Marcia Bjornerud, Zeitbewusstheit – Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Berlin: Matthes & Seitz, 2020, 245 S., 12 Abb., 5 Tabellen, geb., ISBN 978-3-95757-923-2, € 28,00. Übersetzung der US-amerikanischen Originalausgabe von 2018 durch Dirk Höfer.
Das vorliegende Buch basiert auf einer Grundvorlesung der Geologie mit dem Titel „Geschichte der Erde und des Lebens“, in der in elf Wochen 4,4 Milliarden Jahre Erdgeschichte vorgetragen werden. Durch empirische Studien wurde nach Aussage der Verfasserin belegt und von ihr bei der Gestaltung des Textes berücksichtigt, dass die dramatischen Narrative der geologischen Vergangenheit sich perfekt für die menschliche Freude an Geschichten eignen und dass Menschen, die nicht allzu fachspezifische Texte zur Naturgeschichte gelesen haben, weniger anfällig sind für anti-evolutionäre Behauptungen. Eine Absicht der Verfasserin scheint es zu sein, in den Köpfen ihrer Leserinnen und Leser zu verankern, dass die Erde und ihre Kompartimente der Evolution unterliegen. Besonders denkt sie dabei an christlich-evangelikale Studierende, die mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel aufgewachsen sind und deren innere Konflikte sie zu kennen scheint. Sie ist eine im ländlichen Wisconsin der 1960er/1970er-Jahre aufgewachsene Professorin der Geologie, Mutter von drei Söhnen. Ihre Heimat Wisconsin ist der 1848 gegründete 30. Bundesstaat der USA, in den viele Deutsche und Skandinavier einwanderten. Viele sind sich bis heute ihrer Wurzeln bewusst, obwohl sie sich im nordamerikanischen Kulturkreis befinden. Hier im Nordosten des mittleren Westens fanden die Einwanderer eine Landschaft vor, die von der letzten Eiszeit, die in Nordamerika Wisconsin-Eiszeit genannt wird, durch Vergletscherung betroffen war. Beim Abschmelzen des Eises blieben Moränen und erratisches Material zurück. Das heutige Klima eignet sich für Grünland- und Milchwirtschaft, viele der im 19. Jahrhundert für die damalige Landwirtschaft gerodeten Wälder sind längst wieder nachgewachsen.
In den 1980er-Jahren zog es die junge Geologin im Rahmen ihrer Doktorarbeit in die Hocharktis, ins norwegische Svalbard/Spitzbergen, eine Inselgruppe ohne amtliche Zeit. Dort lebte sie für zwei Monate in einer einsamen Hütte in der Tundra. Manchmal überkam sie das Gefühl, im Mittelpunkt eines Kreises zu stehen, gleich weit entfernt von allen ihren vergangenen und zukünftigen Lebensphasen. Die Region und die geologische Orientierung der Verfasserin erzeugten das Bewusstsein, „dass die Welt von der Zeit, oder, besser, aus Zeit gemacht ist“. Sie fühlte, dass um sie herum „Zeitverleugnung“ herrscht, bis zur völligen Unkenntnis der Bedeutung der Zeit. Besser wäre es, meint sie, einem Beispiel der „First Nation“ zu folgen und in Zeiträumen von sieben Generationen zu denken. Das Buch setzt geologisch bei den Grundlagen an, die von Lyell und Darwin gelegt wurden. Das vorwissenschaftliche geologische Denken, das über viele Jahrhunderte auf die Gewinnung von Bodenschätzen, Baumaterial und Wasser gerichtet war, spielt in diesem Buch ebenso wenig eine Rolle wie die heutigen rohstofforientierten Geowissenschaften.
Wie in den „gebildeten Kreisen“ im 19. Jahrhundert über das Alter der Erde gedacht wurde, habe ich aus einem authentischen Dokument entnommen, dem „Illustrierten Kalender“ für das Jahr 1852 (Verlag J.J. Weber, Leipzig). Er enthält eine „Geschichtstafel von der Erschaffung der Welt bis zum Beginn des christlichen Zeitalters“. Der Beginn des ersten Weltjahres, berechnet nach der Bibel, lag danach im Jahr 5871 v. Chr. Für das Jahr 1880 wird noch genauer der 9. Mai 5871 v. Chr. (Julianischer Kalender) als erster Schöpfungstag angegeben. Bis heute wären seit der Erschaffung der Welt 7.892 Jahre vergangen, übersichtliche 263 Generationen von je 30 Jahren. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert war also, so meine ich, nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa, zum Beispiel für die Leserinnen und Leser des „Illustrierten Kalenders“, die Bibel eine der Grundlagen zur Erklärung der Welt.
Das Buch kommt nun zur Entwicklungsgeschichte der Erde. Die Methoden, die zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt haben, werden verständlich dargestellt. Besonderes Gewicht liegt auf physikalischen Datierungen. Am Ende des Kapitels wird das Alter der Erde mit 4.404 Mrd. Jahren angegeben, das 558.000-fache des biblischen Alters von 7.892 Jahren für 2021 (s.o.). Das neue Alter der Erde sind nicht 263 Generationen, sondern 146.800.000 (fiktive) Generationen. Da fühlen wir die zeitliche Tiefe („Tiefenzeit“), die die Verfasserin ihren Leserinnen und Lesern bewusst machen will.
Es folgen Beispiele: Zunächst geht es um die Dauer der Bildung der Meeresböden, die Verschiebung der ozeanischen und kontinentalen Erdkruste, die Hebung und Abtragung der Gebirge, Gesteinskreisläufe, den Kohlenstoffkreislauf, Erdbeben und Hinweise auf viele neue Entdeckungen der vergangenen Jahrzehnte. So besteht der Himalaya seit 55 Millionen Jahren. Der Subkontinent Indien legte vor der Bildung dieses Gebirges in 30 Millionen Jahren 2.500 Kilometer zurück, bevor er vor 55 Millionen Jahren auf Asien traf und den Vorgang der Gebirgsbildung initiierte. Die Hebungsrate beträgt heute zwei Millimeter pro Jahr und die tektonische Konvergenz der Platten von Indien und Asien etwa zwei Zentimeter pro Jahr.
In der Zusammenfassung des Kapitels schreibt die Autorin: „Der beharrliche Glaube des neunzehnten Jahrhunderts, dass die Erde sich nur langsam ändert, hat uns eingelullt und zu der Annahme verleitet, sie sei unempfindlich und ewig und dass nichts, was wir tun, sie nachhaltig verändern würde.“ Aber: „Die Erde wird indessen mit langsamen Reparaturen fortfahren, unterbrochen von jähen Erneuerungsvorgängen, die auch noch unsere stolzesten Konstruktionen abräumen werden.“
Wie alle Kapitel vorher wird auch das nächste Kapitel autobiografisch eingeleitet. Bei einer Rückkehr nach Spitzbergen, 20 Jahre später, fühlte sie, wie viel die vergangene Zeit verändert hat, und doch lagen die Steine zur Fixierung des Kochzeltes noch da, wo sie zurückgeblieben waren. Nur die Gletscherzungen befanden sich weiter oben in den Tälern. Die schmelzenden Gletscher sind die Überleitung zum Thema „Atmosphäre“, deren Entwicklungsgeschichte zusammen mit den Untersuchungsmethoden dargestellt wird. Eingeleitet mit der Geschichte, wie die Verfasserin einen wunderschönen Kristall im Pegmatit mit dem Geologenhammer zerschlug, schreibt sie: „Und ich sah, dass ich in einer habgierigen Sekunde leichthin eine Herrlichkeit zerstört hatte, die ein Drittel der Erdgeschichte – nahezu die gesamte langweilige Milliarde, die Schneeball-Erde, die Entstehung der Tiere, die großen Massenaussterben, die Auffaltung der Rockies – miterlebt hatte.“ Das ist die Vorbereitung auf die Befassung mit dem Begriff „Anthropozän“, der 2002 von Paul Crutzen geprägt wurde. „ … in einer habgierigen Sekunde“ vermittelt uns ihr Schuldgefühl, das übertragen wird auf die durch Menschen bewirkten Veränderungen wie: Zunahme der Erosion und Sedimentation, Anstieg des Meeresspiegels, die beginnende Versauerung der Ozeane, die gestiegenen Aussterberaten, die Zunahme von Kohlenstoffdioxid und Methan in der Atmosphäre. Sie sieht das als Schuld vergangener Generationen und wohl auch als ihre Schuld gegenüber zukünftigen Generationen.
Umweltveränderungen können schnell erfolgen, wenn sie Wetter und Klima betreffen. Das hat Folgen für die menschlichen Zivilisationen. Sie wählt als Beispiel den Dreißigjährigen Krieg, der in eine klimatisch ungünstige Phase fiel. Aber das ist nur ein deterministischer, wenn auch populärer Erklärungsversuch komplexer gesellschaftlicher Vorgänge der Vergangenheit, ein Abstecher in ein unsicheres Territorium.
Anschließend wendet sich die Verfasserin dem Quartär zu. Ergebnisse der Untersuchung von Tiefsee- und Eisbohrkernen lassen erkennen, dass es in 2,6 Millionen Jahren nicht drei oder vier, sondern etwa 30 Kaltzeiten gegeben hat. Dahinter stehen u.a. zyklische Änderungen der Umlaufbahn der Erde um die Sonne, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts berechnet wurden. Die Bohrungen haben geologische Archive erschlossen, die Klimaänderungen über Millionen Jahre dokumentieren. Die Überlieferung thermisch auswertbarer Mikroorganismen in Meeressedimenten und klimarelevanter Gase, die im Eis eingeschlossen sind, zeigen, als Linien dargestellt, asymmetrische Sägezahn-geometrie, die für lange Abkühlungsperioden und kurze plötzliche Erwärmungsphasen stehen. Als Ursache werden Veränderungen der Kohlendioxid- und Methan-Gehalte der Atmosphäre genannt. Im Pleistozän waren die Kohlendioxidwerte der Atmosphäre niemals höher als 400 ppm, schreibt sie. Diese Marke wurde 2015 überschritten. Als Hauptursache der Zunahme wird die Gewinnung von Energie aus fossilen Brennstoffen genannt, die zu Erwärmung und weiteren sekundären Folgen führt. Die Autorin hält es für möglich, dass nun ein Ereignis folgen könnte wie das Paläozän-/Eozän-Temperaturmaximum vor 55 Millionen Jahren. Ein plötzlicher globaler Temperaturanstieg um mehr als 5°C mit einer sprunghaften Versauerung der Ozeane, mit hohen Kohlenstoffeinträgen biogenen Ursprungs, mit Populationseinbußen bei Planktonarten und mit dem Verschwinden benthischer Foraminiferen. Auf dem Festland könnten sich wärmere und trockenere Bedingungen einstellen, was zum Aussterben von einem Fünftel der Pflanzenarten führen könnte. Als Ursachen für die Veränderungen vor 55 Millionen Jahren werden von ihr die Verbrennung von Kohle- oder Torfflözen, Vulkanismus oder die plötzliche Freisetzung von Methanhydrat aus Ablagerungen auf dem Meeresboden genannt. Hierzu merke ich an: Das globale Klima im Quartär hat nach der Untersuchung von Tiefseebohrkernen etwa 100 starke Schwankungen erlebt. Die Ausschläge gingen etwa 50-mal zur kalten und 50-mal zur warmen Seite. Das heutige Maximum wäre in Bohrkernen, wegen seiner noch kurzen Dauer, kaum sicher messbar. Ein Rückblick auf die direkte Vergangenheit, also auf die letzten 3 Millionen Jahre, zeigt, dass sich der Ausstoß von Kohlendioxid und Methan durch menschliche Aktivitäten stark verändert hat. Andere geologische Bedingungen sind aber gleichgeblieben. Kein Zweifel, der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen muss stark zurückgeführt werden! Aber 18.000 Jahre nach dem Hochglazial liegt das Ende der Wisconsin-/ Weichsel-/Würm-Kaltzeit, zu der das Holozän als Warmzeit gehört, näher als das 55 Millionen Jahre entfernte Ereignis. Langfristige mittlere Temperaturen des wärmsten Monats von etwa 20°C hat es im nordwestlichen Mitteleuropa fast 30-mal in den vergangenen 2,6 Millionen Jahren gegeben. Am Niederrhein und der Maas war das Erreichen des langjährigen Mittelwertes des wärmsten Monats von knapp 20°C das Signal für die klimatische Wende von Warmzeiten zu den folgenden Kaltzeiten. Diese Aussage geht auf die Bestimmung und Auszählung fossiler Pollen in Sedimenten zurück, mit denen die mittlere Temperatur des wärmsten Monats bestimmt wurde (Zagwijn, W. 1985, 1998). Die Übergänge vollziehen sich relativ schnell, benötigten aber doch mehrere bis viele Generationen. Wie viel von dieser Übergangszeit schon vergangen ist, wissen wir nicht. Was auf uns zukommt, muss also nicht eine Wiederholung des Geschehens von vor 55 Millionen Jahren sein, aber das macht die langfristigen Perspektiven nicht besser.
Als Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase wird genannt: Die Abscheidung von 80 bis 90 Prozent des Kohlenstoffs bei der Energiegewinnung. Direkte Entnahme des Kohlendioxids aus der Luft durch natürliche oder künstliche Bäume oder die Behandlung der Atmosphäre mit Sulfat. In diesem Zusammenhang wird „global Management“ pessimistisch betrachtet.
Das letzte Kapitel lässt sich mit zwei Zitaten zusammenfassen: „In etwa 80.000 Jahren wird die Erde einen Punkt in ihrem Milankovic-Exzentrizitätszyklus erreicht haben, an dem eine neue Eiszeit eintreten könnte.“ „Wenn die menschengemachte Kohlenstoffemission nicht deutlich gedrosselt und starke Rückkopplungsmechanismen im Klimasystem aktiviert worden sind, könnte die Erde wie an der Wende vom Paläozän zum Eozän ein neuerliches Temperaturmaximum erleben. Der Meeresspiegel könnte um mehrere Meter steigen und weltweit würden viele der bevölkerungsreichsten Städte überflutet. Veränderte Wetterverhältnisse – heftige Stürme, längere und stärkere Dürren – würden die weltweite Nahrungsmittelproduktion belasten.“
Das Buch von Marcia Bjornerud ist ein geraffter Überblick über die Geschichte der Erde und des Lebens, eine Erzählung über 4,4 Milliarden Jahre mit vielen Literaturhinweisen. Damit könnte man ein Examen sehr erfolgreich bestreiten und stünde auch als Nichtgeologe auf sicherem Grund.
Vermittelt wird, dass sich der Blaue Planet entwickelt hat und dynamisch weiterentwickelt. Schnell veränderlich sind die Atmosphäre und das Wasser auf dem Festland und im Meer. An empfindlichen Stellen greift die menschliche Zivilisation mit der Gewinnung von Rohstoffen und der „Entsorgung“ von Abfällen, Abprodukten und gasförmigen Emissionen ein. Bei der Zunahme der Erdbevölkerung ist die Überschreitung kritischer Grenzwerte und die Veränderung von Prozessabläufen im „System Erde“ abzusehen.
Das Buch schafft ein Gefühl für zeitliche Tiefe und Verantwortung. Es befasst sich auch mit der „Rettung der Welt“, die aber, wenn überhaupt, ein Gemeinschaftswerk vieler Kulturen sein wird.
Das System Erde mit seinen Subsystemen wird sich verändern, so wie sich die gewaltige Natur schon immer verhalten hat, ganz ohne Absicht, Emotion und Moral. (jp)
Univ.-Prof. Dr. Johannes Preuß (jp) war von 1991 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2011 Professor für angewandte Physische Geographie am Geographischen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Von 2000–2009 war er Vizepräsident für Forschung.
jpreuss@uni-mainz.de