Martin Rücker, Ihr macht uns krank. Die fatalen Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby. Econ Verlag, 2022. Geb., 336 S., ISBN 978-3-430-21070-6. € 22,99.
Die steten Ernährungsdebatten werden oft nach einem einfachen Muster geführt: Was ist gesunde Ernährung bzw. was ist ungesunde Ernährung. Darauf gibt es eine einfache Antwort: eine gesunde Ernährung ist eine Ernährung, die uns nicht krank macht, ergo ist eine ungesunde Ernährung eine, die uns krank macht. So adressiert der Autor Martin Rücker sein neues Buch: Ihr macht uns krank und die Schuldigen sind auch schon im Titel genannt: Die Folgen deutscher Ernährungspolitik und die Macht der Lebensmittellobby.
Bevor der Autor in die Problematik der Ernährungspolitik und der Vernetzung von Politik und Agrarlobby in vielen Details eingeht, beschreibt er ein grundlegendes Problem, welches in einem der reichsten Länder der Welt eigentlich nicht existieren sollte: Ernährungsarmut. Ernährungsarmut, so im Bericht des wissenschaftlichen Beirates des Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung nachzulesen, stellt einen Zustand dar, in dem die verfügbaren finanziellen Mittel nicht ausreichen, um eine ausgewogene und damit gesunde Ernährung dauerhaft sicherzustellen. Preisgünstige Lebensmittel enthalten oft viel Energie (Zucker, Fett) aber wenig Mikronährstoffe, während Lebensmittel die reich an Mikronährstoffen sind oft weniger Fett und Zucker enthalten, dafür aber teurer sind. Das Ergebnis ist eine Mangelernährung, die sich oft lange nicht bemerkbar macht. Begünstigt wird diese Entwicklung dadurch, dass das Essen in Schulen, Kliniken und Pflegeheimen ebenfalls krank macht. In diesem Kapitel zeigt der Autor die Missstände auf, die dadurch entstehen, dass auch hier wieder zu wenig finanzielle Mittel in die Hand genommen werden um eine ausreichende und als gesund anerkannte Ernährung für die verschiedenen Gruppen sicherzustellen. An unterschiedlichen Beispielen gelingt es ihm dies bildhaft darzustellen, wobei kritisch anzumerken ist, dass ein Hinweis und möglicherweise auch eine etwas detailliertere Beschreibung der Grundproblematik Mangelernährung und ihrer Erfassung in diesem Kontext hilfreich wäre. Wer einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, in einer großen deutschen Klinik eine leichte Vollkost zu bekommen, der versteht was der Autor meint, wenn er von einer Ernährung spricht, die krank macht. Innerhalb der meist kurzen Aufenthaltszeiten macht diese Ernährung nicht akut krank, vielmehr fördert sie weiter den Zustand der Mangelernährung besonders bei der älteren Bevölkerung. Diese von den großen Fachgesellschaften anerkannten unhaltbaren Zustände sind im Buch nur marginal wiedergegeben. In gewisser Weise gilt dies auch für das folgende Kapitel „Zucker lecken“. Zucker als leerer Energieträger begünstigt die Entwicklung von Übergewicht. Gleiches gilt aber auch für fettes Fast Food oder stärkehaltige Lebensmittel wie Nudeln und Kartoffeln, wenn diese im Übermaß verzehrt werden. Äußeres Zeichen ist in diesem Fall meist das Übergewicht und dabei wird übersehen, dass die betroffenen Kinder eben oft ein so genanntes Doppelbelastungssymptome aufweisen (Übergewicht und Mangelernährung). Der Autor zeigt aber in diesem und in den folgenden Kapiteln ein hohes Maß an Sachkenntnis, welches sich aus seiner vorangehenden Tätigkeit als Geschäftsführer der Organisation Food Watch erklärt, wenn es um die Beschreibung der unterschiedlichen Abhängigkeiten von Lebensmittelindustrie, Branchenverbänden, Politik und auch Wissenschaft geht. Diese Netzwerke, die weniger den Aspekt einer gesunden Ernährung, sondern vielmehr den eines gesunden Verdienstes zum Ziel haben, ziehen sich durch die unterschiedlichsten Bereiche: begonnen bei den Landwirten über die Produktion von Lebensmitteln bis hin zur politischen Entscheidung der Einordnung von Lebensmitteln. Es gelingt dem Autor, diese Netzwerke teilweise an interessanten Beispielen darzustellen und so dem Leser zu vermitteln, warum verschiedene nahe liegende Reaktionen von Politik und Gesetzgeber nicht greifen. Wenn es zum Beispiel um die Herkunftsfrage von Inhalten von Lebensmitteln, wie zum Beispiel die der Erdbeeren in der Erdbeermarmelade geht, gelingen dem Autor amüsante Beschreibungen auf der Suche nach der Herkunft der einzelnen Erdbeere.
Breiten Raum widmet der Autor der Darstellung der Lebensmittelkontrolle und der dafür zuständigen Behörden. Hier werden Missstände aufgedeckt was letztlich auch durch Lobby Arbeit erschwert wird und es wird zurecht die Frage gestellt, warum die Information des Verbrauchers über Lebensmittel, die gesundheitsbedenkliche Bestandteile oder auch chemische Rückstände enthalten, in vielen Fällen schleppend ist. Die manchmal trockne und auch etwas redundante Darstellung wird aufgelockert durch Biografien Einzelner, die sich nicht nur die Information des Verbrauchers zum Lebenszweck gemacht haben, sondern auch solche, die neue Wege gehen, um nicht nur gesunde Nahrung, sondern auch nachhaltige und dem Tierwohl entsprechende zu produzieren. Der Leser erfährt so eine Reihe von neuen Ansätzen, die in der breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich kaum bekannt sein dürften. Martin Rücker deckt die unterschiedlichsten Missstände im Lebensmittelsektor auf und beschreibt auch die Zwänge, denen die Lebensmittelproduzenten unterliegen, wenn es um die Frage Tierwohl oder auch um eine nachhaltige Produktion geht. Der ökonomische Druck, der auf den Lebensmittelproduzenten liegt, zwingt diese dazu Produktionsmethoden zu verwenden, die weder dem Tierwohl noch den Ansprüchen der Verbraucher gerecht werden. Die berechtigte Forderung, dass Lebensmittel einen angemessenen Preis haben müssen, wenn die Kriterien einer artgerechten Haltung bei Tieren und einer auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz ausgelegten Pflanzenproduktion eingehalten werden sollen, muss allerdings die einleitend erörterte Frage der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigen, um das Problem der Ernährungsarmut nicht noch weiter zu verschärfen. In einem abschließenden Kapitel überschrieben mit Revolution: wie eine neue Ernährungspolitik aussehen kann versucht der Autor, auf die in den vorangehenden Kapiteln erhobenen Fragen und dargestellten Missstände Antwort zu finden, wenn es um die Reaktion von Politik und Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf eine gesunde Ernährung geht. Ganz am Ende dann ein bemerkenswerter Epilog: Nachrichten Dealer: warum Journalismus ein Teil des Problems ist. Im Mittelpunkt stehen Aspekte, die der Autor durchaus selbstkritisch darstellt: die Hybris mancher Journalisten zu glauben, dass bereits die kurzfristige Beschäftigung mit einem Thema, in diesem Fall gesunde Ernährung, ausreichend ist, um damit eine kompetente und öffentlichkeitswirksame Aussage zu machen. Es fehlen Zeit, Kenntnisse und auch Verantwortung, wenn es um die schnelle und erfolgreiche Meldung gehen soll, die, so der Pulitzer Preisträger und Journalist Nicholas D. Kristof nach dem Kriterium „Was ist neu und wo ist der Konflikt?“ verfasst wird, wenn sie gelesen werden soll.
Genau dies kann man diesem Buch nicht nachsagen. Martin Rücker ist ein faktenreiches und interessantes Buch gelungen. Er informiert den Leser darüber, wo Ernährungspolitik bisher gezögert beziehungsweise versagt hat und wo die Ursachen für die vielfältigen Probleme liegen. Ein Buch, welches nicht nur für die direkt mit dieser Materie befassten Leser zu empfehlen ist, sondern durchaus auch für den interessierten Laien, der manche Berichterstattung der Medien ebenso wie politische Entscheidungen schwer nachvollziehen kann und auf diese Weise Informationen erhält die sein Verständnis erweitern. (hb) ●
Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski war Lehrstuhlinhaber und bis zu seiner Pensionierung 2018 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim.
biesal@uni-hohenheim.de