher Bablu, der Sänger Gopal Baul, der Radflicker Bishu oder der Koch Kamal sind – Kämpchen erzählt zu jedem eine Geschichte, die die Schwierigkeiten der Sozialarbeit (manchmal mit tragischen Misserfolgen) keineswegs verschweigt.

Der voluminöse Band ist gut aufgemacht, sinnvoll gegliedert, mit vielen Schwarzweißfotos, einer aussagekräftigen Indienkarte und einem Lesebändchen, das allerdings nicht allzu oft zum Einsatz kam: der Rezensent hat das Buch in zwei Tagen verschlungen. (tk)

 

Morten Hübbe, Rochssare Neromand-Soma: Götter, Gurus und Gewürze. Zwei Jahre per Anhalter durch Indien. Mit 62 farb. Fotos u. 1 Karte. 335 S., Ppb., München: Malik 2022. EAN 978-3-89029-550-3. € 18,00.

Einmal ohne Zeitdruck die Welt zu durchstreifen – wer wünschte sich das nicht ab und zu? Aber Zelt und Rucksack schleppen, als Couchsurfing-Gast bei Fremden übernachten, sich als Tramper von wildfremden Menschen mitnehmen lassen? Hitchhiking und Couchsurfen (eine Art kostenloses Airbnb) sind zwar unschlagbar günstig, aber bei weitem nicht jedermanns (oder -frau‘s) Sache. Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma, zwei Mittzwanziger, brachten es mit Courage, Geduld und Humor fertig, den Reisestrapazen das Beste abzugewinnen und 2011-2014 nicht nur Südamerika zu erkunden, sondern in den beiden Folgejahren auch den asiatischen Subkontinent. Was sie zu erzählen haben, liegt nun in diesem gut aufgemachten, handlichen Büchlein vor. „Götter, Gräber und Gelehrte“ – auf den stabgereimten Bestseller des Jahres 1949 spielt der wenig aussagekräftige Titel „Götter, Gurus und Gewürze“ an. Der Untertitel verrät da schon mehr: „Per Anhalter durch Indien“. In der Tat ist es dem unternehmungslustigen Pärchen aus Deutschland gelungen, sich zweieinhalb Jahre lang mit erhobenem Daumen und Pappschild durch den südasiatischen Kontinent zu bewegen.

Trampen in Indien? „Das ist ganz unmöglich“, hält ein aufgeregter Inder den beiden Reisenden, fast schon am Ende ihrer Reise, entgegen. Woher er das wisse? „Ich bin Inder, und das ist mein Land!“ Ob er denn schon einmal getrampt sei? „Nein, noch nie in meinem ganzen Leben!“ Es sind Szenen wie diese, die immer wieder die Städteund Landschaftsbeschreibungen, die historischen und landeskundlichen Hinweise beleben und die Lektüre zu einer ebenso interessanten wie unterhaltsamen Angelegenheit machen. Morten und Rochssare wissen gut zu schreiben – kein Wunder, haben beide doch Literatur- und Medienwissenschaft studiert. Die Gliederung in zahlreiche Kapitel, die den Reisefortschritt dokumentieren und der Wechsel zwischen den beiden Autoren erregen immer wieder die Neugier. Kleine Übersichtskarten am Kapitelanfang und eine schöne Fotoauswahl in der Bandmitte illustrieren den Reiseverlauf, eingekastelte Textblöcke am Ende der Abschnitte verweisen auf indische Kuriosa und allerhand Wissenswertes.

„Reisen ist keine Einbahnstraße“ – das ist eine Erfahrung, die unser Autorenteam ständig macht. Indien reizt mit seinem Verkehrschaos, seinen Farben, Gerüchen und Geräuschen alle Sinne, was bei manchem zu einer Hassliebe führt: „entweder man verliebt sich in das Land oder man nimmt Reißaus“. Nun, Morten und Rochssare haben nicht Reißaus genommen, sondern haben Indien zwei Jahre lang in seiner ganzen Ausdehnung bereist – also muss es Liebe gewesen sein. Ihr Fazit: „Indien ist ein Gegenentwurf“, aber auch: „nach unten wird getreten, nach oben wird gebuckelt“. Bei aller Kritik wird ihnen jedoch auch klar: „Indiens Ellenbogengesellschaft wird vom Herzen bestimmt.“ Spontane Hilfsbereitschaft macht vieles möglich, was bei uns kaum denkbar wäre.

Wo viel Licht, da viel Schatten. Ob im äußersten Nordwesten, in Delhi, Ahmedabad, Mumbai, Kanyakumari an der Südspitze, in Pondicherry, Kolkata oder bei den „Seven Sisters“ – den sieben Himalayastaaten im äußersten Osten –: Ruchssare und Morten wissen dem Land und seinen Menschen in 270 Mitfahrgelegenheiten und 20.000 Kilometern Strecke viel Positives abzugewinnen; nur die Vielfalt erschlägt sie bisweilen. Immer aufgeschlossen, neugierig und vor allem geduldig, mit guter Laune und guten Nerven ausgestattet, gehen unsere beiden Abenteurer keiner Begegnung aus dem Weg, mag sie auch bisweilen überraschend oder herausfordernd sein.

Obwohl mit den Landessprachen nicht vertraut, schaffen es die beiden auch mit Englischkenntnissen, mit den kleinen Leuten, Bauern, Angestellten, Gaunern wie seriösen Geschäftsleuten in Kontakt zu kommen und ein komplexes, farbiges Bild des Kontinents mit vielen charakteristischen Szenen und Begegnungen zu zeichnen. Vor deutlichen Worten schrecken sie nicht zurück, so etwa, wenn es um Frauen in der Öffentlichkeit geht, um sanitäre Zustände oder um die in den einstigen Hippiehochburgen gestrandeten Europäer. Ihr Trip in den äußersten Osten, nach Arunachal Pradesh, gehört sicher zu den Raritäten der Reiseliteratur – das abgeschlossene Bergland an der Grenze zu China mit seinen mehr als hundert Völkerschaften ist für Ausländer kaum zugänglich; das Büchlein öffnet einen Spaltbreit die Türe zu dieser abgelegenen Gegend. Allerdings: selbst wer so viel Zeit hat wie unsere beiden Autoren, unternimmt – was Indien betrifft – den Versuch, ein Meer mit dem Sieb auszuschöpfen: so bleibt die gesamte Mitte des Landes unbesucht; die Jainaheiligtümer von Shravanabelgola, der Mount Abu, die Buddha-Stätten von Sanchi, Sarnath, Nalanda und Lumbini, die Muslimsultanate im Innern – Bidar, Bijapur, Gulbarga – oder die Hindu-Festungen von Gwalior oder Satara liegen eben nicht am Weg… Tramperschicksal.

Alles in allem ein schönes, informatives und flüssig geschriebenes Buch – das ideale Geschenk für Reiselustige! (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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