Zeitgeschichte

In und mit Russland leben

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2019

Neef, Christian, Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa, München: Siedler 2019, 383 S., 65 s/w Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8275-0108-0. € 28,00

In seiner bahnbrechenden Studie über „Russland als Vielvölkerreich“, die 1992 erstmals erschien, bezeichnete der in Köln, dann in Wien lehrende Osteuropahistoriker ­Andreas Kappeler „Juden und Deutsche als mobile Diaspora“ des Russischen Reiches. Da Juden sowieso erst seit den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts in Russland leben und in der Hauptstadt bis zum Zusammenbruch des Reiches 1917 nur mit einer Sondergenehmigung wohnen durften, blieb viel Platz für die Deutschen. Sie lebten seit dem 15. Jahrhundert im Moskauer Reich, in größerer Zahl mit wachsendem Bedarf an Spezialisten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. In der 1703 von Peter I., dem Großen, gegründeten neuen Hauptstadt, benannt nach seinem Namenspatron, dem Hl. Petrus, siedelten sie von Beginn an. Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Russischen Reiches schwankte der Bevölkerungsanteil der Deutschen oder besser der deutschsprachigen Bewohner der Stadt zwischen rund acht und knapp drei Prozent. Von 1890 bis 1910, also in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wuchs die Gesamtbevölkerung der Hauptstadt schneller als die Zahl der deutschsprachigen Einwohner.

An Geschichten St. Petersburgs herrschte und herrscht, auch in deutscher Sprache, kein Mangel und auch zur Geschichte der Deutschen in dieser über Jahrhunderte hinweg kosmopolitischen und multikulturellen Metropole gibt es zahlreiche Arbeiten. Christian Neef hat diese vorliegenden Studien und Untersuchungen nur in geringem Umfang zur Kenntnis genommen und den einprägsamen Satz des Historikers Hermann Heimpel „Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen“ nicht beherzigt. Im Untertitel und im Klappentext wird ein Buch über „Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“ versprochen, in dem auch von „deutschen Monarchen“ die Rede sein soll. Die einzige russische Herrscherin, die mir dabei einfällt, war Katharina II., die das Land von 1762 bis 1796 regierte. Ihr Ehemann, Peter III., hatte zwar einen deutschen Vater, aber eine Tochter Peters I. als Mutter. Ob das „Deutschsein“ Katharinas auf ihre Herrschaft spezifische Auswirkungen hatte, möchte ich eher verneinen. Mit größerer Berechtigung könnte man darauf verweisen, dass Großbritannien immer noch von einer deutschen Dynastie regiert wird, denn dem Haus Hannover (Hanoverian England) folgte das Haus Sachsen-Coburg-Gotha, das sich 1917 in Windsor umbenannte.

Die Zeit von der Gründung der Stadt bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wird auf wenigen Seiten im Schnelldurchgang erzählt (S. 28-39). Das vielfältige Leben dieser ethnisch-konfessionellen Gruppe schnurrt zu nichtssagenden Sätzen zusammen. „Deutsche waren auch schon unter den ersten Mitgliedern der Russischen Akademie.“ (S. 32) Keine Erwähnung finden Geistesgrößen wie die Universalgelehrten Peter Simon Pallas und Gerhard Friedrich Müller oder der Mathematiker Leonhard Euler, ein Schweizer, der nach einigen Jahren an der Preußischen Akademie unter Friedrich II. lieber wieder nach St. Petersburg zurückkehrte. Während das Unternehmen Siemens, das seit über 165 Jahren in Russland aktiv ist, immerhin noch erwähnt wird, finden Mannesmann, Bayer, Krupp oder Daimler-Benz keine Erwähnung, obwohl doch Max und Reinhard Mannesmann so gerne im „Grand Hôtel D’Europe“ (heute noch unter ähnlichem Namen und an gleicher Stelle zu finden, denn das Haus überstand sogar sowjetische Zeiten) abstiegen, um ihre Geschäfte mit dem Unternehmen Nobel zu tätigen und anschließend in Sibirien auf die Bärenjagd zu gehen.

Nur wenige Informationen gibt es über Klubs und Vereine, über das gesellschaftliche Leben, über Wohltätigkeit und Brauchtum und generell über das Zusammenleben der Ethnien und Nationen im Laufe der Jahrhunderte. Wir finden die längst bekannten Zitate der Dichter Nikolaj V. Gogol und Fedor M. Dostoevskij über die Deutschen, aber kaum einen Satz über Akkulturations-, Assimilationsund Integrationsprozesse. Das ist schade, weil man etwas über das Leben in zwei Welten hätte lernen können, denn die große Mehrheit der deutschen Stadtbevölkerung beherrschte die Landessprache ziemlich gut und war mit dem russischen Kultur- und Sozialleben bestens vertraut. Das„Petersburger Deutsch“ war mit Russismen durchsetzt und für einen „Reichsdeutschen“ oft unverständlich. Neef erzählt uns stattdessen die Geschichte von vier, eigentlich fünf „aufstrebenden Familien“ seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Großen Terror in der Sowjetunion am Ende der 1930er Jahre und dem Untergang oder der Vernichtung der deutschsprachigen Bevölkerung nicht nur St. Petersburgs, sondern auch des ganzen Landes. Das hat man so in verschiedenen Variationen schon mehrfach gelesen und kann kaum neue Erkenntnisse gewinnen. Unklar bleibt bis zum Ende, warum diese Familien bzw. diese Personen, also etwa der Kornettist Oskar Böhme, die Apothekerfamilie Poehl (von Poehl), die Pastorenfamilie Eduard Maas, aus der der Schauspieler Armin Müller-Stahl stammt, die Unternehmerfamilie Kirchner und der Kolonist Peter Amann ausgewählt wurden.

Gerade im Falle von Amann zeigt sich die eingeschränkte Literaturauswahl des Verfassers, denn über die deutschen Siedler im Raum St. Petersburg gab es Ende 2014/Anfang 2015 eine Ausstellung in St. Petersburg und im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold mit einem fast 400 Seiten starken Katalog, in dem auch Albert Amann, Peter Amanns Sohn, und das Haus der Familie abgebildet sind.

Und es kommt hinzu, dass die Verhältnisse doch komplexer waren, als der Autor sie beschreibt. So „behalten“ die Reichsdeutschen (S. 38) ihren „deutschen Pass“ nicht, denn bis zum Jahr 1913, als das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft trat, hat es einen solchen Pass nicht gegeben. Im Deutschen Reich von 1871 behielten die Bürger der Bundesstaaten ihre Pässe, mit denen man aufgrund einer gesetzlichen Regelung auch „Staatsangehöriger“ des Bundes war. Oder nehmen wir das Problem der Eheschließung der Deutschen im Russischen Reich. Da lesen wir (S. 45), dass die Deutschen „beim Heiraten gerne unter sich“ blieben. Das mag schon häufig der Fall gewesen sein. Aber wer als Mitglied einer anderen christlichen Konfession vor dem Toleranzedikt von 1905 eine/n Orthodoxe/n heiratete, war zum Übertritt zur Orthodoxie gezwungen und musste alle Kinder aus dieser Ehe orthodox taufen lassen. Da in jenen Zeiten die Konfession oftmals wichtiger und prägender war als die Staatsangehörigkeit oder die Nationalität heirateten die Deutschen, die zumeist Protestanten waren, lieber andere Protestanten; Katholiken gab es sowieso eher selten.

Auch haben sich einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen. Unerklärlich und ärgerlich ist die immer noch gebräuchliche Verwendung des bolschevikischen Kampfbegriffs „zaristisch“, denn das Adjektiv zu „Zar“ ist im Russischen „carskij“ und damit im Deutschen „zarisch“. Die Kirche des Hl. Sergej von Radonesch steht in Bad Kissingen und nicht in Wiesbaden (S. 93). Die russische Kirche auf dem Neroberg in Wiesbaden ist der Hl. Elisabeth geweiht und erinnert an Elizaveta Michajlovna (1826–1845), die jung verstorbene Gattin des Fürsten Adolf von Nassau, und wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut. Falsch ist auch der Beginn des Psalms 91 in der russischen Wiedergabe und die deutsche Zeile aus dem Psalm ist nicht die Übersetzung des russischen Zitats (S. 97). Die Bedeutung, die die deutschsprachige Bevölkerung St. Petersburgs für die Stadt und für das Land zweifellos hatte, erschließt sich bei der Lektüre des Buches nicht. Dass Petersburg, wie es eingangs heißt, nach den Jahren des Großen Terrors der späten 1930er Jahre mit der Vernichtung der Eliten „nicht mehr an seine große Vergangenheit anknüpfen“ (S. 9) konnte, liegt sicherlich weitaus stärker in dem Verlust der Hauptstadtfunktion und damit im Verlust seiner kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bedeutung. Was Titel und Klappentexte versprechen, löst das Buch nicht ein. Es ist weder fulminant erzählt noch beeindruckend. Das gilt bedauerlicherweise auch für die zahlreichen Abbildungen, die teils so klein sind, dass auf ihnen kaum etwas zu erkennen ist. Und warum deutsche Sachbücher immer noch ohne Register publiziert werden, ist und bleibt mir ein Rätsel.

 

Teltschik, Horst, Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden, München: C.H. Beck 2019, 234 S., 13 Abbildungen, Klappenbroschur, ISBN 978-3-406-73229-4. € 16,95

Horst Teltschik, 1940 geboren, stand selten im Vordergrund politischen Handelns, sondern agierte im Hintergrund als „Berater“, wie es so schön heißt. Seit Beginn der 1970er Jahre beschäftigte er sich in der Bundesgeschäftsstelle der CDU mit Außen- und Deutschlandpolitik, 1972 wechselte er in die Mainzer Staatskanzlei zum damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl. In dessen Umfeld blieb er bis in die frühen 1990er Jahre. Jahrelang war er Kohls Berater in auswärtigen und sicherheitspolitischen Fragen und stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramtes, schließlich Sonderbeauftragter für die Verhandlungen mit Polen und führend an den deutschdeutschen Verhandlungen und der deutschen Wiedervereinigung beteiligt. Danach wechselte er in die Wirtschaft und war lange Jahre Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Seit 2003 ist er Honorarprofessor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität München. Er verfügt also über eine sehr lange politische und wirtschaftliche Erfahrung und Kompetenz. Teltschik erzählt und analysiert in diesem Buch die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und der Sowjetunion als Zentralmacht des Warschauer Paktes in den Zeiten des Kalten Krieges, in der Phase der weltpolitischen Wende der Jahre 1989/90 und der folgenden Jahrzehnte. Auch wenn der Autor selbst einer der Akteure der 1980er und frühen 1990er Jahre war, so bleibt er im Hintergrund und beschreibt die politischen Prozesse und deren Hauptakteure in jener Zeit.

Teltschik weist zu Recht darauf hin, dass die europäischen Regierungen 1989/90 und danach politisch überfordert gewesen seien (S. 66). Sie befassten sich mit zu vielen Problemen gleichzeitig, die alle für gleich wichtig und strategisch bedeutsam erklärt wurden. So ging es der Bundesregierung unter Helmut Kohl nicht nur um die Integration der neuen Bundesländer, die bis heute nicht in vollem Umfang erfolgt ist, sondern auch darum, die Europäische Union als Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden und den Euro als gemeinsame Währung einzuführen. Zugleich stellt er zutreffend fest, dass in den 1990er Jahren das Verhältnis des Westens zu Russland in immer stärkerem Maße eine Beziehung der Ungleichen wurde, „die nach außen so taten, als wären sie gleichberechtigte Partner.“ Der Westen habe viel zu oft keine Rücksicht auf starke russische Interessen genommen. In dieser Bewertung unterscheidet sich Teltschik sicherlich sehr deutlich von vielen anderen Politikern und Politikwissenschaftlern. Bei manchen Ausführungen allerdings scheint mir die Beurteilung doch zu sehr durch eine seltsam verklärte Sicht der Zeit vor dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder geprägt zu sein. Der Zerfall Jugoslawiens legte zwar in der Tat „alle historischen, religiösen und ethnischen Bruchlinien wieder offen“ (S. 84), aber diese als „längst überwunden“ geglaubt darzustellen, ist meines Erachtens die verbreitete, aber dennoch falsche Sicht der 1970er und 1980er Jahre. Wer genau hinschaute in diesem titoistischen Jugoslawien, der konnte sich nur fragen, was denn die Einwohner des slowenischen Ljubljana (früher Laibach) mit denen des montenegrinischen Titograd (heute Podgorica) gemeinsam hatten. Dazwischen lagen Welten in mentaler, kultureller, sozialer und ökonomischer Hinsicht, zusammengebunden waren sie nur durch den Zwang eines sozialistischen Staates. Auch der Nationalismus in den sozialistischen Staaten erwachte nach 1989/90 keineswegs neu. Es gab ihn, gerade auch unter den Dissidenten in Polen, Ungarn und anderen Staaten auch schon in den Jahrzehnten zuvor. Nur war es so, dass im Westen nur wenige diese Publikationen lasen, noch weniger zwischen den Zeilen lesen konnten oder wollten und zudem jeder Gegner der kommunistischen Regierungen ein willkommener Verbündeter war, unabhängig von seinen politischen Einstellungen und Überzeugungen, getreu dem Motto: „Jeder Feind meines Feindes ist mein Freund!“ Václav Havel, der tschechische Dissident und erste Präsident des Landes nach der Wende, wies schon früh auf die Hindernisse beim Aufbau demokratischer Systeme in den ehemaligen Ländern des Ostblocks hin und warnte vor der „Gefahr des Populismus“ (S. 71 f.). Zudem halte ich es für eine Fehleinschätzung, dass Michail Gorbatschows Reformprogramm von Glasnost und Perestrojka innenpolitisch den Weg zu einer Demokratie westlichen Musters öffnete. Erstens stammten die Schlagwörter aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und kennzeichneten die sogenannten Großen Reformen unter Kaiser Alexander II. seit 1861 und zweitens wussten weder Gorbatschow noch sein Think Tank, was denn eine Demokratie westlichen Musters war.

Insgesamt ist dies jedoch ein durchaus lesenswertes und in vielerlei Hinsicht sehr anregendes Buch über die Bedeutung der Entspannungspolitik und darüber, dass es sich lohnt, immer wieder den Dialog zu suchen, Brücken zu bauen und die Verhältnisse und Beziehungen zueinander auszuhandeln und nicht vorzugeben. Bedauerlicherweise gibt es keinerlei Nachweise direkter oder indirekter Zitate, von Zahlen oder Vertragstexten und noch nicht einmal ein paar Hinweise, was zum Thema sonst noch lesenswert sein könnte oder was Horst Teltschik bei der Abfassung seines Buches gelesen hat. Da hätte ein Lektor durchaus einmal eingreifen können. ˜

Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische ­Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration. 

ddahlman@gmx.de

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