Kinder- und Jugendbuch

Gerechtigkeit, Recht, Unrecht

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2019

„Das ist ungerecht!“ Es gibt wohl kaum einen Vorwurf, den Erwachsene öfter von Kindern zu hören bekommen; denn nichts verletzt sie mehr, als wenn sie sich übervorteilt sehen. Aber was ist gerecht? Wenn jeder gleichbehandelt wird? Oder wenn es nach Leistungen geht? Oder Bedürfnissen? Und wie sehen Gerechtigkeit, Recht und Unrecht im größeren gesellschaftlichen Rahmen aus? Die Grundrechte, Emanzipation und Gleichberechtigung sind auch in unseren westlichen Ländern erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erreicht worden, die allgemeinen Menschenrechte sind gerade einmal 70, das Frauenwahlrecht 100 Jahre alt geworden. Diese Themen sind auch in vielfältiger Form von der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur aufgegriffen worden.

Wie teilt man drei Pilze unter zwei Freunden? Jörg Mühle hat sich dazu eine einfache Bilderbuchgeschichte ausgedacht: Zwei für mich, einer für dich. Da Bär und Wiesel ungleiche Partner sind, beansprucht der Bär gleich zwei Pilze für sich, denn er ist groß und muss viel essen. Aber Wiesel ist nicht auf den Mund gefallen: Ist es doch klein und muss noch wachsen. Aber Bär hat die Pilze gefunden, Wiesel hat sie zubereitet. Es kommt zum heftigen Wortwechsel, bis sich der schlaue Fuchs heranschleicht und den dritten Pilz verspeist. So bleibt die gerechte Lösung offen. Anheimelnd präsentiert sich zunächst die altmodisch eingerichtete Waldküche, bis unversehens alles in Unordnung gerät. Nicht nur die handgemalten Buchstaben des Textes purzeln wild durcheinander, auch die Stühle und Baumstämme nehmen eine bedrohliche Schieflage ein und das karierte Tischtuch wirft hohe Wellen. Wie ein spannender Film tobt der Krieg zwischen den Freunden und mündet in eine Endlos-Schleife der Gerechtigkeitsfrage, als der Nachtisch, nämlich drei Erdbeeren, ins Bild rückt.

 In Nein, wie ungerecht geht es um ein ähnlich verzwicktes Teilungsproblem. Eine siebenköpfige Kindergesellschaft diskutiert weitaus manierlicher als Bär und Wiesel um ein letztes Stück Erdbeertorte. Hier gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Argument. Teilt man das Stück in sieben Teile? Dann hat doch niemand etwas davon! Gilt für das Geburtstagskind ein Vorrecht oder für diejenige, die sich beim Backen verdient gemacht hat? Lars darf zu Hause nie etwas Süßes essen, so beansprucht er das letzte Stück für sich. Das Bilderbuch spielt diese und weitere Optionen durch. Aber auch hier fährt ein unbefangener, vierbeiniger Gewinner dazwischen, so dass die Leser zu einer eigenen Meinung aufgefordert werden. Der Text stammt aus der Feder einer erfahrenen Richterin, die einen abstrakten Gerechtigkeitsbegriff überzeugend in die Erfahrungswelt von Kindern überführt. Zwischen den ganzseitigen, farblich verhaltenen und doch suggestiven Aquarellen aus der Hand der Autorin selbst fällt besonders die Spiegelung eines Stilllebens auf. Denn es ist letztlich die Perspektive, die unser Urteil prägt.

 Während sich diese beiden Bücher ganz auf eine private Sphäre konzentrieren, geht es in Der Bus der Rosa Parks, einem Bilderbuch, das bereits 2011 in Italien erschien, um politische Diskriminierung, genauer um die Rassentrennung in den U. S. A. der 1950er Jahre. Bens Großvater war jung, als er in Alabama in demselben Bus saß, in dem eine Schwarze, nämlich Rosa Parks, sich weigerte, ihren Platz für einen weißen Mitfahrer freizugeben. Da sich ein junger Pfarrer und Anwalt später in diesen Fall einmischte, er hieß Martin Luther King, bedeutete Rosa Parks Widerstand auch das Ende der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Henry-Ford-Museum ist dieser Bus noch heute zu besichtigen. Hier erzählt der Großvater seinem Enkel als Zeitzeuge von dem mutigen Auftreten Rosa Parks und seiner eigenen Feigheit als schweigender Zuschauer. Großformatige Illustrationen begleiten diese Lektion über Widerstandsrecht und versetzen uns durch ihre Nähe zum amerikanischen Fotorealismus unmittelbar in die Heimat Rosa Parks. Sie bieten ungewöhnliche Perspektiven und sind durch einen abrupten Wechsel von Nahaufnahme und Weitwinkel gekennzeichnet.

Noch weiter in die Geschichte zurück und in die von den Deutschen besetzten Niederlande führt uns Martine Letteries Erzählungen Kinder mit Stern, das Ende Februar im Carlsen Verlag erscheint. Alternierend und in kurzen, chronologisch geordneten Episoden zeichnet die Autorin das Schicksal von sechs jüdischen Kindern nach, die mit ihren Eltern in das Konzentrationslager Westerbork deportiert wurden, bei Fremden ein Versteck fanden oder sich durch Flucht ins Ausland retten konnten. Anfangs erfahren diese Kinder die schmerzliche Ausgrenzung aus dem öffentlichen Raum, aus den Schulen, von den Spielplätzen, den Parks und aus den öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine bittere Entrechtung gipfelt darin, dass Rosa ab ihrem 6. Geburtstag den Judenstern tragen muss. Die Autorin erzählt schlicht, lässt die Fakten, die auf Erzählungen betroffener Kinder beruhen, für sich sprechen. Diese Lektüre und die anrührenden Aquarelle müssen jedes Kinderherz empören.

Vorwiegend an weibliche Leser richtet sich 100 Frauen und 100 Jahre Frauenwahlrecht. Repräsentantinnen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Sport, deren Portraits in Text und Bild jeweils eine Doppelseite einnehmen, erinnern uns an den deutschen Weg der Frauenemanzipation seit der Erringung des allgemeinen Wahlrechts 1918. Die Herausgeberinnen haben ganz unterschiedliche Frauengestalten wie Ingeborg Bachmann, Angela Merkel, Alice Schwarzer oder die Punksängerin Nico ausgewählt. Während die Kurzbiographien alle aus der Feder Nicola Stuarts stammen, haben 65 verschiedene Illustratorinnen die ganzseitigen Portraits der Frauen gestaltet. Sie geben jeder eine einzigartige Präsenz. Zwar richtet sich das Buch an Erwachsene, doch dürften die Illustrationen, die knappen Texte mit einem jeweils drucktechnisch auffälligen Zitat als sehr ansprechendes Layout auch medial verwöhnte Augen junger Menschen fesseln. Die Möglichkeit „portionsweise“ zu lesen, kommt jugendlichen Lesegewohnheiten ebenfalls entgegen.

Dr. Barbara von Korff Schmising arbeitet als Rezensentin und Publizistin überwiegend im Bereich Kinder- und Jugenliteratur. Sie ist als Referentin in der Erwachsenenbildung tätig und hat 25 Jahre lang die „Silberne Feder“, den Kinder- und Jugendbuchpreis des Dt. Ärztinnenbundes geleitet.

bschmising@gmx.de

 

 

Heilwig von Massow: Nein, wie ungerecht! Hassmersheim 2017, Friedrich-Märker-Verlag, 27 Seiten, 9,98 €, ab 6

 

Fabrizio Silei (Text): Maurizio A.C. Quarello (Ill.): Der Bus von Rosa Parks, aus dem Ital. von Sarah Pasqay, mit einem Geleitwort von Amnesty International, Berlin 2015, Verlagshaus Jacoby&Stuart, 40 Seiten, 14,95 €, ab 10

 

Martine Letterie: Kinder mit Stern, aus dem Niederl. von Andrea Kluitman, mit Bildern von Julie Völk, Hamburg 2019, Carlsen Verlag, 128 Seiten, 11,40 €, ab 10

 

Nicola T. Stuart: 100 Frauen und 100 Jahre Frauenwahlrecht, (hrsg. von Sabine Kranz, Annegret Ritter), Berlin 2018, Verlagshaus Jacoby&Stuart, 192 Seiten, 22,00 €, ab 12

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