Landeskunde

Indien verstehen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

Die 1000 Namen Vishnus. Sanskrit-Handschriften aus der Sammlung Heide und Wolfgang Voelter. Hgb. v. Heike Oberlin u. Frank Köhler. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Alte Kulturen des Museums der Universität Tübingen MUT auf Schloss Hohentübingen 2020. 120 S., Bildbandformat, zahlr. farb. u. s/w-Abb. Tübingen 2020. Geb. mit Leinenprägedruck, ISBN 978-3982133966, € 20,00.

Islamabad, die Hauptstadt Pakistans, Mitte der 1970er Jahre. Der Tübinger Chemieprofessor Wolfgang Voelter und seine Frau, Redakteurin einer renommierten Wissenschaftszeitschrift, besuchen auf Einladung des pakistanischen Wissenschaftsministers den Basar der Stadt und kramen in einem Antiquariat „einen mehrfach gebrochenen, in roter Leinwand gefassten, äußerlich unscheinbaren dicken Buchblock aus einem Regal hervor. Kaum aufgeschlagen, fesselte sie augenblicklich die Ästhetik und Farbigkeit der enthaltenen Handschriften und Miniaturmalereien. Als sie dieses Fundstück … kaufen wollten, schritt Minister Afzal mit den Worten ‚this is a gift for what you have done for Pakistan‘ ein.“ Damit beginnt die Wiederentdeckung des Bandes, der, als Dankesgeste für die Einrichtung eines funktionsfähigen Chemielabors in Pakistan gedacht, nun wiederum als Schenkung der Voelters seinen Weg ins Universitätsmuseum Tübingen fand. Was aber war der Inhalt dieses in Stoff gehüllten, querformatigen Schrift- und Bildbandes? Der Indologe Heinrich von Stietencron (1933–2018), Lehrstuhlinhaber vor Ort, hatte zwar schon kurz nach dem Erwerb durch die Voelters den Inhalt – Sanskrittexte in Devanagari-Schrift – übersetzt und in groben Umrissen als Andachtsliteratur charakterisiert, aber erst heute – nahezu ein halbes Jahrhundert nach dem Erwerb – wird das Manuskript erstmals in seiner Gesamtheit analysiert.

Der großformatige, gut aufgemachte, dank des Mäzenatentums der beiden Stifter durchaus preiswerte Bild- und Textband mit seinem schönen Umschlag in Leinenprägedruck präsentiert das „kleine Gesamtkunstwerk“, das seinerseits aus mehreren Teilen besteht, aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Entstehung bzw. Datierung auf das Jahr 1811, also noch zur Zeit der Moguln und vor dem British Raj, geht aus dem Band selbst hervor; bei den wunderbar gemalten bzw. geschriebenen Andachtstexten in dekorativer Devanagari-Schrift, den sog. Stotras (Lobpreisungen), verfasst im „Latein“ der Hindus, in Sanskrit, handelt es sich um Andachtsformeln, die in metrischer Form verschiedene Gottheiten des Hindu-Pantheons wie Krishna, Vishnu, Shiva oder Rama preisen. Üblicherweise am Ende einer Puja, der rituellen Verehrung eines Götterbildes, rezitiert, zählen sie die Eigenschaften oder Namen des göttlichen Wesens auf, dem die Gebete gelten. Solche Sammlungen sind auch aus dem Umkreis der Sikh- und Jainreligion durchaus bekannt und dienen der privaten Andacht. Überaus hilfreich ist das nach den Vorlesungsskripten von Prof. Stietencron erstellte Kapitel über „Die indische Götterwelt – Kooperation und Rivalität“, das die Komplexität des Hindu-Pantheons religionsgeschichtlich zusammenfasst und auch für Nicht-Indologen verständlich macht. Die über den Text verteilten dreizehn Bilder mit ihren kraftvollen rot-blau-orangen Farben und geometrischen oder floralen Umrandungen und Einrahmungen – ­detailliert und auch in einer Übersicht abgebildet – verraten trotz des hinduistischen Inhalts den Einfluss des persisch-islamischen Kulturraums; alle Indizien, die Camillo A. Formigatti, der Sanskritkurator der Bodleian Library in Oxford, zur Analyse eigens für diesen Band zusammentrug, deuten auf die Herkunft des Schreibers aus Kaschmir sowie einen Entstehungsort irgendwo in Nordindien. Ob aber Text und Bilder vom gleichen Künstler stammen, wie im Artikel suggeriert? Der Rezensent denkt eher an eine Werkstatt mit entsprechender Arbeitsteilung.

Ein Abschnitt über die nötige Restaurierung – hier trat die Universität als Finanzier auf – schließt den Band ab. Aus dem bescheidenen Forschungslabor der Voelters und ihres damaligen Counterparts, des in Frankfurt studierten, mit einer Deutschen verheirateten und in der deutschen Literatur heimischen Chemikers, Prof. Salimuzzaman Siddiqui (1897–1994), ist seither das angesehene „Postgraduate Inst. for Chemistry“ (ICCS) geworden, und mit ihren bisherigen Schenkungen und der überaus gelungenen Edition des Manuskripts in der vorliegenden Form dürften die Voelters wohl auf ein gelungenes Lebenswerk zurückblicken. Man dankt es den beiden Mäzenen, erschließen sich doch mit jeder Seite ihres Handschriftenbandes neue ästhetische und kulturhistorische Einblicke, für die man sich allerdings ruhig etwas Zeit nehmen sollte. P. S. Wer sich das Buchcover näher anschaut, kann oberhalb des auf seinem Lotus thronenden Krishna die Porträts des indischen Auftraggeber-Ehepaars entdecken – beide in der Blüte ihrer Jahre; er mit feschem Rajputen-Schnurrbart, sie mit kecker Schläfenlocke (und unverschleiert). (tk)

 

Mike Häuslmeier: Der Raya. Ein historischer Roman. 344 S., geb., Innsbruck: Studia 2020 (Ein Kampf um Indien, Bd.1), ISBN 9783903030725, € 19,50.

Warum nicht einmal einen historischen Roman besprechen, wenn er gut recherchiert ist und sich packend liest? Vor allem, wenn es darin um das hierzulande kaum bekannte Hindureich von Vijayanagara geht, das bis in die zweite Hälfte des 16. Jhs. einen Großteil des indischen Südens beherrschte, um dann, nach einer einzigen verlorenen Schlacht, der von Talikot im Jahr 1565, im Nichts zu versinken. Die Ruinen der Geisterstadt bedecken noch heute eine Fläche von der Ausdehnung Roms, und der Sieg der verbündeten muslimischen Sultanate über das mächtige Hindukönigreich sowie die Diskussion über Ursachen und Auswirkungen dieser Niederlage beschäftigen Historiker und Öffentlichkeit bis heute. Vom Titelbild mit den landestypischen dagger-Dolchen, der devadasi-Tempeltänzerin und dem arti-Tempellicht darf man sich nicht täuschen lassen. Es weckt zwar all die Erwartungen an Spannung, Exotik, Erotik, Magie, Abenteuer und tausenderlei Verwicklungen, die man von Trivialromanen über Indien kennt, doch schon beim ersten Hineinlesen stellt man fest, dass der Autor – er ist mit einer Südinderin verheiratet –, nicht nur mit Erzähltalent begabt, sondern auch ausgezeichnet über Südindien informiert ist. Begriffe und Bezeichnungen werden in der Landessprache genannt und erklärt, zudem stammen Personal und Substanz des Buchs aus soliden Quellen, nämlich den in Briefform überlieferten Berichten zweier portugiesischer Offiziere und Pferdehändler, die Vijayanagara in der ersten Hälfte des 16. Jhs. in offiziellem Auftrag bereisten, dabei europäische Waffen und Pferde lieferten und ein Bündnis der jungen portugiesischen Kolonie Goa mit dem mächtigen Inlandskönigreich knüpften. Auch die Schilderungen des Tiroler Kaufmanns Baltasar Sprenger, der im Auftrag der Welser in Südindien war, sind in die Handlung eingeflossen. Vijayanagar im Jahr 1520. Nach einer atemberaubenden Eingangsszene (die in den Quellen belegt ist) lässt man sich von einem gekonnten Handlungs- und Spannungsaufbau, dem vielfältigen landschaftlichen Szenario und den griffigen Dialogen gerne gefangennehmen. Die Gliederung in kürzere Abschnitte, Informationen über Sitten und Gebräuche und eine abwechslungsreiche Szenenfolge ziehen den Leser (und natürlich auch die Leserin) unmerklich in ihren Bann. Die europäischen Reisenden und Soldaten, die Hofgesellschaft, die Frauen am Hof wie der einfachen Leute, die Führungsschicht mit Offizieren, Ministern und Höflingen, vor allem aber der auch in den Quellen ausführlich charakterisierte Fürst Krishna Raya, Händler und Soldaten sowie die benachbarten, jedoch feindlichen Höfe der Muslime von Bijapur und Golkonda gewinnen Konturen; Intrigen unter den Portugiesen selbst, die keineswegs geschlossen und umsichtig agieren (auch das ist gut belegt), sorgen bis zuletzt für Spannung. Schilderungen des Alltags-, Fest- und Hoflebens in der Millionenstadt am Tungabhadra wechseln ab mit militärischen Bravourstücken, etwa als zwanzig europäische Scharfschützen die als uneinnehmbar geltende Festung Raichur sturmreif schießen, indem sie die Wachen durch gezieltes Feuer von den Stadtmauern vertreiben und damit erst deren Einreißen ermöglichen; das nach Hunderttausenden zählende Heer des Raja samt Artillerie hatte nach wochenlanger Belagerung die Stadt nicht bezwingen können; auch das zählt zu den kaum glaublichen, aber von vertrauenswürdigen Zeugen bestätigten Tatsachen, denen der Roman seine Authentizität verdankt. Der Ausgang des an Liebes- und anderen Abenteuern nicht armen Bandes sei hier nicht verraten, aber wie bei jedem guten Sanskritdrama darf man auch hier mit einem happy ending rechnen. Wie es aber wohl mit der auf drei Bände angelegten Reihe weitergeht, die ja bekanntlich mit dem Untergang des Hindukönigreichs nach der verhängnisvollen Schlacht von Talikot endet? Der Untertitel „Ein Kampf um Indien“ scheint es anzudeuten; in Felix Dahns Historienroman „Ein Kampf um Rom“ (1876), der offenbar Häuslmeiers titelgebendes Vorbild war, enden die Kämpfe zwischen Römern und eindringenden Goten mit einer Katastrophe – für beide Parteien. Ob die Geschichte von Aufstieg und Fall Vijayanagaras, die heute oft – fatal vereinfachend – als epochemachende Schlappe der Hindus gegenüber den muslimischen Aggressoren gedeutet wird, auch so interpretiert werden wird? Die Quellen sprechen eine andere Sprache; das Hindureich wurde Opfer seines eigenen Erfolges, wurde allzu mächtig und erzwang – wie im Fall Napoleons – Koalitionen zwischen den (muslimischen) Todfeinden; der Zwist innerhalb der Hindu-Dynastie selbst verurteilte jedes Bemühen um politische Stabilität zum Scheitern und letztlich zog der Fall des Reichs auch den Untergang der siegreichen muslimischen Sultanate selbst nach sich, von denen nach dem Dominoprinzip eines nach dem anderen der neu entstandenen Macht der Mogul-Türken von Delhi zum Opfer fielen. Eine Übersichtskarte im Anhang, ein Verzeichnis der handelnden Personen, ein Stammbaum der Hindu-Herrscher von Vijayanagara und Literaturangaben komplettieren diese Lektüre, die mehr als nur spannendes Lesefutter darstellt und gewissermaßen zu einem landeskundlichen Lese­genuss wird. ˜

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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