Landeskunde

Geschichte der Türkei

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Maurus Reinkowski: Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart. 496 S., zahlr. sw Karten, Abb. u. Fotos. München: Beck 2021. Geb. mit Lesebändchen u. Schutzumschlag, ISBN 978-3-406-77474-4, € 32,00.

    Nach dem Türkeiband des FAZ-Redakteurs Rainer Hermann aus dem Jahr 2009 liegt nun wieder ein aktueller Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Türkei vor. Mit einem Umfang von fast 500 Seiten, davon etwa 100 Seiten Anmerkungen, wirkt das gut aufgemachte und handliche Buch zunächst recht einschüchternd und verlangt bei näherem Hinschauen auch einiges an Aufmerksamkeit und Lesedisziplin. Einhundert Jahre Republikgeschichte waren zu sichten und zu beschreiben – und tatsächlich ist es Maurus Reinkowski, dem Basler Professor für Islamwissenschaft, gelungen, trotz der zeitweise irrlichternden Züge dieses großen Staatsgebildes im Südosten Europas – die Türkei hat mehr Einwohner als Deutschland und wird in absehbarer Zeit die 100-Millionen-Marke überschreiten – die großen Linien der Entwicklung nachzuzeichnen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – Reinkowski liefert keine Landeskunde, die Aufschluss über Land und Leute gäbe und auf die Natur und Kultur der Türkei einginge, sondern eine politische Geschichte der Republik Türkei seit ihrer Gründung im Jahr 1923 sowie die ihrer Akteure, Kräfte und Strukturen. Außenwie Innen- und Religionspolitik stehen im Mittelpunkt, und wer grundlegendere Informationen zum Land erwartet, geht in dieser Hinsicht leer aus; mag sein, dass der Autor an dieser Stelle zu viel Vorwissen über das Land, das er seit Jahrzehnten beobachtet, voraussetzt. Gut angebracht wären daher einige statistische Kernaussagen zur Republik Türkei, zum Beispiel in Form einer Tabelle am Bandende, die die Bevölkerungs-, Wirtschafts- oder Bildungsdaten kompakt und übersichtlich präsentiert.

    Mit den Übersichtskarten im Vorsatz, den zahlreichen schwarz-weiß-Illustrationen und den aussagekräftigen Karten im Inneren lassen sich die Herausforderungen des Faktischen aber auch so einigermaßen bewältigen. Reinkowski schreibt für den gut informierten, interessierten Laien, und in seinen zahlreichen Anmerkungen legt er nicht nur die Quellen seiner Erkenntnisse offen, sondern bietet dort darüber hinaus auch oft interessante, ja überraschende Einblicke, die über den reinen Verweis hin­ ausgehen. Dass das ausführliche Literaturverzeichnis im Wesentlichen nur deutsch-, englisch- und türkischsprachige Werke aufführt, überrascht etwas – spielt die durchaus vorhandene französische, italienische oder russische Fachliteratur zum Thema überhaupt keine Rolle? Oder sollten die mittelmeerischen und der nördliche Anrainerstaat dazu nichts Erhellendes beizutragen haben?

    Neben dem Faktischen, das Reinkowski flüssig und chronologisch schlüssig darzustellen vermag, bewegt den Autor angesichts des fast hundertjährigen, für den außenstehenden Beobachter immer wieder beunruhigenden Schwankens zwischen Autoritarismus, demokratischem Pluralismus und den in der Vergangenheit beängstigend regelmäßig auftretenden Militärputschen die grundlegendere Frage, wie die Türkei nun eigentlich einzuordnen sei. „Wohin geht die türkische Gesellschaft?“, lautete ein Buchtitel des Jahres 2008, und nun – mehr als ein Jahrzehnt später – vermag auch ­Reinkowski nur vage Hinweise zu geben: die Türkei sei „ein Schlüsselland“, „ein großartiges Land“, aber eben auch „ein schwieriges Land“, ja „ein zerrissenes Land“. Vom Osmanischen Reich löste sich die Republik Türkei unter Verzicht auf die europäischen und arabischen ­Reichsteile in einem schmerzhaften Schrumpfungsprozess, durchlief ein Jahrzehnt des chaotischen Neubeginns, um unter Kemal Mustafa, genannt Atatürk, den Weg eines nationalen, aber auch autoritären Neuanfangs zu beschreiten. Vom Kemalismus mit seiner Hinwendung zum Westen mit grundlegenden Reformen in Schrift, Kleidung, Kalender, Maßen und Gewichten oder Namensgebung und mit einer Analphabetenquote von 85% hin zur Türkei der Gegenwart führt ein keineswegs gradliniger, aber doch insgesamt beachtlicher Aufstieg. Der „anatolische Tiger“ – so Reinkowski – habe zwar nie den gewaltsamen Weg der früheren Militärdiktaturen Südamerikas beschritten, auch nicht den politisch und wirtschaftlich abschüssigen des Iran, Pakistans oder vieler nordafrikanischer Staaten, sei aber nach wie vor von der Dynamik und dem Lebensstandard vieler Staaten Ostasiens weit entfernt. Die Kurdenproblematik, das dem türkischen Staatsverständnis innewohnende „Eingewobensein eines konfessionellen Elements“, des Islam, und die Zypernfrage seien nicht nur für die Türken, sondern auch für das benachbarte Europa eine Nuss, die sich so schnell nicht werde knacken lassen.

    Dass es die Türkei trotz ihrer großen Leistungen nicht geschafft habe, ihren Platz zwischen den Regionen angemessen und eindeutig zu bestimmen, stellt Reinkowski bedauernd immer wieder fest. Es sei nicht nur das Oszillieren zwischen den Extremen der Innenpolitik, sondern auch das Sich-alle-Türen-offen-halten-Wollen der Außenpolitik, das bis heute Ursache für die relative Isolation des Landes sei – auch entstanden aus einem Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

    Der Autor schreckt anders als mancher universitäre Wissenschaftler, der sich aus Angst vor Repressalien für sich und seine Forschung kaum noch mehr zu äußern wagt, vor offenen Worten zu in der Türkei umstrittenen Themen wie Kurdenfrage oder Armeniergenozid nicht zurück und wirft auch Licht auf das Phänomen des „tiefen Staats“, das selbst einem Pragmatiker der Macht wie Erdogan zu schaffen machte.

    Das gut geschriebene, faktenreiche Handbuch ist jedem Interessierten nachdrücklich zu empfehlen. (tk)

    Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

    thkohl@t-online.de

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