Rudolf A. Mark, Händler, Forscher, Invasoren. Russland und Zentralasien 1000-1900, Paderborn: F. Schöningh Verlag 2020, XXI und 587 S., 5 Karten, geb., ISBN 978-3-506-79245-7. € 89,00.
Zentralasien, ansonsten in den Medien selten erwähnt, war aufgrund der Unruhen in Kasachstan wieder einmal für eine kurze Zeit in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Wer sich über die Geschichte dieser Region und ihre Konfliktzonen in einer Langzeitperspektive informieren möchte, sollte zu diesem Buch greifen, das einer der wenigen exzellenten deutschen Kenner des Raumes vorgelegt hat, und sich auch nicht von den rund 500 Seiten abschrecken lassen, denn danach weiß jeder mehr, als er wohl je zum Thema wissen wollte. Rudolf A. Mark, bis zu seiner Emeritierung Professor für Osteuropäische Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, hat sich in den vergangenen rund 15 Jahren intensiv mit Zentralasien und seinen regionalen wie internationalen Verflechtungen befasst. Vor gut zehn Jahren legte er zwei wichtige Bücher zu den deutschen Interessen in diesem Raum zwischen 1871 und den frühen 1920er Jahren vor, die allgemeine Beachtung fanden. Nun präsentiert er einen hervorragend recherchierten Überblick für einen erheblich längeren Zeitraum und rückt das Beziehungsgeflecht zwischen Russland und Zentralasien in den Fokus seiner Studien. Wie so viele, nicht nur geografische Begriffe ist auch „Zentralasien“ (Mittelasien) eine Hilfskonstruktion, denn die Grenzen waren und sind fließend und veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte ebenso wie die politischen und sozioökonomischen Verhältnisse. Staaten im modernen Sinne entstanden je nach Perspektive und Definition entweder im Laufe des 19. Jahrhunderts oder sogar erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zentralasien war jahrhundertelang eine Kontaktzone zwischen Reiternomaden, die in den Steppen von Viehzucht und Raub lebten, und der sesshaften Bevölkerung von Ackerbauern, Händlern und Handwerkern. Solche Kontaktzonen waren und sind nicht nur Umschlagplätze von Waren, sondern auch von Nachrichten und Informationen, beispielsweise darüber, welche Schätze wie Gold und Edelsteine wo zu finden, also zu kaufen waren. Die Grenzen waren ebenso fließend wie die Zentren auf der einen wie der anderen Seite. Zugleich waren und sind solche Regionen Räume kultureller und religiöser Kontakte. Sie reflektieren die wechselseitigen Beziehungen von Nomaden und Sesshaften durch Bündnisse und vor allem durch Tauschbeziehungen. Belastet wurden die Beziehungen durch die auch in diesem Raum betriebene Sklaverei (S.65-71), die das Moskauer Reich durch Loskauf abzumildern suchte. Lange Zeit betrachteten die Moskauer Zaren die Khane Mittelasiens als gleichrangig und ebenbürtig, was sich in den diplomatischen Zeremonien widerspiegelte. Dies änderte sich grundlegend, als die russischen Herrscher an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhunderte ihre Expansions politik verstärkt auf diese Territorien ausrichteten. Die russische Seite forderte nun die Unterwerfung der Khane, die dies grundsätzlich verweigerten, da es jenseits ihres Vorstellungsvermögens lag. So waren und blieben für sie Verträge allenfalls temporär gültig und keinesfalls dauerhaft bindend. Die politischen Kulturen unterschieden sich fundamental.
Rudolf Mark zeichnet dann den im Grunde defensiven Expansionsprozess des Zarenreiches in seinen verschiedenen Phasen nach und weist auf die strategischen Überlegungen hin, die dabei eine Rolle spielten. Wesentlich war dabei vor allem, die offene Flanke Sibiriens nach Innerasien hin abzusichern. Ein weiterer Faktor, der berücksichtigt werden musste, war der britische Expansionsprozess, der von Indien ausging und nach Afghanistan übergriff. Diese imperialistische Rivalität, die schon von Zeitgenossen als „great game“ bezeichnet wurde, war jedoch, wie Mark aufzeigt, eher Einbildung als Realität und fand mit den Verträgen seit 1885 über Afghanistan ein allmähliches Ende. So sehr Marks Ausführungen zu den im Titel angesprochenen „Händlern“ und „Invasoren“ zu überzeugen vermögen, so werden die gleichfalls genannten „Forscher“ doch ein wenig stiefmütterlich behandelt. Wichtige Personen wie Peter Simon Pallas oder Alexander von Humboldt, der ein zentrales Werk über „Zentralasien“ publizierte, werden an drei oder vier Stellen genannt, Zitate sind ausgesprochen selten, die Belege bisweilen fehlerhaft. Über das Leben dieses Personenkreises und ihre Werke und Forschungsreisen erfährt man wenig. So war beispielsweise der schwedische Botaniker Johann Peter Falk (1732–1774), ein Schüler seines bedeutenden
Landsmanns Carl von Linné, nicht nur „Botaniker des medizinisch-botanischen Gartens“ der Petersburger Akademie, sondern an dieser auch Professor der Medizin und Botanik. Während der erwähnten Akademieexpedition (1768–1774) litt er an Depressionen, die schließlich zu seinem Selbstmord in Kazan‘ führten. Da er aus diesen Gründen seine Aufzeichnungen nicht mehr in Buchform bringen konnte, übernahm Johann Gottlieb Georgi, auch er Professor an der St. Petersburger Akademie, diese Aufgabe. Zuschreibungen der Herkunft der Wissenschaftler, wie „der Berliner Professor“ im Falle von Pallas, erwecken den Eindruck, als hätten diese Personen dort eine Professur innegehabt. Dies allerdings trifft fast nie zu. Pallas war gebürtiger Berliner und ist auch in seiner Heimatstadt gestorben, aber Professor war er an der St. Petersburger Akademie und er hat sehr darunter gelitten, dass ihn alle möglichen gelehrten Gesellschaften (z.B. Royal Society und Leopoldina) zum Mitglied beriefen, aber die Akademie seiner Heimatstadt nicht.
Trotz dieser kleineren Mängel ist Rudolf Marks Darstellung ein gelungenes Werk. Es basiert auf der fundierten Auswertung von ungedruckten und gedruckten Quellen und einer stupenden Kenntnis der Forschungsliteratur. Das umfangreiche Literaturverzeichnis umfasst rund 60 Seiten. Hinzu kommen fünf Karten der Region sowie ein Orts- und Personenregister. Im Falle einer Zweitauflage empfehle ich Bilder von Samarkand, Buchara oder Chiva, von den Empfängen der russischen Gesandten/Botschafter vor Ort, von Flüssen, Steppen, Wüsten und Gebirgen, die es leider nicht gibt. Da spart der Verlag offensichtlich an der falschen Stelle. (dd) ●
Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration.
ddahlman@gmx.de