Landeskunde

Indien in Geschichte und Gegenwart verstehen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2021

Richard M. Eaton: India in the Persianate Age 1000-1765. 512 S., mit zahlr. sw Abb. u. Karten. Penguin Random House 2020. ISBN 9780141985398, € 14,99 (Paperback der Erstausgabe 2019)

Richard M. Eaton, der renommierte US-Historiker und Kenner der indischen Geschichte, hat sich der herkulischen Aufgabe gewidmet, ein dreiviertel Jahrtausend indischer Geschichte darzustellen – angesichts der Staatenvielfalt und Sprachenfülle auf dem südasiatischen Kontinent eine Leistung, für die überhaupt nur eine Handvoll Experten, darunter Eaton selbst, in Frage kommen. In gewisser Weise trägt der Band denn auch den Charakter eines Alters- bzw. Abschlusswerks.

Eatons Ansatz, der bereits im Buchtitel auftaucht, besteht darin, die früher oft als „Muslim-Ära“ bezeichnete Spanne von der Jahrtausendwende bis zur Mitte des 18. Jhs. unter dem Begriff des „persischen Zeitalters“ zusammenzufassen. Und in der Tat öffnet dieser verblüffend einfache, weil offensichtliche Deutungsansatz die Tür zu vielen Phänomenen der indischen Geschichte und Gesellschaft, die sich nicht mit den Schlagworten „Fremdherrschaft“, „Islamisierung“ oder „Kolonisierung“ beschreiben lassen. Eaton gelingt es auf diese Weise, eine in sich geschlossene Deutung für mehr als sieben Jahrhunderte bewegter indischer Geschichte anzubieten. Der Ansatz hat außerdem noch den Charme, Öl auf die derzeit in Indien hoch gehenden Wogen des Hindunationalismus, aber auch des muslimischen Fundamentalismus zu gießen, sieht sich die heutige Geschichtswissenschaft doch dem starken Druck religiös-nationaler Gruppierungen ausgesetzt, die ihre Sicht der Dinge – auch im Wissenschaftsbetrieb – mit teilweise brachialen Methoden durchzusetzen wissen. Unser Autor vertritt angesichts dieser hoch aufgeladenen Diskussion die These, dass es die persische Schriftkultur und Geisteswelt war, die der Ära ihren prägenden Charakter verlieh, nicht das religiöse Element des Islams oder Hinduglaubens. Eaton verfolgt damit eine Agenda, die sich mehr, als er eingesteht, auf die aktuelle politische Diskussion im Lande bezieht. Die religiöse Duldsamkeit und Vielfalt, die den indischen Subkontinent seit jeher auszeichnet, finden in ihm zwar einen beredeten Fürsprecher und Erklärer, aber Eaton sieht sich dabei mehr als einmal gezwungen, die Aussagekraft seiner Quellen arg zu strapazieren.

Doch zunächst zum Technischen: Auf den mehr als 500 Seiten des handlichen, gut aufgemachten und preiswerten Buchs ist es dem Verfasser gelungen, eine stilistisch brillante, schlüssige und abgerundete Darstellung dieser bewegten Phase der indischen Geschichte zu liefern, mit deutlichem Schwerpunkt auf den bisher wenig beachteten Inlandsstaaten, noch dazu mit einer Fülle von Literatur und Quellenzitaten. Dafür, dass die Kapitel zumeist mit einem Überblick beginnen, gefolgt von der Darstellung selbst und abgeschlossen von einer Zusammenfassung (hier zeigt sich der erfahrene Universitätslehrer), wird ihm die Leserschaft dankbar sein. Ein besonderes Highlight stellen die klar konzipierten Landkarten mit allen erwähnten Örtlichkeiten dar, dazu noch textnah platziert. Das Register ist ausführlich, wenn auch nicht vollständig. Von den Quellen- und Literaturbelegen im Anhang stammt über die Hälfte aus der Zeit nach der Jahrtausendwende, das heißt: aktueller geht es derzeit wohl nicht. Womit wir bei den Minuspunkten wären. Es fehlt eine zusammenhängende Literaturliste, und die zitierte Forschungsliteratur ist nahezu ausschließlich englischsprachig. So werden Franzosen, Deutsche, Italiener, Russen oder Spanier, auch die Inder selbst in ihren Landessprachen schlicht nicht rezipiert. Dem Rezensenten fallen auf Anhieb etliche Titel ein, die zu bestimmten Themen durchaus Erhellendes beitragen könnten, die aber – leider, leider! – nicht auf Englisch vorliegen. Eine Zitierblase bleibt eine Zitierblase, auch wenn sie sehr groß ist – dafür gibt es einen dicken Minuspunkt.

Da der Band kein eigenes Literaturverzeichnis enthält, fällt zunächst nicht weiter auf, dass auch fast sämtliche Quellen nur in englischen Übersetzungen zitiert werden; der Franzose Tavernier, die Italiener Federici, Vartema und Gemelli Careri oder der Niederländer van Linschoten müssen sich dieser modernen Universalsprache bedienen – oder sie werden schlicht ignoriert. Dass die zum Teil mehrere Jahrhunderte (!) alten englischen Übersetzungen zum Teil fehlerhaft sind, Lücken aufweisen oder schlicht sprachlich überholt sind, wird nicht weiter thematisiert. Auch über das Entstehungsdatum der Quellen bleibt der Leser oft im Unklaren; moderne Nachdrucke ersetzen eben nicht den Blick in die Erstausgabe. Hier wirkt manches recht oberflächlich, vor allem, wenn ab und zu aufgrund dürftiger Hinweise weitreichende Schlüsse gezogen werden oder wenn der Autor sein militärtechnisches Steckenpferd reitet. Manchen Quellen, die sich zum Teil sehr deutlich ausdrücken, wird stellenweise widersprochen, wenn sich deren Aussage nicht mit der Sichtweise des Autors verträgt. Trotz der Schwächen des Buches muss der Rezensent die Fähigkeit des Verfassers, komplizierte Sachverhalte zu überschauen, zu gliedern und verständlich darzustellen, neidlos anerkennen. Mit seinem Buch hat Eaton in der Tat einen himalayagroßen Sprung nach vorne getan. Brillanter Stilist, der er ist, gelingt ihm von der ersten bis zur letzten Seite eine packende, konzise und zusammenhängende Beschreibung und Deutung der indischen Geschichte, wie es sie in dieser Form bisher nicht gab. Dass seine Darstellung – so schlüssig und mitreißend sie ist – trotzdem einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, liegt nicht zuletzt an der Nonchalance, die der Verfasser seinen Quellen und der fremdsprachigen Literatur gegenüber an den Tag legt und damit für unnötige Zweifel sorgt. Wem das alles zu stromlinienförmig ist, der greife getrost zu Hermann Kulkes „Indischer Geschichte bis 1750“ (2005), die zwar trockener daherkommt, aber mit ihren vorsichtigen Formulierungen und fundierter Literatur- und Quellenkritik vor allerhand Schnellschüssen schützt.

Fazit: ein Meisterwerk mit Schattenseiten. Für eine deutsche Ausgabe wären ergänzende Literaturhinweise ein Muss. (tk)

 

Alpa Shah: Nightmarch. Among India‘s Revolutionary Guerrillas. 256 S., farb. Fotos. London: Hurst 2018 € 20,00 und Chicago: CUP 2019 $ 25,00. Erscheint im November 2021 als Paperback (€ 14,99)

Vier junge Frauen im Dschungel vor nachtblauem Himmel, mit angelegten Karabinern, auf einen imaginären Feindzielend – so räuber-romantisch präsentiert sich das Buch der renommierten angloindischen Anthropologin Alpa Shah, das trotz des reißerischen Covers (zum Foto hinten mehr) die hochinteressante und gut lesbare Innenansicht eines seit mehr als fünfzig Jahren schwelenden Konflikts ist – der indischen Naxalitenbewegung.

Der maoistische Aufstand, der in den späten 1960er Jahren im namengebenden Naxalbari in Bihar als Bauernaufstand begann und sich nach und nach – unter zahlreichen Abspaltungen – in die südöstlichen Teile des Subkontinents verlagerte, stellte zeitweilig die „größte Gefahr für Indiens innere Sicherheit“ dar, so 2009 der damalige Ministerpräsident Manmohan Singh. In kaum zu entwirrender Symbiose mit den Einheimischen in den von ihnen kontrollierten Regionen hatten die Naxaliten es fertiggebracht, einen Parallelstaat mit eigenen Steuern, Gerichten und Wirtschaftskreisläufen einzurichten, der es ihnen erlaubte, sich in der Bevölkerung „wie ein Fisch im Wasser“ (Mao) zu bewegen. Das Ziel war stets klar: die Vernichtung des indischen parlamentarischen Staats, der Kastenund Sozialordnung und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft.

Nach anfänglich großen Erfolgen sind die Naxaliten heute immer noch in einem Fünftel der 640 Distrikte des Landes aktiv, vor allem im Roten Korridor, einem kaum zugänglichen Dschungelgebiet des Südostens, in dem sich die wertvollen Mineralvorkommen Indiens befinden. Die Kampfansage des indischen Staates beantworteten die Maoisten mit rabiaten Sprengstoffanschlägen und Überfällen auf Sicherheitskräfte und Politiker in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Tausende Zivilisten und Sicherheitskräfte sind ihrer Kriegführung dabei bisher zum Opfer gefallen, aber auch Tausende Aufständische kamen bei Angriffen der indischen Polizei ums Leben oder wurden in die Gefängnisse verfrachtet. Nichts jedoch konnte die eiserne Disziplin, das ideologische Gerüst und die soziale Basis der Revolutionäre brechen – bisher jedenfalls. Mit Hilfe einer parlamentarischen Untersuchungskommission und in mehr als fünfzig Monographien und unzähligen Artikeln hat man – mit wenig konkreten Ergebnissen – versucht, das Phänomen des Naxalismus zu beschreiben, die Gründe für seinen Erfolg zu verstehen und die Möglichkeiten einer Verständigung auszuloten. Wie beim Leuchtenden Pfad in Peru, den Roten Khmer in Kambodscha, dem Vietkong in Vietnam oder den Taliban in Afghanistan sind Ursachen, Entwicklung und Lösungswege solcher Bewegungen alles andere als monokausal und für den Außenstehenden – der Literaturflut zum Trotz – schwer zu durchschauen.

Alpa Shah geht einen anderen Weg: sie führt ins Herzland der Aufständischen, in den Sukma-Distrikt von Chhattisgarh – eine Region, in der sie die Menschen, ihre Lebensweise und Sprache aus jahrelanger eigener Anschauung kennt und wo sie 2010 an einem bewaffneten Gewaltmarsch der Aufständischen teilnahm, der sich über sieben Nächte hinzog (das Marschieren am Tage verbot sich aus Sicherheitsgründen). In ihren nach Marschtagen gut gegliederten Kapiteln lässt Alpa Shah nicht nur die Führungspersönlichkeiten und ihre Gefolgsleute, sondern vor allem die Adivasis, die eigentlichen Bewohner dieses kaum erschlossenen ländlichen Raums, zu Wort kommen. In intimer Kenntnis der handelnden Personen, Familien und sozialen Gruppen werden so – von der Autorin immer kritisch hinterfragt – im Lauf der Nachtmärsche Lebensläufe, Generationen-, Sprach- und Kastenkonflikte sowie Genderfragen sichtbar, was der Bewegung und ihren Mitläufern, aber auch den Abweichlern und Überläufern Sprache und Kontur verleiht. Während viele junge Adivasis, nicht selten auch junge Frauen, zwischen der Naxalitenbewegung und ihrer dörflichen Heimat hin- und herpendeln und das Rebellenleben geradezu als touristische Erfahrung, oft auch als romantische Liebesabenteuer nutzen, verschweigt die Autorin nicht den tragischen Aspekt des Bruchs mit Familie, Tradition und Staat. Selbst den Führungskadern, in der Regel gebildeten mittel- oder höherkastige Hindus aus dem Tiefland Bengalens oder Bihars, gelingt es nicht immer, den eigenen Idealen von Opferbereitschaft und Verzicht gerecht zu werden, umso weniger den einheimischen, ganz anders sozialisierten Bewohnern der abgeschnittenen Bergregionen, die sich den Regeln eines jahrzehntelangen, verbissen geführten Guerillakriegs beugen sollen. Wie geht es weiter? Werden sich die Bewohner der Ebene durchsetzen und den Bergbewohnern ihr Staatswesen, ihr Kastensystem und ihre Wirtschaftsform aufzwingen? Oder hat der im Umgang mit seinen Bürgern nicht zimperliche indische Staat inzwischen verstanden, dass nur eine Mischung aus materiellen Angeboten, legalem Druck und begleitenden Maßnahmen den unvermeidlichen Wandel auch für die Betroffenen akzeptabel werden lässt? Alpa Shahs Buch liefert dazu Material, das sorgfältig durchzulesen unbedingt lohnt.

Noch ein Wort zum Coverfoto: die drei jungen AdivasiMädchen hatten sich eigens Gewehre von ihren Kameraden ausgeliehen, um sich fotografieren zu lassen. So kamen auch die lackierten Fingernägel, die Goldreifen, die goldene Uhr und der erhobene Ellenbogen, der die ungleichmäßigen Zähne der jungen Frau verdecken soll, aufs Bild. Die Tatsache, dass nirgendwo die Finger am Abzug liegen, spricht für sich – Eitelkeiten, über deren mögliche Tragik sich die erfahrenere, schon ältere Autorin durchaus im Klaren ist. Ein spannendes, ein lesenswertes Buch. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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