Landeskunde

Indien ist immer für Überraschungen gut

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 3/2017

Als Ministerpräsident Modi im Mai diesen Jahres Deutschland besuchte, sorgte das für relativ wenig Aufsehen: die Themen waren überschaubar und bald abgehakt, Konfliktpunkte gab es wenige, und das Land zwischen Indus und Brahmaputra fühlt sich sowieso – Terrorismus hin oder her – von den großen internationalen Angelegenheiten nicht sonderlich beeindruckt. Also: business as usual.

Wenn man den Subkontinent bereist, hat man ohnehin den Eindruck, dass die Leute „gut drauf“ sind. Vom selbstbewussten „India Shining“ der vergangenen Jahre ist zwar nicht mehr ganz so laut die Rede, und dass das Land regelmäßig hinter den Erwartungen seiner Beobachter zurückbleibt, gehört schon zur Normalität und ist sozusagen bereits eingepreist. Gerade das aber – die Berechenbarkeit – ist in der politischen Welt von heute eine Rarität, und so bietet das Land momentan das wohltuende Bild demokratischer Normalität.

Ob man den Subkontinent mit dem Rollstuhl erkundet (Beutler), den Tag verflucht, an dem man dort eingetroffen ist (Glaubacker), mit den Maharadschas kochen will (Prasada), buddhistischen Spuren folgt (Grewenig/Rist) oder das gespaltene Verhältnis der Inder zu ihren früheren Kolonialherren untersucht (Wagner) – stets zeigen sich neue Facetten dieses reichen Kulturlandes: Indien ist immer für Überraschungen gut.

Walter Beutler: Mit dem Rollstuhl ans Ende der Welt. Meine Reise durch Indien. Basel: Verlag Johannes Petri 2016. 155 Seiten, 21 farb. Abb., 2 handgezeichnete, farbige Karten im Vorsatz, Hardcover, ISBN 978-303784-105-1. € 25,00

Warum gefällt das Büchlein eigentlich schon beim ersten Hinschauen und Anfassen? Nicht nur, weil es ein angenehmes, handliches Format hat und einem schon beim Aufschlagen die beiden liebevoll mit der Hand gezeichneten, übersichtlichen Farbkarten des Subkontinents ins Auge fallen, auch Papierund Druckqualität sind tadellos – überall zeigt sich die Hand eines erfahrenen Herstellers und sorgfältiger Produktion. In der Tat stammt der kleine Indienreiseführer aus dem ältesten noch bestehenden Verlagshaus der Welt, dem Johannes Petri Verlag in Basel, gegründet fast noch zu Zeiten Gutenbergs, im Jahre 1488. Hier erschien schon die erste Augustinus-Gesamtausgabe, Luthers berühmtes September-Testament (auf Hochdeutsch), Sebastian Münsters Cosmographia und Bachofens Mutterrecht, aber auch so triviale Dinge wie das Kantonsblatt (Nr.1 von 1798 noch mit dem Vorwort Napoleons). Dass der Verlag darüber hinaus noch ärztliche Fachzeitschriften herausgibt und einen Schwerpunkt auf der Medizin hat, stellt die Brücke her zum Thema „Behinderung“, das für den Autor eine so entscheidende Rolle spielt.

Walter Beutler, Jahrgang 1956, war als Folge seiner Kinderlähmung schon von früh auf den Rollstuhl angewiesen, sein Lebensradius auf die engere Umgebung beschränkt. Nach Indien reisen? Ein Traum, der unerreichbar schien, bis ihm vor zwanzig Jahren eine transportable Zugmaschine für Rollstühle, der Swiss-Trac, eine völlig neue Perspektiven eröffnete. Mit Hilfe des kleinen, aber robusten akkubetriebenen Vorspanngerätes aus Schweizer Produktion war es nun möglich, die entlegensten Weltgegenden zu bereisen: das urige Maschinchen mit der großen Traktion zieht über Stock und Stein, Wurzeln und Kies, sogar durch Schnee, bergauf-bergab und eröffnet durch diese Mobilität eine ganz neue Lebensqualität. Beutlers Reisetagebuch ist alles andere als eine verkappte Produktwerbung und mehr als eine Special-Interest-Story für Leute mit Handicap; sie ist die Reise eines Nachdenklichen in ein Land, in dem alle bisherigen Gewissheiten auf den Prüfstand kommen. Der Autor durchreist, teilweise begleitet von einem Schweizer Cicerone und Helfer, den Subkontinent in drei Monaten von Süd nach Nord, per Bahn, mit dem Auto und mit dem Flugzeug. Dabei sind es nicht nur die praktischen Hinweise für Behinderte, die seine Notizen so wertvoll machen; Walter Beutler reist in der Nachfolge Seumes und Pessoas (aus dessen Buch der Unruhe er oft zitiert), seine Reflexionen über Indisch-Allzu-Indisches von Chennai über Auroville und Kochin, Delhi, Varanasi und Rishikesh sind gut beobachtet und voller Empathie, seine Anmerkungen treffend und unaufdringlich – kurzum: sympathisch zurückhaltend und schweizerisch diskret. Die Begegnungen mit Elend, Tod und dem Abstoßenden unterwegs werden ungeschminkt geschildert, und doch beschränkt sich Beutlers Kulturkritik nicht auf Indien – immerhin war sein erster Kulturschock die Übernachtung in der seelenlosen Wohnmaschine des postmodernen Hotels am Frankfurter Flughafen.

Indien stellt an Behinderte immer noch besondere Herausforderungen; es ist vor allem der Autonomieverlust, das ständige Angewiesensein auf die Hilfe anderer, was in einem Land, wo accessability, „behindertengerechte Zugänglichkeit“ noch großteils unbekannt ist, auch für hartgesottene Reisende bisweilen kaum erträglich ist; hinzu kommt die ungewollte Aufmerksamkeit durch den futuristischen Swiss-Trac. Es wäre übertrieben, wollte man behaupten, der tiefgründige, aber auch wuselige, oft schmutzige und chaotische Subkontinent habe dem Autor besonders gut gefallen – immerhin war er schon zum dritten Mal dort –, aber das Buch will Mut machen, nicht entmutigen. Beutlers Resümee lautet denn auch echt schweizerisch-vorsichtig: „Ich hüte mich, davon abzuraten.“

Das Bändchen ist in jeder Hinsicht ein kleines Juwel. Es sei jedem empfohlen, der einen unbefangenen Blick über die deutsche Alltagsbefindlichkeit hinaus in ein anderes Land tun will, in eine andere Lebenssituation und – ja, eine andere Art, sich auszudrücken. Es tut gut! (tk)

 

 

Andrea Glaubacker: Was Sie dachten, NIEMALS über INDIEN wissen zu wollen! 55 verblüffende Einblicke in ein wunderliches Land. Meerbusch: conbook Verlag 2016. 245 S., Taschenbuch. ISBN 978-3-95889-136-4. € 9,95

Der Titel des ebenso provozierenden wie informativen Büchleins der erfahrenen Indienreisenden Andrea Glaubacker verdankt seine Entstehung einem Aufschrei ihres Bruders, dem sie von unterwegs eine Postkarte mit einem meditierenden shivaitischen Sadhu schickte und der ausrief: „Niemals Indien!“ Es fällt schwer, das Bändchen nicht in die Kategorie „Indienhasserbücher“ einzuordnen. Die Autorin leidet ehrlich und spürbar unter dem Subkontinent und seinen nur zu offensichtlichen Gebrechen und Widersprüchen. Dass sie Indien als schmutzig, chaotisch, unorganisiert, irrational und mit seinem Elend als fremdartig, ja abstoßend präsentiert, könnte man als das übliche Touristengeschwätz abtun, wäre die Autorin nicht eine so ausgefuchste Indienfahrerin, deren Erfahrung man nicht unterschätzen sollte. Ihre eindrücklichen und mit Fakten hinterlegten Beschreibungen von Korruption, Kinderarbeit, Ausgrenzung von Outcasts, Adivasis und Minderheiten, die massenhaften Selbstmorde von Bauern, das Bettlerwesen oder Behördenschlendrian gehen unter die Haut. Selbst der Ernennung des Ruinenfelds von Hampi zum Weltkulturerbe kann die Verfasserin noch etwas Negatives abgewinnen. Keine Frage: die Autorin spricht Tacheles und geht mit dem Land – oft zu Recht – hart ins Gericht.

Die 55 knappen, flott geschriebenen Kapitel wären eine einzige Abfuhr an das ganze schöne Land, gäbe es nicht am Ende jeden Abschnitts die nützlichen, grau hinterlegten Kästchen mit beherzigenswerten Praxistipps und in der Regel stark relativierenden Wertungen und Fakten, oft eingeleitet mit einem „Aber“ oder „Übrigens“, die die geschilderte Misere für den Leser erst erträglich machen, weil sie das düstere Bild etwas aufhellen.

Nein, das ist wirklich kein romantisches Indienbuch: so wie ein Hammer überall nur Nägel sieht, so spürt die Verfasserin überall im Land die Defizite auf. Gerade darum sei es aber all jenen zur Lektüre empfohlen, die es sich in einem allzu verklärten Indienbild bequem gemacht haben. Die knochentrockene, mit Selbstironie gewürzte und von Reiseerfahrung gesättigte Schilderung ist ein wirksames Gegenmittel gegen jede Art von Indienschwärmerei, die Nebenwirkungen sind allerdings nicht ohne: in Einzelfällen führt es zu Einengungen des Gesichtsfeldes, und es verstärkt bereits vorhandene Symptome von ST (Superbia Teutonica), im Ausland früher auch unter der Bezeichnung GD, German Disease, bekannt. Also: wem es wichtig ist, dass die Züge pünktlich gehen, wer auf Reinlichkeit, Zuverlässigkeit und Diskretion Wert legt und den Reiz der kleinen, vollkommenen Form schätzt, der reise besser nach Japan – das ist auch ein schönes Land. (tk)

 

 

Karolin Klüppel: Kingdom of Girls. Texte von Nadine Barth, Andrea Jeska, Karolin Klüppel. Berlin: Hatje Cantz 2016. Hardcover, Leinen, 92 Seiten, 38 farb. Abb., Texte deutsch-englisch. ISBN 978-3-7757-4206-1. € 34,00

Ganz oben rechts auf der Landkarte Indiens, im äußersten Nordosten, liegen – eingebettet in tibetisch-chinesisches, myanmarisches und bangladeschisches Territorium – die so genannten Seven Sisters, die sieben Nachfolgestaaten der ehemaligen Provinz Assam des British Empire. Arunachal Pradesh, Tripura, Nagaland, Mizoram, Manipur, das eigentliche Assam und schließlich Meghalaya, um das es hier geht, bilden die nordöstliche Vorhut des Landes gegen allerhand Begehrlichkeiten der Nachbarn, die sich auch schon einmal in Grenzkriegen entluden. Auch die zahlreichen Stämme und Völkerschaften des Nordostens machten der Zentralregierung in Delhi lange Zeit das Leben schwer – bis vor kurzem kam man in viele Gebiete nur mit speziellen Permits. Inzwischen ist es ruhiger geworden in der Region. Hier, in Meghalaya, dem Land der sturzbachartigen Regenfälle, die dem Bundesstaat seinen Namen („Wolkenland“) gegeben und ihm den Platz Nr.1 auf der Niederschlagsskala weltweit eingebracht haben, hielt sich die Fotografin und Ethnologin Karolin Klüppel mehrere Monate lang auf, um die Ethnie der Khasi näher kennenzulernen, die, wie etliche Völkerschaften am Himalayarand, durch ihr matrilineares Gesellschaftssystem bekannt sind.

Der Schweizer Anthropologe Bachofen, durch dessen Buch „Das Mutterrecht“ (1861) diese besondere soziale Organisationsform bekannt wurde, ging noch von einer „Gynaikokratie“ aus, einer Herrschaft der Frauen. Die heute noch zu beobachtenden matrilinearen Gesellschaften – davon gibt es alleine in Indien eine ganze Reihe, nicht nur im Nordosten, sondern auch in den Kernländern, zum Beispiel in Kerala – legen aber den Schluss nahe, dass das sog. Matriarchat keine bloße Umkehrung des Patriarchats ist, sondern eine vor allem familien-, erb- und besitzrechtlich definierte Vorzugsstellung der Frau, bei der die Männer die zweite Rolle spielen, während die Frauen zwar mehr Gestaltungsspielraum besitzen, aber wesentlich mehr Verantwortung übernehmen müssen. Männer sind in erster Linie als Brüder der Mutter definiert, auch wenn die Dorf- und Lokalpolitik nach wie vor fest in Männerhand liegt.

Matrilinearität ist ein Trendthema, Ausstellungen mit den Fotos von Karolin Klüppel haben schon in Galerien und Ateliers auf der ganzen Welt Aufsehen erregt. Was zeichnet die Bilder aus den Bergen Nordostindiens aber aus? Khasi-Mädchen im Kindesalter oder noch vor Erreichen der Pubertät zeigen sich – durch die Fotografin teils in kunstvollen Posen arrangiert, teils unbeobachtet, in zufälliger oder in selbst gewählter Umgebung oder Verkleidung – in der sehr realen und doch durch die Fantasie belebten subtropischen Welt Meghalayas, ehe sie in die Verantwortung als junge Frau, Mutter, Clan- und Ortschefin hineinwachsen. Es fällt schwer, sich dem Reiz der ungewöhnlichen Fotografien zu entziehen.

Andrea Jeska verschweigt in ihrem Nachwort nicht die Probleme, mit denen sich die heutige Khasi-Generation konfrontiert sieht. Gewiss, Vermögen und Erbe gehen über die Frauen auf die nächste Generation über, aber das tägliche Einkommen, sprich: Bargeld, verdienen zunehmend die Männer durch Lohnarbeit und Aufenthalt außerhalb des Dorf- oder Gemeindegebietes. Dadurch und durch den Druck der umgebenden, patriarchalischen Gesellschaften gerät das Machtgefüge zunehmend in Bewegung; auch droht auf beiden Seiten die Akzeptanz zu schwinden: während die Khasi-Männer auf rechtlicher Gleichstellung bestehen, scheuen manche Frauen inzwischen die Verantwortung, die schon auf den ganz jungen Mädchen lastet – schließlich obliegt alleine den jüngsten Töchtern im Alter die Versorgung der Eltern – bei der heutigen Langlebigkeit eine immer schwerere Bürde. Dass sich aus „einer Gesellschaftsform, in der Männer und Frauen nicht gleichberechtigt sind, für beide Seiten Nachteile ergeben“, so Andrea Jeska im Nachwort, klingt wie ein akzeptabler Kompromiss.

Reisetipp zum Schluss: Das in dem Bildband vorgestellte Khasi-Dorf Mawlynnong bei Cherrapunji unweit Shillong gilt als „sauberstes Dorf Indiens“; im Mai diesen Jahres erhob es Premierminister Modi gar zum „saubersten Dorf Asiens“. Seine kunstvollen Wurzelwerk-Brücken sind eine touristische Attraktion ersten Ranges – come and see. (tk)

 

 

 

Meinrad Maria Grewenig, Eberhard Rist (Hgb.): Buddha. Sammler öffnen ihre Schatzkammern. 232 Meisterwerke buddhistischer Kunst aus 2000 Jahren. Köln: Wienand 2016. 528 S., vierfarbig, mit farb. Abb., gebunden. ISBN 978-3-86832-340-5. € 39,80 (auch in englischer Sprache erhältlich)

Es gibt Bücher, deren schieres Format sie zu einem Nischendasein zu verdammen scheint. Das war so bei Arno Schmidts Riesenwerk „Zettels Traum“, aber auch schon bei Samuel Johnsons englischem Wörterbuch, das eine adelige Dame wutentbrannt aus dem Fenster ihrer Kutsche warf, weil sie es aufgrund seiner Größe nur für Walfänger geeignet hielt. Bücher dürfen eben ein gewisses Gewicht oder Volumen nicht überschreiten – dem Leser graut sonst davor. Dass dem Prachtband in unserem Fall der Ruf eines Standard- und Nachschlagewerks vorauseilt, wirkt obendrein nicht weniger furchteinflößend als die „bestürzende Fülle“ (Süddeutsche Zeitung), die von den mehr als zweihundert Exponaten ausgeht, die hier erstmals öffentlich gezeigt werden.

Tatsächlich geizt der Klappentext nicht mit Superlativen: die bedeutendsten Sammler rund um den Globus hätten ihre Schatzkammern geöffnet, hochkarätige Meisterwerke aus der buddhistischen Welt Süd-, Südost- und Ostasiens sowie der Himalaya-Region seien erstmals in einem opulenten Bildband versammelt. Von einem einzigartigen Überblick über die buddhistische Kunst Asiens vom 1. Jh. vor Christus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist die Rede, von hoch entwickelten, kosmopolitischen asiatischen Reichen, die mittels des Buddhismus länderübergreifende künstlerische Beziehung unterhielten. Ein hehrer Anspruch – aber wird er auch erfüllt? Der Wienand-Verlag Köln hat im Stemmen solche großer Themen Routine: sein ebenso umfangreiches wie anspruchsvolles Programm zu Kunst, Kulturgeschichte, Design, Architektur, Fotografie und Theater passt gut zur Verlagsstadt Köln, die seit Jahrhunderten ihren Sammlern und Mäzenen mehrere international renommierte Museen verdankt. Große Auktionshäuser mit Schwerpunkt Asien haben ihren Sitz in der Domstadt, und der Lifestyle der Stadt und seine Verbindung zu Kunst und Kultur schlägt sich nieder in der Köln-Zeitschrift „Lebens-Art“, die ebenfalls bei Wienand erscheint. Auch das Thema „Buddhismus“ ist für den Verlag kein Neuland: vorausgegangen war der Ausstellungskatalog „Buddha“ zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt sowie der Fotoband „Buddhismus“ des Starfotografen Steve McCurry. Man konnte also auf eine gewisse Erfahrung zurückblicken, als man an die Konzeption dieses ambitionierten Bandes heranging. In Zusammenarbeit mit einer Ausstellung in der ehemaligen Völklinger Hütte, heute Weltkulturerbe, entstand so das oben beschriebene Sammelwerk, das in der Tat je nach persönlicher Einstellung Bewunderung, Erstaunen oder mildes Entsetzen auslöst. Soll man sich Exponaten dieser Art mit theologischen, kulturgeschichtlichen oder monetären Kriterien (Sammlerwert!) nähern? Ist der Kunstmarkt wichtiger oder der religiöse Kontext, zählt das Metaphysisch-Spirituelle mehr als das Künstlerische oder ist letztlich nur die Werterhaltung und -steigerung das alles Entscheidende? Handelt es sich bei den Exponaten um schlichten religiösen Nippes, um Devotionalien, also um liebenswerten Kleinkram, oder um die Abfallprodukte eines entfesselten Kunstmarktes, die der Ikonoklast in uns am liebsten auf dem Müllplatz der Kunstgeschichte entsorgen möchte? Repräsentieren die akribisch beschriebenen und wissenschaftlich vorbildlich erschlossenen Kleinplastiken aus den verschiedensten Materialien und Zeiten wirklich das Wesen des Buddhismus? Lenken sie nicht von der Botschaft ab, die der historische Buddha hinterließ? Die Herkunft der Exponate bleibt ebenso im Unklaren wie die Art des Erwerbs – wie oft bei solchen Antiquitäten. Fragen über Fragen, die sich bei einem Band dieses Zuschnitts fast von alleine stellen.

Regional übersichtlich gegliedert, für jedes Objekt jeweils eine Text- und eine Bildseite, präsentiert sich das großvolumige Werk bei näherem Hinsehen als erstaunlich zugänglich und handlich. Bleiben die Highlights: ein solcher Sammelband und eine solch umfassende Ausstellung über buddhistische Kunst suchen in den letzten anderthalb Jahrzehnten weltweit ihresgleichen. Der Ausstrahlung der Objekte – darunter solche Raritäten wie die bärtigen Buddhas aus der Zeit der chinesischen Yuan-Dynastie (12. Jh.) oder ein Eisenschwert aus Kambodscha, von dem es weltweit nur zwei vergleichbare Exemplare gibt – kann man sich schwerlich entziehen; die Bedeutung der maritimen und Land-Handelswege erschließt sich beim Durchblättern fast von selbst, und abwechslungsreich und alles andere als eintönig führt der Band durch die Zeiten und Räume. Es handelt sich in der Tat um erstklassige Exponate, die die dahinter stehende geistige und moralische Welt im wahrsten Sinn des Wortes „verkörpern“. Dass Sanskrit-, wenn schon keine Pali-Kenntnisse, an solchem Ort von großen Nutzen sind, wird nur ein Ignorant bestreiten – doch wer kann schon mit solchen Fähigkeiten aufwarten? Wer das Latein der Buddhisten nicht versteht, dem erschließt ein nützlicher Anhang mit Fachbegriffen, mythischen Gestalten, historischen Persönlichkeiten und Literaturhinweisen die Welt der buddhistischen Kunst.

Wer irgend kann, sollte der zugehörigen Ausstellung in der Völklinger Hütte einen Besuch abstatten. Der Genuss ist zwar einigermaßen beeinträchtigt durch den Ölgeruch in der ehemaligen Industrieanlage, doch nur hier sind die Kunstwerke in ihrer ganzen Vielfalt und beeindruckenden Detailausführung zu bewundern. Freilich – die Darstellungen des Buddha setzen erst im 1. Jh. v.Chr. ein, und wer die frühe, bildlose Verehrung des Meisters kennenlernen will, der reise nach Sanchi bei Bhopal – hier lebt der Buddha ohne das Bildnis. (tk)

 

 

Kim A. Wagner: Rumours and Rebels. A New History of the Indian Upraising of 1857. 312 S. Oxford: Peter Lang. ISBN 978-1-906165-89-5. € 18,60

Endlich einmal eine neue Monographie über den indischen Aufstand von 1857! Der Titel mit seinen Alliterationen wirkt zwar etwas reißerisch, und auch das Titelbild mit Mord und Totschlag scheint auf Sensation getrimmt –, doch ist das Buch nicht schon einmal 2010 erschienen, damals unter dem Titel „The Great Fear of 1857“? Und tatsächlich: es handelt sich um einen unveränderten Nachdruck, nur mit neuem Titel und neuer ISBN, und durch diesen Kunstgriff wird sich wohl mancher (auch professionelle) Einkäufer zu einem Zweitkauf verleiten lassen – ganz schön clever!

Nach diesem ersten Eindruck nähert man sich der Lektüre mit einiger Skepsis. Ist das nun eine „neue Geschichte des Indischen Aufstands“, wie es der Untertitel ankündigt? Das ist sie ja nun gerade nicht, wenn man „neu“ als „neu erschienen“ versteht, und beim Hineinlesen wird schon auf den ersten Seiten klar, dass Kim A. Wagner nur die ersten sechs Monate der insgesamt zwei Jahre währenden Erhebung behandelt – also zweite Enttäuschung. Doch dazu unten mehr. Nach Kaye und Mallesons sechsbändiger Geschichte des Indischen Aufstands und einer Literaturflut zu dem Thema, deren Titelaufzählung nach Raugh‘s jüngst erschienener „ziemlich vollständiger“ Bibliographie aus dem Jahr 2016 alleine über 900 Seiten umfasst, erscheint es mutig, ein weiteres Buch zu dem Thema zu wagen, vor allem, wenn der recht junge Autor zuvor nur wenige Arbeiten und noch weniger Aufsätze zum Thema vorgelegt hat, und diese auch noch mit Titeln wie „Das Amritsar-Massaker“, „Der Schädel von Alum Begh“ oder „Würger und Banditen“ – die Skepsis steigt. Und dann erklärt der Verfasser im Vorwort auch noch, seine Vorliebe für solch blutrünstige Themen erkläre sich aus einer frühen Lektüre des Romans „Nena Sahib“ des deutschen Journalisten Hermann Goedsche alias John Retcliffe, seines Zeichens erzkonservativer Redakteur der preußischen Kreuzzeitung und Kollege Theodor Fontanes. Goedsche zog in seinem Roman, der die Figur eines Anführers aus dem indischen Aufstand zum Titelhelden hat, alle Register der Kolportage und sparte nicht an Mord- und Folterszenen und Details, die an Pornographie grenzen; in England folgte eine ganze Flut weiterer Mutiny Novels, und noch Karl May karrte aus diesem Steinbruch das Material für sein Buch „Die Juweleninsel“ (1880–82) – na prima!

Was also ist dran an dem Buch? Man merkt rasch: Wagner kennt seine Materie, und er legt sofort alle die inzwischen steril gewordenen Streitfragen der Vergangenheit ad acta: ob der Sepoyaufstand der erste Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten gewesen sei, eine nationale Erhebung darstelle und als Freiheitskampf der Nation gelten solle – Fragen, die die Historikerzunft seit dem Nationalisten Savarkar beschäftigte, der 1909 vom „first war of Indian Independence“ sprach, über Chaudhuri (1955) und Sen (1957) bis hin zu Majumdar, der ihn ganz im Gegenteil als „neither first, nor national, nor a war of independence“ bezeichnete und die alle eine bedenkliche Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei oder zur Tautologie aufwiesen – alles das ist für Wagner zweitrangig. Tatsächlich liegt das Problem des Indischen Aufstands von 1857–1859 nicht in einem Mangel an Quellen, aus denen sich die konkreten militärischen und politischen Abläufe Tag für Tag rekonstruieren lassen – diese sind aus den zahlreichen Korrespondenzen, Akten und Berichten der Zeitzeugen bis zum Überdruss wiederholt und bekannt –, sondern gerade aus einer Bewertung und Einordnung der Ereignisse.

Wagner beschönigt nicht die ungemein blutige, brutale Vorgehensweise auf beiden Seiten, doch es sind die „Gerüchte, Paniken und die Folgen daraus“, die den Gegenstand seiner Studie bilden. Das geschieht auf eine erfreulich quellennahe Art und Weise, und im Fall des Sepoys Mangal Pandey, der in der Garnison Barakpore bei Kolkata die erste Befehlsverweigerung und aufrührerische Aktion unternahm (sie endete mit seiner Hinrichtung, Pandey gilt heute als Nationalheld), erweist Wagner sich als ein Meister der Quellenanalyse. In minutiöser Nachverfolgung der ersten und weiteren Aktionen der meuternden Truppenteile (daher die Begrenzung auf das erste Halbjahr der Mutiny!) räumt Wagner genüsslich – und überzeugend – mit sämtlichen Vorstellungen auf, wonach der Aufstand von langer Hand mit einem oder mehreren Zielen geplant worden sei. Mit der Absage an eine koordinierte Verschwörung gerät jedoch nicht nur derjenige Teil der indischen Historiographie, der einen Hang zur „anachronistischen Heiligenverehrung“ aufweist, in Bedrängnis (wie sollte es einen „ersten nationalen Freiheitskampf“ geben, wenn die Quellen sich darüber ausschweigen?), sondern auch die englische Geschichtsschreibung, die hinter diesem exzessiven Ausbruch von Gewalt einen wohlgeplanten Anschlag auf Kultur, Zivilisation und Fortschritt vermutete, der das Verhältnis zwischen Briten und Indern auf lange Zeit vergiften sollte. Die Kraft von Wagners These besteht darin, die Akteure des damaligen Dramas wieder zu Wort kommen zu lassen und – ihnen zuzuhören.

Das Fazit: trotz aller anfänglichen Skepsis und trotz des fragwürdigen Publikationsgehabes des Verlages ein mutiges Buch, das mit erfrischender Direktheit die Quellen neu befragt und vor unbequemen Antworten nicht zurückschreckt. Bravo! P.S. Wer mehr Wert auf eine chronologische, zudem gut lesbare Gesamtdarstellung des indischen Aufstands legt, kann immer noch zu Christopher Hibberts „The Great Mutiny“ von 1980 greifen; eine Schilderung der Ereignisse in deutscher Sprache existiert bis heute nicht. Zu empfehlen ist auch unbedingt – selbst wenn Wagner hier anderer Meinung ist – die Autobiographie des indischen Unteroffiziers Sita Ram Pande „From Sepoy to Subedar“ aus dem Jahr 1863, einer der ganz wenigen Augenzeugenberichte aus indischer Sicht. (tk)

 

 

Neha Prasada (Text), Ashima Narain (Fotos): Dinner mit den Maharadschas. Kochkunst an Indiens Fürstenhöfen. Hildesheim: Gerstenberg 2016. 256 Seiten, zahlr. farb. Abb. Bildband in Klappschuber, Samtvelourbezug, Silberschnitt, separates Rezeptheft (68 S). Großformat 30 x 26 x 5 cm. Geb. ISBN 978-3-8369-2090-2. € 98,00

Sie sind wieder da – die indischen Maharadschas! Nachdem es jahrzehntelang so schien, als seien diese „Fürsten der Verschwendung“ (Harald Martenstein) in der geschichtlichen Versenkung verschwunden, haben sie sich still und leise wenn auch nicht in die erste Reihe, so doch wieder auf die vorderen Plätze in der höchst komplizierten indischen Kasten-, Rangund Hackordnung vorgearbeitet. Das fachbuchjournal, das sicher nicht im Ruf der Hofberichterstattung steht, hat sich mit diesem Phänomen inzwischen schon zweimal befasst.1

Die Buchproduktion folgt nur dem Trend, und es ist interessant zu beobachten, dass so gestandene Republiken wie Indien, USA oder Deutschland zumindest ab und an ein kaum zu erklärendes Verlangen nach transzendentaler Legitimation zu verspüren scheinen. Königliches Prestige und lokale Identität heißen die Zauberworte, die den schon totgesagten indischen Fürsten – neben einem tüchtigen Schuss Geschäftssinn, politischer Professionalität und Chuzpe – erneut den Weg nach oben geebnet haben. Außerdem entsprechen sie auch durchaus der „panindischen Faszination für Hierarchien“ (Kakar 2012), in der die Fürsten nun wirklich nicht fehlen dürfen.

Nun also „Dinner mit den Maharajas“!

„Eine Augenweide“, meint Mrs. E., meine unentbehrliche Expertin auf kulinarischem Terrain, „schon der Einband! Ein Leckerbissen. Und erst die großformatigen Abbildungen!“ Auch das praktische, gesondert eingelegte Rezeptheft mit floralem Umschlag, das sämtliche Gerichte nach Fürstenhöfen geordnet aufführt sowie das Register, übersichtlich nach Haupt-Zutaten (Beilagen, Desserts, Eier, Fisch, Gemüse, Huhn, Lamm, Reis, Schwein) sortiert, findet Gefallen, erfüllt es doch alle Anforderungen an Optik, Haptik und Küchenpraxis. Wer allerdings erwartet, in diesem Prachtband vorwiegend vegetarische Gerichte vorzufinden, der täuscht sich gewaltig: den Hindu-Rajas, die ja dem Kshatriya-Stand der Krieger angehören, war und ist der Fleischgenuss keineswegs untersagt; auch dem Alkohol wird in Form von Wein, Whisky oder Schnaps fleißig zugesprochen. Die muslimischen Nawabs oder die Sikh-Fürsten pflegen in diesen Fragen allerdings besondere Sitten, die sich – wie so oft in Indien – kaum auf einen Nenner bringen lassen. Also ist der Band unerwartet, doch manchem vielleicht nicht unerwünscht, arg fleischlastig. Das Buch präsentiert neben den Porträts der Fürstenfamilien und ihres Lebensstils in zahlreichen – übrigens ganz ausgezeichneten – Aufnahmen ausschließlich Originalrezepte der jeweiligen Familien. Gemeinsam ist ihnen vor allem eines: Essen war und ist nie nur Nahrungsaufnahme, sondern auch Medizin im Rahmen des Hindu-Ayurveda, des muslimischen Yunani oder des Siddha aus dem tamilischen Süden des Landes. Darüber hinaus sind die Mahlzeiten natürlich ein beliebter gesellschaftlicher Anlass, aber auch soziale Verpflichtung zur Speisung Ärmerer (tasaruffi). Hinzu kommt ein schier unerschöpfliches Vergnügen an guten Zutaten, an landestypischen Gerichten und der Spaß am Kochen – denn nicht endlose Tafeln mit 101 Gedecken, Dutzende von Gängen und Hundertschaften an Bedienten und Köchen kennzeichnen die Küche der Maharadschas, sondern auch die unverhohlene Freude an der eigenen Kochkunst, die hier oft genug von den Männern der Familie auf sog. „Kochpartys“ ausgeübt wird. Dass die zehn vorgestellten Fürstenhäuser mit Ausnahme des kleinen, aber angesehenen Hofs von Mahmudabad zu den Top Ten der ehemaligen britischen Salute table zählten, die bis zum Tag der Unabhängigkeit im Jahr 1947 die Anzahl der dem Landesherrn zustehenden Salutschüsse regelte, ist gewiss kein Zufall: es sind heute vor allem die ehemals führenden Familien mit elf bis maximal einundzwanzig Salutschüssen, die nach einem Dreivierteljahrhundert politischer Entmachtung und nach der Verfassungsänderung von 1971 wieder einigermaßen Tritt gefasst haben. Viele andere Adelshäuser – und davon gibt es einige hundert – haben den Aderlass dagegen nicht überstanden und sind heute ruiniert.

Wie die Feinschmecker des Ancien Régime in Brillat-Savarin („Physiologie des Geschmacks“, 1825) und die des vorrevolutionären China in Lu Wenfu („Der Gourmet“, 1982) ihre Rechtfertiger und Chronisten gefunden haben, so ist den Maharadschas die Rolle der Lordsiegelbewahrer der Esskultur des indischen Subkontinents zugefallen, die sie in Musikleben, Sport und Kultur so lange spielten.

Alles in allem: Ein wunderschön aufgemachter, sorgfältig übersetzter und ausgestatteter Band, mit einer Fülle von Rezepten, Personalien und Hintergründen – ein indologischer Leckerbissen der besonderen Art, zum Nachkochen prädestiniert. (tk)

1 Siehe fbj 2010/2, S.66 Pracht der indischen Fürstenhöfe und fbj 2013/4, S.79 f. Schmuck der Maharajas

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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