Landeskunde

Indien

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2019

Karin Kaiser: Fettnäpfchenführer Indien. Be Happy oder das No-Problem-Problem. 8., kompl. überarb. u. aktual. Aufl. 288 S. Neuss: CONBOOK Verlag für Rei ­ seliteratur 2019. Gebunden (Flexcover), ISBN 978-3-95889-176-0. € 12,95

Das Baby „Fettnäpfchenführer Indien“, Geburtsjahr 2012, ist erwachsen geworden und geht in die achte Auflage; es hat Jahr für Jahr einen Nachdruck erlebt und darf damit als Longseller gelten, der dem Verlag sicher viel Freude macht. 2019 wurde nun der Band grundlegend überarbeitet, aktualisiert und vor allem die Gliederung gestrafft; das handliche Flexicover-Format blieb. Zum Mitnehmen und Schmökern hat nun auch der Uneingeweihte wieder ein famoses Vademecum zur Hand, das ihn am Beispiel der jungen Businessreisenden Alma in 45 gut lesbaren, knappen Kapiteln durch die Höhen und Tiefen des indischen Subkontinents führt.1

Und diese Reise hat es in sich! Karin Kaiser, der man gerne abnimmt, dass sie viele der Erfahrungen am eigenen Leib gemacht hat, schont weder ihre Protagonistin noch den zartbesaiteten Leser, wenn es um das Allgemeine und um die Details einer Indienreise geht. Problem! What‘s the problem? No problem, relax! – das sind Kapitel für Kapitel die drei Abschnitte, in denen der Leser den Werdegang seiner Heldin verfolgen und dabei von ihren oft drastischen Erkenntnissen profitieren kann. In Kästchenform sind jeweils Interviews mit Landeskennern und Einheimischen eingeschoben, die die Eindrücke unserer Alma objektivieren; Statistiken und Sachinformationen verleihen dem Bändchen einen gewissen Nachschlage und Handbuchcharakter. Dazu passt das beigelegte Lesezeichen, auf dessen Vor- und Rückseite die wichtigsten Do‘s and Dont‘s stehen. Dass man den kleinen Finger der rechten Hand nur heben soll, wenn man unter Freunden ist (und das auch nur dann, wenn‘s wirklich pressiert), erfährt man an geeigneter anderer Stelle, dem Kapitel über Hygiene/Abwässer… Das Glossar am Ende des Büchleins führt schließlich die wichtigsten Begriffe, meist auf Hindi, in einer einfachen, aber rasch lesbaren Umschrift auf und ist im Fall der Fälle gut greif- und anwendbar. Vor allem für Geschäftsreisende dürfte das Bändchen die erste Wahl sein, wenn man Pleiten, Pech und Pannen vermeiden und gleichzeitig etwas über den Alltag im Lande erfahren will. Denn ist man erst einmal dort, gilt „When you are in, you are in!“, wie der imaginäre Onkel und Ratgeber unserer Protagonistin, ein erfahrener Indienwallah, es treffend formuliert.

1 Vergleiche dazu meine Besprechung der Erstauflage in fbj 4/2012, S. 42 (https://fachbuchjournal.partica.online/fachbuchjournal/fachbuchjournal_4_2012/flipbook/42/)

 

Wie alle Bände der „Fettnäpfchen“-Reihe ist auch dieser nicht als Ersatz für einen der üblichen Reiseführer mit Adressen, touristischen Highlights und beliebten Reiserouten gedacht – den muss man sich zusätzlich gönnen. Dennoch wird jeder, der nach einem strapaziösen Reisetag in sein (hoffentlich sauberes) Hotelbett sinkt, gerne in dem flott geschriebenen Büchlein nachlesen und der Autorin für die erfahrungsgesättigten Kapitel danken. Das handliche und gut aufgemachte Bändchen ist auch in seiner Überarbeitung seinen Preis wert; oft sind die Tipps ohnehin nicht mit Gold aufzuwiegen – sie wollen aber auch konsequent befolgt sein. Dies vorausgesetzt, entdeckt der Leser, wie unsere Alma, hinter den tausenderlei Widrigkeiten bald den schwer zu greifenden, aber ganz spezifischen Charme, ja Duft (rasa) des indischen Subkontinents und seiner Menschen. Daher mein Tipp: kaufen, lesen, befolgen! (tk)

 

Mahesh Shantaram: Matrimania. Texts by Mahesh Shantaram und Gita Aravamudan, graphic design by Kummer & Herrman. Leinen, Großoktav, 112 pp., 51 ills. English. Berlin: Hatje Cantz 2018. 48,00

Der „Hochzeitswahn“ oder die „Heiratsmanie“ – so kann man den Buchtitel übersetzen – ist eine auf dem indischen Subkontinent bei allen Klassen, Religionen und Kasten weit verbreitete Erscheinung. Für Mahesh Shantaram, den Fotografen und Autor, spiegeln sich in dieser „Hochzeitsbesessenheit“ nichts weniger als die Komplexität und die Widersprüche des modernen Indien. Und er muss es wissen: seit 2006 war der in Paris und den USA ausgebildete Shantaram bei unzähligen Fotoshootings der Ober- und Mittelklasse als Starfotograf zugegen, wenn dieses größte aller indischen Familienfeste vom Himalaya bis in den äußersten Süden, von Mumbai bis Kolkata in großem, größerem oder ganz großem Rahmen gefeiert wurde. „In ganz großem Rahmen“ – das will in diesem Land mit seinen 1,3 Milliarden Menschen schon etwas heißen: die Hochzeitsfeier im Kreis der Industriellenfamilien Ambani und Piramal im Dezember 2018 kostete schließlich die Kleinigkeit von 100 Mio. Dollar. Gäste waren neben Hillary Clinton die Sängerin Beyoncé, die Filmstars Shahrukh Khan, Salman Khan, Aishwarya Rai und last but not least Amitabh Bachchan – man hat es also regelrecht „krachen lassen“. Woher diese „Hochzeits-Feierwut“? Der Frage nach den Ursachen und Auswirkungen des landestypischen Phänomens stellt sich der Autor in dem vom Verlag schön ausgestatteten Fotobildband in seinem Vorwort. Schon die vier fast archetypischen Lebensläufe von Kalindi, Sakchit, Meera und Avni, die uns der ebenso gewitzte wie zeitkritische Fotograf in seiner lesenswerten Einführung vorstellt, zeigen die Bandbreite des Möglichen, vom Norden bis zum Süden des Subkontinents, von der Mittelklasse-Hochzeit in Delhi bis zur Feier bei den Superreichen in Chennai/Madras. Dass solche Ehen in der Regel von den Eltern arrangiert und missliebige Kandidaten mit allen möglichen Mitteln ausmanövriert werden, kommt uns Individualisten aus der westlichen Hemisphäre zwar befremdlich vor, spricht aber nicht per se gegen ein gutes Funktionieren der späteren Ehe – das gesteht der Fotoautor freimütig ein. Selbst Ehen, die sozusagen nur im tax heaven, also aus Steuergründen, geschlossen wurden, sind keineswegs zum Scheitern verurteilt – auch das eine für uns Westler verwirrende Einsicht des Autors. Die Leidenschaft der Inder für die Ehe, ihre eingefleischte Abneigung gegen das Unverheiratetsein (singlism) sorgt zudem dafür, dass niemand Angst haben muss, sitzen zu bleiben und keinen Partner zu finden; die Verwandtschaft sorgt schon dafür, dass er und sie, ob dick oder dünn, arm oder reich, schön oder hässlich, unter die Haube kommt. Kurz und gut – in Indien ticken die Ehe-Uhren anders.

Im Nachwort der Frauenrechtlerin Gita Aravamudan geht es dann freilich zur Sache: im Vorfeld der Eheschließungen – und oft genug auch im Nachhinein – wird beinhart um das finanzielle Drumherum gefeilscht; Hochzeit und Ehe sind zum „Schaufenster für den Status der Familie“ geraten, und die seit 1961 gesetzlich untersagte Aussteuer (dowry), die es wegen der vielen damit verbundenen Mitgiftmorde zu einer regelrechten „Killer-Reputation“ gebracht hatte, blüht munter weiter und hinterlässt zehntausende verschuldete Schwiegerväter (daddies in debt) – kurzum, das Ganze sei „völlig außer Kontrolle“ geraten. Ein Umdenken zeichne sich freilich bei der jüngeren Generation ab, die Wege sucht – und findet –, Traditionen, Erwartungshaltung und eigene Wünsche in Übereinstimmung zu bringen.

Schon dass der Fotoband nicht in das traditionelle Hochzeits-Rot, sondern in ein kräftiges Pink gewandet ist, ist Zeichen dafür, dass sich die Zeiten ändern und Traditionen nicht mehr unbesehen übernommen werden. Und wenn die Ehe im ersten Anlauf nicht glückt, dann kann man heutzutage auf Webseiten wie secondshaadi.com („Zweitehe.com“) weitere Versuche wagen – etwas, was noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar oder die große Ausnahme gewesen wäre.

Das Hauptaugenmerk des Fotobandes liegt naturgemäß nicht auf dem Text, sondern auf den Fotoaufnahmen, die 90 der insgesamt 112 Seiten einnehmen. Die mit oft unmerklicher fotografischer Finesse, einem hohen technischen Aufwand und viel künstlerischer Freiheit gestalteten Aufnahmen gewähren mit ihrer Mischung aus Glanz, Flitter und Farbenpracht einen faszinierenden Einblick hinter die Kulissen eines all-indischen Phänomens. (tk)

 

Sebastian Sardi: Black Diamond. Texte von Jenny Maria Nilsson, Sukruti Anah Staneley. Festeinband, 104 Seiten, 49 Farb- und S/W-Abb. Englischer Text. Heidelberg: Kehrer 2019. ISBN 978-3-868-28872-8. € 38,00

Der schwedische Fotograf Sebastian Sardi präsentiert in seinem neuesten Bildband Impressionen aus dem Kohlegebiet Nordostindiens, aus Jharkhand, dem schier unerschöpflichen Rohstoffrevier des Kontinents. Indien zählt zu den größten Kohleproduzenten der Welt, und mehr als 80% der Ausbeute stammen aus dem kleinen Gebiet rund um die Städte Ranchi, Jamshedpur und – als Zentrum – Dhanbad. Der Ort selbst liegt wie auf einem fernen Planeten mitten im Tagebaugebiet, und Sardi, der seit zehn Jahren die Kohlegruben der Erde auf der Suche nach Motiven bereist, war fasziniert von der geradezu dantesken, wahrhaft „infernalischen“ (höllischen) Szenerie: Feuer, die sich seit einem Jahrhundert durch die unterirdischen Flöze brennen; Rauch und Schmutz überall; Menschen, die sich halblegal, von der Minenverwaltung geduldet, aus aufgelassenen Förderstätten Kohlebrocken hervorklauben, Frauen und Kinder, die mit Körben schwer bepackt die Kohle heraustragen, um daraus mit Hilfe ständig rauchender Kohlemeiler in primitivster Weise Koks zu gewinnen. Sardi hat diese Menschen porträtiert und sie Bild für Bild, mit dem Gesicht dem Betrachter zugewendet, vorgestellt; ein sepiaähnlicher Schleier dämpft die grauschwarze, triste Realität und verleiht den Aufnahmen, die bei mehreren Besuchen des Künstlers in Dhanbad in den letzten Jahren entstanden, eine Distanz und Würde, die man vor Ort wohl so nicht antreffen würde. Anders als entsprechende Reportagen in der ZEIT und im Spiegel oder vergleichbare Berichte über die Abwrackwerften von Chittagong (Bangladesch), Alang (Indien) oder Gadani (Pakistan), über die Bozo-Sandtaucher in Mali oder über die Valmiki-Kaste der Kanalreiniger im indischen Ghaziabad, verzichtet Sardi auf jede Kommentierung seiner Fotografien und versagt sich auch jede Einordnung in soziale oder ökologische Zusammenhänge. Das Vor- und das Nachwort aus fremder Feder geben nicht mehr als einige karge Hinweise zur Entstehung der Bilder, den Lebens- und Arbeitsbedingungen und der Bedeutung des Gezeigten und lassen mehr Fragen offen, als sie beantworten.

Mag sein, dass in dieser Frugalität und Zurückhaltung eine künstlerische Absicht, ja eine Stärke liegt; der Autor selbst erklärt, dass es vor allem die Ästhetik des Hässlichen sei, die ihn fasziniere – in den gelbrot leuchtenden Schloten der Meiler und dem tristen Schwarzgrau der Kohlegruben zeige sich „die Schönheit einer brutalen Welt“. Man muss diese puristische Sicht nicht teilen, und der unbefangene Betrachter stößt geradezu mit der Nase auf die sozialen und ökologischen Defizite, die aus den Bildern sprechen. Dennoch gilt hier die Wahrheit des Künstlers, der auch angesichts eines vielleicht schockierenden Motivs seine eigene Sicht beibehält. Auch wenn sich der Vergleich mit den provokanten Aufnahmen der Benettonwerbung aufdrängt – Sardi liebt das Drama nicht, er geht empathischer, ehrlicher mit seinen Motiven um. Er lässt den Abgelichteten ihre Persönlichkeit, sein Interesse gilt dem Schönen hinter dem Hässlichen, dem Würdevollen hinter dem Entwürdigenden.

Der Bildband von Kehrer Design ist tadellos aufgemacht und fotografisch beeindruckend. Was fehlt – und den unbefangenen Betrachter verwirrt – ist der Mangel an Informationen über das Gezeigte. Den Leser sollte man mit den Bildern nicht allzu alleine lassen, wenn man die Kohlestadt Dhanbad, die Energiepolitik des Landes, die Arbeit der (staatlichen) Kohlekonzerne, die illegalen Kokshersteller und letztlich deren Lebenssituation verstehen will. (tk)

 

Perumal Murugan: Zur Hälfte eine Frau. Roman. Aus dem Tamilischen übs. v. Torsten Tschacher. 162 S. Heidelberg: Draupadi 2018. ISBN 978-3-293-31047-6. Kartoniert, € 18,00, als E-Book € 16,99

Ein junges Paar auf dem Lande – man schreibt das Jahr 1946 – im Süden Indiens, im Gebiet des heutigen Bundesstaates Tamil Nadu, könnte glücklich und zufrieden sein, wäre da nicht der leidige Umstand, dass sich nach über zwölfjähriger Ehe immer noch kein Nachwuchs eingestellt hat. Die beiden mögen einander noch so zugetan sein, der fehlende Kindersegen wird in der Gemeinschaft des Dorfes mehr und mehr zum Gespött und zur Zielscheibe der Kritik. Während Ponnu – so lautet der Name der Gattin – es kaum noch wagen darf, ein fremdes Kind anzufassen, ja überhaupt anzuschauen und sie bei der Aussaat – ihrer Unfruchtbarkeit wegen – von der Mitarbeit ausgeschlossen wird, muss sich Kali, ihr Mann, den faden Spott der DorfCasanovas anhören, die ihm (und ihr) ungefragt erklären, woran es wohl fehlt. Wenig Trost bietet auch der alleine lebende Onkel, der sich zwar um das Dorfgerede nicht schert und unbekümmert seinem Bummelantentum frönt, dem Paar wegen seiner epikureischen Lebensweise aber auch keine Lösung ihres Dilemmas anbietet. Schließlich ist er als Mensch ohne feste Bindungen und Kinder, wie Kali selbst sagt, ja letztlich auch nur „ein armer Teufel“. Der von innen wirkende und von außen an die jungen Leute herangetragene Wunsch nach Kindern wirkt schließlich so übermächtig, dass nach allerhand Rosskuren, Pilgerfahrten und Riten als letzter Ausweg nur noch die Teilnahme an dem Fest des hermaphroditischen Gottes ArdhaNarishvara bleibt. Ponnu lässt sich im Trubel – ebenso wie andere Frauen mit Kinderwunsch, und nur auf Drängen ihrer Eltern und Schwiegereltern – mit einem der namenlosen Festbesucher ein, wie es das Herkommen erlaubt. Der daheim gelassene Ehegatte, den man über dieses letzte Hilfsmittel im Unklaren gelassen hatte, bricht zusammen, als er die Zusammenhänge ahnt.

Perumal Murugan, Jahrgang 1966, hat mit seinem auf Tamil geschriebenen Roman, der nun erstmals auf Deutsch erhältlich ist, 2010 in seiner Heimat viel Staub aufgewirbelt und für seine offene Darstellung okkulter Traditionen erheblichen Verdruss geerntet, vor allem, da er in der Erstauflage noch Orte und Personen im Klarnamen genannt hatte – ein Fauxpas, der schon anderen Autoren unterlaufen ist. Als die Schriftstellerin Clara Viebig in ihrem Roman „Das Weiberdorf“ die Interna eines kleinen Eifeldorfes ausplauderte, verschaffte ihr das zwar einen großen Bucherfolg, aber auch jede Menge Ärger; nicht ohne Grund siedelte Gottfried Keller seinerzeit seine ähnlich gelagerten Skizzen in einem imaginären Ort namens „Seldwyla“ an, und Maupassant ließ seine Studie, wie man geschickt ein mondänes Kurbad lanciert, in „Mont Oriol“ spielen. Sozial- und Religionskritik sind gut und schön – aber ist das auch lesbar? Hat man es nun mit Literatur oder mit einem Sozialreport zu tun? Keine Frage: Murugan leitet seinen Leser als unaufdringlicher Erzähler sicher durch sein Werk, und wie bei Maupassant oder Zola reihen sich in dem eher handlungsarmen Roman Szene an Szene, immer gut beobachtet und detailgenau geschildert; drastische Ausdrücke und derbe Redensarten – für den Übersetzer eine große Herausforderung – würzen das rustikale Szenario. Meisterhaft, wie Murugan das Eingangsmotiv des blühenden, schattenspendenden Portiabaumes am Schluss der Erzählung – nun allerdings mit tragischem Unterton – wieder aufnimmt. Die zahlreichen, gut beobachteten Skizzen aus dem Dorfleben zeigen den Autor als scharfen Beobachter des Alltags, während die oft kaum merklichen Verschiebungen des Beziehungsgeflechts zwischen Dorfbewohnern, Verwandten und dem Paar ihn als Psychologen und Menschenkenner ausweisen. Was Uday Prakash mit seinem Roman „Mohandas“ (2005) für die zeitgenössische Hindi-Literatur des Nordens geleistet hat – eine erschütternde Skizze über Kastengrenzen und Korruption –, das hat zweifellos das literarische Erzähltalent Murugans für den tamilischen Süden fertig gebracht. Woran es noch fehlt? Vielleicht an dem Humor und der Ironie, die den Großmeister des sozialrealistischen Hindi-Romans, Premcand (1880–1936), auszeichnet.

Noch ein Wort zur Übersetzung: Torsten Tschacher hat mit seiner Übertragung aus dem tamilischen Original eine außerordentliche Leistung vollbracht. Wenn es gelingt, bei einer Neuauflage noch einige kleinere stilistische Schwächen zu tilgen, hätte sie – wie die hoch gelobte englische Übersetzung von Aniruddhan Vasudevam – unbedingt einen Preis verdient.

Was sonst noch? Ja, vielleicht dieses: das Büchlein ist eine wahre Fundgrube für jeden, der die Gegend bereisen und das ländliche Südindien besser verstehen will. (tk)

 

Per J. Andersson: Vom Elefanten, der das Tanzen lernte. Mit dem Rucksack durch Indien. München: C.H. Beck 2019. 335 S., Kartoniert, € 16,95

Ein wenig missverständlich ist er schon, der Titel. Wer einen der üblichen Rucksackreiseführer mit Tipps abseits des beaten track erwartet, der wird enttäuscht. Stattdessen stößt der geneigte Leser auf ein handbuchartiges Kaleidoskop der Kulturlandschaft Indien, das in seiner Breite und Qualität seinesgleichen sucht. Der schwedische Reisejournalist und Indienkenner Per Andersson hat sich nämlich entschlossen, nach seinem Bestseller aus dem Jahr 2015 („Vom Inder, der mit dem Fahrrad nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden“) seine bisherigen Erfahrungen mit dem Subkontinent noch einmal mutig zusammenzufassen und uns seine Kenntnisse, Einsichten und Prognosen mitzuteilen.

In den 27 ebenso lehrreichen wie gut geschriebenen Kapiteln seines handlichen Bändchens führt uns Andersson durch den Erdteil, der ihn von Jugend an magisch fasziniert: in Schweden die Kühle, überschaubare Ordnung, Zurückhaltung und Kargheit von Mensch und Natur, dort die (oft unerträgliche) Wärme, (oft aufdringliche) Teilnahme und (oft allzu) üppige Vegetation Indiens. Wenn es heißt, dass Gegensätze sich anziehen, dann trifft das hier wohl in besonderem Maß zu.

Andersson kennt das Land wie kaum ein anderer: Geschichte, Mythen, Traditionen und Kultur des riesigen Landes wecken ebenso sein Interesse wie die Probleme des heutigen Indien, die der Autor Kapitel für Kapitel aufgreift und wo er als guter Journalist auch vor kontroversen Themen nicht kneift: er nennt die Dinge beim Namen, mögen sie nun Hindunationalismus, Sprachenpolitik, Frauen- und Minderheitenrechte oder Wirtschaftsentwicklung heißen. Das bedeutet nun nicht, dass er über den großen Themen all die kleinen Dinge vergäße, die den Alltag im Guten wie im Bösen ausmachen: die indische Küche, Bollywood, Presse und Literatur, Straßen-, Luft- und Schienenverkehr, Währung… Dass es ihm gelingt, bei allem Verständnis für die Vergangenheit den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu richten, gehört zu den großen Stärken dieses überaus lesenswerten Bändchens. Vielleicht liegt es an der traditionellen schwedischen Neutralität, dass Andersson seine Perspektiven so erfrischend sachlich präsentieren kann, ohne sich allzu lange mit dem anderwärts schon arg breit getretenen Verdruss über die früheren Kolonisatoren aufzuhalten. Überraschend ist auch seine positive Sicht auf die zunehmende Verstädterung, Globalisierung und technischen Fortschritt, ist man doch gewohnt, bei diesen Themen oftein heftiges Klagelied zu vernehmen. Welche Kräfte die in den Städten neu gewonnene Freiheit jedoch in privater, familiärer und wirtschaftlicher Hinsicht freisetzt, gemessen an den Einschränkungen, denen der Einzelne im Hinblick auf Kaste, Geschlecht und Community auf dem Dorf ausgesetzt ist, wird an mehr als einem Beispiel deutlich. Wohin also geht die Reise des „tanzenden Elefanten“? Das Zeitalter des westlichen Übergewichts neigt sich dem Ende zu, Asien ist schon längst Teil der globalen Welt; während aber Chinas autoritärer Wirtschafts- und Staatsapparat sich auf der Erfolgsspur befindet, scheint Indien mit seinem partizipativen, auf breiter Mitwirkung basierenden Staatsmodell und seiner oft kläglichen Bürokratie weit abgeschlagen zu sein. Soweit der erste Blick. In Indien hat man es jedoch nicht nur verstanden, mit der Vielsprachigkeit im Land zurechtzukommen (noch dazu mit unterschiedlichen Schriftsystemen), sondern besitzt mit dem Englischen darüber hinaus noch eine Lingua Franca, die den Indern auf dem globalen Arbeitsmarkt hohe Mobilität und einen Sonderstatus verschafft. Zudem beherrscht man auf dem Subkontinent die Kunst, ein Anderthalb-Milliarden-Volk mit Hilfe von Parteien und Wahlen zu organisieren und sich in freier Aussprache, nach anerkannten Regeln und auf gewaltlose Weise über die Zukunft des Landes zu verständigen. Ein funktionierendes Rechtssystem und die jahrzehntelange demokratische Erfahrung bilden einen nicht zu unterschätzenden Vorzug, während in China seit 1947 keine freien Wahlen mehr abgehalten wurden. Was das in Zeiten eventueller Instabilität bedeutet, in denen die Bevölkerung sich artikulieren muss, wird die Zukunft zeigen. Trotz seiner Individualität und Vielfalt war Indien – anders als China – jedenfalls nie in Gefahr, in Einzelstaaten zu zerfallen oder im Chaos zu versinken. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Andersson hat kein politisches Buch geschrieben, sondern vor allem ein kluges, informatives und unterhaltsames, in zahlreichen abgeschlossenen Kapiteln auch mittendrin gut zu lesendes Buch für den – Reiserucksack; womit der Titel also doch noch seine Berechtigung erhält.

Noch ein Wort zur Übersetzung: dass bei einigen Begriffen das schwedische Original durchscheint (Daliten statt Dalits, Maratherner statt Marathen, core statt Crore, Se­ poyer statt Sepoys, Duplexis statt Dupleix, Bina Shleth­ lashkari statt Bina Seth Lashkari), lässt sich angesichts der flüssigen, ausgezeichneten Adaption leicht verschmerzen und ist bei einer Neuauflage leicht zu beheben. Bei dieser Gelegenheit wären auch einige Fotos oder Illustrationen sowie die eine oder andere Kartenskizze durchaus eine Bereicherung. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) ist Herausgeber mehrerer historischer Lan­ deskunden und Reiseberichte. Er war bis 2016 im Universitätsund Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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