Landeskunde

Geopolitik und die Unmöglichkeit, China den Rücken zu kehren

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Der ursprünglich im Hannoverschen Volksblatt erschienene plattdeutsche Schwank vom Hasen und Igel, den die Brüder Grimm in ihre Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ aufgenommen haben, beginnt mit der für Märchen ungewöhnlichen selbstironischen, den Großvater zitierenden Einleitung: „Disse Geschicht is lögenhaft to vertellen, Jungens, aver wahr is se doch! … Wahr muß sie doch sein, mein Junge, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.“ Wahr ist auch, dass von China inzwischen gesagt wird, es werde wie der Igel immer schon angekommen sein – und nun versucht sich „der Westen“ warmzulaufen, dies zu v ­erhindern und will dem Igel den Weg abschneiden, obwohl vielleicht gar nicht wahr ist, dass China die Welt beherrschen will.

Vielleicht ist vielmehr wahr, dass der Westen mit der Eindämmung Chinas lediglich die eigene Ahnung niederkämpft, das Modell des Westens tauge vielleicht doch nicht zur Segnung für die Welt. Statt aber nun den Gedanken zuzulassen, es könnte vielleicht doch auch andere Formen der Moderne, andere Weisen des guten Lebens auf der Erde geben als jene, die in Westeuropa und dann mehr und mehr in vielen Teilen der Welt sich durchgesetzt haben, ohne tatsächlich zum Segen für die Mehrheit der Menschheit zu gereichen, wird inzwischen die Bewaffnung und Militarisierung der Welt vorangetrieben, um das zu sichern, was der Westen auf Kosten eines großen Teils der Menschheit als seine Moderne propagiert. In diesem Zusammenhang spricht man inzwischen sogar von einer Zeitenwende, von einer neuen Weltlage, einer geo­ politischen Verschiebung – auch wenn die meisten dabei ratlos bleiben und das Gefühl aufkommt, die systemischen Altund Neulasten seien so verwickelt, dass wir uns in einer Art Blindflug befinden. Auch das Wort von den Schlafwandlern, welches lange dem Vorabend des Ersten Weltkrieges vorbehalten schien, macht wieder die Runde. Vielleicht ist diese allgemeine Verunsicherung der Grund dafür, dass so viele Bücher über China erscheinen, die sich oft wiederholen und die man daher links liegen lassen könnte und die dann doch oft wichtige Aspekte beleuchten und weitere Aufmerksamkeit für China einfordern.

Wie also sollen wir die gegenwärtigen Positionen der Mächte dieser Welt beschreiben? Um es vorweg zu nehmen: man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es an ernsthaften Positionen fehlt, die man nebeneinander legen könnte, um dann in Verhandlungen für eine neue Weltfriedensordnung einzutreten oder gar für eine Weltwohlstands- oder Weltkrisenbewältigungsordnung. Immerhin finden sich Ansätze hierzu, etwa in der genau seit einhundert Jahren erscheinenden Zeitschrift Foreign Affairs. Angesichts der allgemeinen Verunsicherung erklärt es sich auch, dass der derzeitige Konflikt in Europa nicht als eine Angelegenheit der alten europäischen Imperien und Flügelmächte Europas, also Russlands und der Vereinigten Staaten betrachtet wird, sondern mit dem Blick nach China wird er mit der Frage verknüpft, welche Ordnung in der Zukunft global befolgt werden soll, obwohl doch eigentlich auf der Hand liegt, dass die zukünftige Weltordnung mit allen Beteiligten verhandelt und nicht von einer sich als Modell der Moderne verstehenden einzelnen Weltmacht dekretiert werden kann. Bezeichnend war da die Abstimmung am 2. März 2022 in der UNO-Vollversammlung, bei der bei 5 Nein-Stimmen die meisten Länder Russlands Einmarsch in die Ukraine verurteilten, sich aber immerhin 35 Länder der Stimme enthielten, darunter China und Indien. Damit ist der globale Süden angesprochen. Wohin nun geht die Reise? Ist die jetzt beschworene Zeitenwende so etwas wie die Verwandlung der globalen Politik von einer Raupe in einen Schmetterling – dann könnte man von der Wissenschaft erwarten, dass sie Gesetzmäßigkeiten kennt oder zumindest zu ergründen sucht. Oder ist es eine Verwandlung der Welt, die nicht von uns Menschen gestaltet wird, sondern uns überrascht und für deren Ausgang, den wir ja auch noch nicht kennen, dann auch keiner mehr verantwortlich sein wird? Haben wir aber nicht doch die Wahl – und auch Mitverantwortung? Wie also sehen die möglichen Schmetterlinge in der Internationalen Ordnung aus, die sich entpuppen in dieser Zeitenwende? Und welche Rolle spielt da der globale Süden?

Das interessiert die Sinologie, aber auch die Frühneuzeitforschung, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer auch auf den globalen Süden geschaut haben. Darauf kann hier nur verwiesen werden, da diese Forschungsbemühungen die prinzipielle Unabgeschlossenheit alles Geschehens verdeutlichen, was auch für die gegenwärtig bevorzugten China-Themen gilt: Taiwan, Hongkong und Xinjiang. Eines ist sicher, dass China in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Facetten hat und es daher viele Chinabilder gibt. Daher besteht China-Kompetenz vor allem in der Fähigkeit zum Perspektivwechsel, um zu Differentialdiagnosen zu kommen und sich nicht durch eine einzige Facette blenden zu lassen. Denn ebenso wie die europäische Geschichte nur unter Berücksichtigung der historischen Dimensionen zu verstehen ist, gilt dies auch für China.

Panoptikum Sinensis

Giulia Ziggiotti, China. Der illustrierte Guide.München: Prestel 2021. 217 S., Hardcover. ISBN 978-3-7913-8749-9. € 24,00.


    Cordula Bischoff und Petra Kuhlmann-Hodick. La Chine. Die China-Sammlung des 18. Jahrhunderts im Dresdner Kupferstich-Kabinett. Dresden: Sandstein-Verlag 2021. 255 S., Softcover. ISBN 978-3-95498-628-6. € 38,00.

      Einen ersten eher kurzweiligen Einstieg zu solcher China-Kompetenz ermöglicht die Lektüre eines hundert Themen aufgreifenden illustrierten China-Führers verbunden mit einem Besuch der Dresdner Chinasammlungen aus dem 18. Jahrhundert. Giulia Ziggiotti gibt zahlreiche praktische Hinweise zur Vorbereitung einer ausgiebigen Chinareise, und wer sich einige chinesische Ausdrücke und Schriftzeichen einprägen möchte, findet in dem Buch ein umsichtiges Programm. Solange die pandemiebedingten Reise- und Quarantäne-Bestimmungen noch gelten, kann man den Blick aus der Gegenwart in jene Vergangenheit ausdehnen, als sich der Dresdner Hof unter August dem Starken wie vielleicht im 17. und 18. Jahrhundert sonst nur noch London, Paris und St. Petersburg für China interessierte und zum deutschen Zentrum der Chinamode wurde. Dies dokumentiert der Katalog zu einer Ausstellung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts in geradezu üppiger Weise, Architektur-, Pflanzen- und Tierdarstellungen ebenso enthaltend wie Erotika und von europäischen Künstlern gefertigte Chinabilder.

      Zwei Menschenleben

      Martin Gimm, P. Johann Adam Schall von Bell S.J. und die Geheimakten zum Gerichtsprozeß der Jahre 1664-1665 in China. Wiesbaden: Harrassowitz 2021. 468 S., Hardcover. ISBN 978-3-447-11673-2. € 98,00.


        Christine Maiwald, Das schwierige schöne Leben. Ein deutscher Kaufmann in Shanghai 1906 bis 1952. München: Dölling und Gallitz Verlag 2021. 670 S., Hardcover. ISBN 978-3-86218-147-6. € 29,90.

          Einen Blick in die Welt der chinesischen Gerichtsbarkeit und die komplexe Innenpolitik in der Frühzeit der Mandschu-Dynastie wirft Martin Gimm mit einer Analyse der Geheimakten zum Gerichtsprozess gegen den Jesuitenpater Johann Adam Schall. Es waren ja nicht die religiösen Überzeugungen, sondern die astronomischen Kenntnisse und die technischen Gerätschaften der Jesuiten, die 1656 und 1657 zu den ganz ungewöhnlichen etwa 24-mal wiederholten Besuchen des damals 18-jährigen Kaisers in Haus und Kirche des 65-jährigen P. Schall führten (S.83). Im Vordergrund stand das Interesse des jungen Herrschers an dem Fremden und Neuen, das die jesuitischen Missionare seit Jahrzehnten aus dem fernen Westen nach China brachten. Überaus erhellend ist nun, wie die chinesischen Hofastronomen gegen ihre Konkurrenten aus dem Westen unter Hinweis auf die Werte Chinas eine Abschottung gegenüber dem neuen Wissen zu erwirken suchten – und zunächst erfolglos blieben. Schall wird in einem weit verbreiteten Traktat des Yang Guangxian (1597–1669) als Anhänger Jesu und dieser als Rädelsführer und betrügerischer Bandit aus Judäa dargestellt. Er sei zur Zeit der vorhergehenden Dynastie heimlich unter dem Vorwand des Kalendermachens nach China gekommen, um seine häretische Propaganda zu betreiben. Gegen die befürchtete Bekehrung des Kaisers zum Christentum polemisierten auch andere, insbesondere buddhistische Kreise. Tatsächlich hielt Schall eine Bekehrung des Kaisers zum Christentum für eine realistische Perspektive. (S. 89) Doch keine zehn Jahre nach den intensiven Kontakten des Kaisers mit Adam Schall wurde diesem in den Jahren 1664 und 1665 wegen seiner missionarischen Absichten, vor allem aber wegen seines Wirkens im AstronomieAmt und wegen seiner Verunglimpfung geomantischen Wissens der Prozess gemacht. Schall war ja von Rom aus zur Auflage gemacht worden, sich von abergläubischen Praktiken fernzuhalten, was zum Vorwurf der Missachtung praktizierter chinesischer Lehren und damit verbundener Praxis führte. – Ganz anders verlief die Biografie eines deutschen Kaufmanns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dennoch finden sich manche Parallelen. Die von seiner Nichte Christine Maiwald vorzüglich recherchierte und anschaulich geschriebene Biografie des Bremer Händlers Hermann W. Breuer spiegelt die deutschchinesischen Wirtschaftsbeziehungen im Allgemeinen, illustriert dies aber anhand der Erfahrungen dieses in besonderer Weise richtungsweisenden großen Kaufmanns und seinen spezifischen Haltungen, weswegen er an einer Stelle charakterisiert wird als „Arbeiter für die Sache des Austauschs und ein gentleman“. Das Buch würdigt nicht nur den für den Ostasiatischen Verein (OAV) in Bremen prägenden Kaufmann, sondern lässt einen teilnehmen an den besonderen Verhältnisse im Shanghai der Republikzeit und während des Übergangs in die Zeit der Volksrepublik. Es ist im besten Sinne ein Erfahrungsbericht und eine Dokumentation, die viele blinde Flecken im allgemeinen Chinabild aufzuhellen vermag. Zugleich schildert sie die Haltung eines „Brückenbauers“, der bei allem Streben nach Menschlichkeit in Gesellschaftsstrukturen bewusst nicht eingreift, nach dem Motto »Politik haben wir uns verboten« (S. 17) – übrigens ein Satz, der noch die Haltung der deutschen Handelspolitik bis in die Zeit vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Peking vor fünfzig Jahren prägte.

          Eurasiens Neuvermessung

          Johannes Reckel, Merle Schatz, Fliegende Hirsche und Sonnengötter. Prähistorische Gesellschaften in ­Felsbildern Zentralasiens. Oppenheim: ­Nünnerich-Asmus Verlag 2022. 400 S. mit 264 Abb., 6 Karten und 3 Skizzen, Hardcover. ISBN 978-3-96176-183-8. € 45,00.


            Thomas O. Höllmann, China und die Seidenstraße. ­Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. München: C.H.Beck 2022. 454 S., Hardcover. ISBN 978-3-406-78166-7. € 34,00.

              Uwe Behrens, Der Umbau der Welt. Wohin führt die Neue Seidenstraße? Berlin: Eulenspiegel ­Verlagsgruppe 2022. 253 S., Paperback. ISBN 978-3-360-02804-4. € 18,00.

                Rainer Feldbacher, Netzwerk Seidenstraße. ­Brücke zwischen Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart. Darm ­ stadt: wbg 2022. 120 S., Hardcover. ISBN 978-3-8053-5360-1. € 38,00.

                  Auch wenn viele Europäer trotz langer Aufenthalte in China am Rande blieben, so steigerte sich die Distanziertheit noch, wenn sie sich selbst geografisch an die Ränder Chinas begaben oder sich mit diesen wissenschaftlich befassten. Dabei war der Blick noch Nordwesten immer von besonderem Interesse, weil dorthin, entlang der Verkehrswege in den fernen Westen, vorbei an der Wüste Taklamakan, seit Menschengedenken die chinesische Kultur Verbindungen pflegte. Dies und die Frage nach der Herkunft der chinesischen Kultur rechtfertigt es, an dieser Stelle auf eine reich bebilderte Darstellung der prähistorischen Gesellschaften Zentralasiens aus der Feder von Johannes Reckel und Merle Schatz hinzuweisen. Ausgehend von in dem Fachinformationsdienst (FID) Zentralasien und Sibirien an der Universität Göttingen vorgehaltenen Informationen haben die Autoren auf der Suche nach den „Menschen in der zentralasiatischen Felskunst“ Fundstücke zusammengetragen und in ausführlichen Texten (englisch und deutsch) erläutert. Dabei werden Bezüge bis in die Gegenwart sichtbar, etwa in der 4000 Jahre alten Darstellung eines Sonnengottes, die im gegenwärtigen Kirgistan als Symbol eines modernen Staates dient. In der „Felskunst“/„Rock Art“, seit 50.000 Jahren Ausdrucksform des Menschen, werden nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Gerätschaften wie zwei- oder mehrrädrige Wagen, Waffen und vieles mehr dargestellt. Sie lassen sich einzelnen Stilen und lokalen Kulturen zuordnen, und sie zeugen alle von der Präsenz und Vielfalt menschlicher Kultur in jenen Weltgegenden, die heute eher als Konfliktzonen denn als Kulturlandschaften eine Rolle spielen. Auch deswegen ist der Band so zu empfehlen, weil er den Betrachter nicht nur mit den weiten Landschaften Zentralasiens, sondern mit den dort erhaltenen menschlichen Spuren aus „grauer Vorzeit“ vertraut macht. Dass dieses Buch nicht ohne die Anstrengungen und man darf wohl auch sagen: die Obsession eines Wissenschaftlers und Forschungsreisenden entstanden wäre, offenbart der „Auf großer Fahrt“/„On the Road“ überschriebene Schlussteil (S. 382 ff.), in dem Johannes Reckel sein seit mehr als 35 Jahren betriebenes Streifen durch Zentralasien beschreibt und davon spricht, wie man „als einzelner Fremdling in den Weiten Zentralasiens“ Demut lernt. (S. 384) Nicht nur die Gegenden Zentralasiens, sondern auch die weiter reichenden Handelswege hat Thomas O. Höllmann zum Gegenstand seines zu Recht bereits von vielen Seiten gepriesenen Buches über „China und die Seidenstraße“ gemacht. Nach ausführlicher Skizzierung des historischen und geographische Rahmens beschäftigt sich das Buch mit der „Verbreitung von Religionen“, mit „Tribut und Handel“, oft auf einzelne Epochen und Ereignisse konzentriert, ohne den Zusammenhang aus dem Blick zu lassen, und abschließend mit „Transfer und Transformation“, fokussiert auf das 16. bis 18. Jahrhundert. Dort werden mit der Schrift, dem Papier, dem Buchdruck sowie mit Kompass, Karte und Kanone jene Kulturerrungenschaften Chinas und ihr Einfluss auf Westeuropa adressiert, die seither in Vergleichen zwischen Europa und China als dem „Europa des Ostens“ oft genannt werden. Diese Schilderung der Seidenstraße der Vergangenheit bildet einen Kontrast zu den neuen Visionen einer von China verfolgten Seidenstraßen-Initiative. Eine lesenswerte Darstellung dieses Projektes ist die Darstellung des chinaerfahrenen Logistikers Uwe Behrens, der in der neuen Seidenstraßen-Initiative einen friedlichen „Umbau der Welt“ sieht, ohne die Gefährdungen zu übersehen, denen dieses Projekt ganz sicher weiterhin ausgesetzt ist. Diesen Betrachtungen kann man mit Gewinn das auf Wahrnehmung des ganzen Raumes, auf das „Netzwerk Seidenstraße“ gerichtete reich bebilderte Panorama von Rainer Feldbacher zu Seite stellen. Dies Buch veranschaulicht, wie die Wege zwischen China und Westeuropa seit Jahrtausenden – und wohl auch weiterhin – eine Rolle spielen, deren Landschaften und Menschen im Bestand unserer geistigen Landkarten noch stärker als bisher repräsentiert werden sollten.

                  Hase oder Igel

                  Katrin Suder, Jan F. Kallmorgen, Das Geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2022. 228 S., Hardcover. ISBN 978-3-593-51558-8. € 28,00.


                    Elizabeth C. Economy, The World According to ­China. Cambridge: Polity Press 2022.xi+292 S., Hardcover. ISBN 978-1-5095-3749-5. GBP 28,00.

                      Christian Geinitz, Chinas Griff nach dem Westen. Wie sich Peking in unsere Wirtschaft einkauft. München: C.H.Beck 2022. 381 S., Paperback. ISBN 978-3-406-75595-8. € 18,00.

                        Gerhard Stahl, China. Zukunftsmodell oder Albtraum. Europa zwischen Partnerschaft und Konfrontation. Bonn: J.H.W. Dietz 2022. 191 S., Paperback. ISBN 978-3-8012-0637-6. € 22,00.

                          Paul G. Clifford, The China Paradox. At the Front Line of Economic Transformation, 2nd Edition. Berlin: de Gruyter 2022. xx+297 S., Paperback. ISBN 978-3-11-072417-2. € 26,95.

                             

                            Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, 3., aktualisierte Auflage. Berlin: C.H.Beck 2022. 199 S., mit 8 Graphiken und 2 Karten, Klappenbroschur. ISBN 978-3-406-79325-7. € 16,95.

                              In ihrem als Ratgeber für langfristige Unternehmensstrategie „in der neuen Weltordnung“ auftretenden Buch versuchen Katrin Suder und Jan F. Kallmorgen das Jahr 2025 vorwegzunehmen. In der Geopolitik stellen sie die „zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China“ in den Vordergrund sowie die Anforderungen an Unternehmen, bezogen auf Umwelt (Environment), soziale Verantwortung (Social) und gute Governance (=ESG) zu handeln sowie sich der Bedeutung der Technologie stärker bewusst zu sein. Sie benennen die geopolitischen Risiken für Unternehmen aus Sanktionen und fordern, Europa müsse „Strategien gegenüber China entwickeln“ (S. 88), denn Amerika werde „auch unter Präsident Joe Biden den Druck auf Deutschland und Europa, sich gemeinsam mit den USA gegen China zu stellen, aufrechterhalten.“ (S. 169) Zugleich stellen sie unterschiedliche Entwicklungsszenarien vor, insbesondere bezogen auf die weitere Entwicklung Europas (EU verschiedener Geschwindigkeiten vs. kohäsives Europa). – Eine solche Anpassung an das gegenwärtige Narrativ „der Westen vs. China“ ist inzwischen weit verbreitet. Während Henry Kissinger vor zehn Jahren noch erklärte, die Frage sei nicht, „ob China das 21. Jahrhundert beherrschen wird, sondern vielmehr, ob wir China in eine universellere Vorstellung des 21. Jahrhunderts integrieren können“, erkundet auch Elizabeth C. Economy die Möglichkeiten, wie sich eine zukünftige Dominanz Chinas verhindern lässt. Statt aber Wege zu einer neuen Aushandlung internationaler Regeln und Standards zu suchen, auch unter Beteiligung solcher relativ jungen Staaten wie Indien, wird der ja eigentlich ganz natürliche Geltungs- und Mitspracheanspruch Chinas als Versuch beschrieben, die Normen und Standards der gegenwärtigen regelbasierten Ordnung unterlaufen zu wollen. Auch weil Chinas Bedeutung weitergewachsen ist, wird es nun als Systemrivale gesehen, welcher auch eigene Technologiestandards international durchzusetzen imstande ist. Nach solchen die Entwicklung Chinas als Gefahr für die Welt schildernden Ausführungen wirkt der Appell zum Schluss, eine Vorstellung von einer zukünftigen internationalen Ordnung zu entwickeln, etwas blass. Viel weniger verhalten als Elizabeth Economy adressiert Christian Geinitz „Chinas Griff nach dem Westen“ die Herausforderungen und zeigt, „wie sich Peking in unsere Wirtschaft einkauft“, kommt dann aber zu dem Schluss, das „System China“ funktioniere gut und man müsse sich „mit China arrangieren“ (S. 366-367). Geinitz plädiert dafür, die EU solle das mit Peking vereinbarte Investitionsabkommen endlich in Kraft setzen, „möglichst schon vor dem Jahr 2023“, und er endet mit der Perspektive, im besten Falle werde dann „nicht nur Europa immer chinesischer, sondern auch China immer europäischer“. Weniger gelassen zeigt sich Gerhard Stahl im Hinblick auf die chinesische Herausforderung, wozu sicher beiträgt, dass er sein Buch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine abgeschlossen hat. Er sieht die EU weiterhin zwischen China und den USA, bezeugt dann aber doch mehr sein Selbstverständnis als dass er Einsichten zu China vermittelt, von dem man eben nicht so einfach sagen kann, es sei „eine alte Kulturnation“ (S. 9), wie es ebenso wenig zutrifft, dass „Chinas Reformgeschichte“ erst mit dem Ende der Herrschaft Mao Zedongs beginnt (S. 23), als hätte es keine frühe Industrialisierung, keine Bildungsreformen, Landreformen etc. gegeben. Einen informierten Blick in die Industrialisierungs- und Transformationsgeschichte Chinas hingegen gibt Paul G. Clifford in der zweiten Auflage seines Buches, in dem er die von ihm als „China Paradox“ bezeichnete hybride Entwicklung Chinas der letzten vierzig Jahre nachzeichnet, die Vorgeschichte immer wieder aufrufend, und dabei anhand einzelner Fallbeispiele und auch unter Berücksichtigung ähnlicher Prozesse in Chinas Umgebung (Südkorea, Taiwan) die industrielle Entwicklung beleuchtet und die Lern- und Fortschrittsphasen in einzelnen Phasen konkret erläutert, etwa bei der Automobilindustrie, in der Halbleiterfertigung oder bei der Nuklear­energie, aber auch die Grenzen des Fortschritts benennt. Neu hinzugefügt hat er ein Kapitel über den Elektronikkonzern Huawei sowie eine Bewertung der Aussichten unter den Bedingungen der neuen Spannungen und der Rivalität mit den Vereinigten Staaten sowie der sich daran knüpfenden allgemeinen geopolitischen Verunsicherung.

                              Von solcher Verunsicherung, ja Unordnung der Welt des 21. Jahrhunderts spricht Carlo Masala. Man müsse realistische Ziele verfolgen, um wenigstens punktuell Stabilität herzustellen (S. 159). Im Kern bekräftigt er die Rede von der „Illusion der Demokratisierung“, jedoch möchte man ihm schon widersprechen, wenn er die bigotte Haltung des „Westens“ („doppelte Standards“, S. 25) so darstellt, als sei dies alternativlos. Masala versteht nicht die Geschichte von Hase und Igel. Dadurch, dass Masala China als „Alternative“ platziert, legitimiert er die neuerdings verbreitete Rede von der „systemischen Rivalität“, nur dass er eben selbst bereits den Glauben an die „regelbasierte westliche Ordnung“ aufgegeben zu haben scheint und das einzige Heil in totaler Wachsamkeit sieht, die es erzwinge, wie ein Hase „einen 360-GradBlick beizubehalten“ (S. 159). Dabei übersieht Masala, dass sich doch neue Ordnungen und Strukturen bilden (könnten) und dass China dazu beitragen kann und selbst ganz gewiss auch ein starkes Interesse daran hat. Die chinesische Welt aber, auch wenn er oft dorthin blickt, bleibt ihm letztlich verschlossen, nicht nur wegen der Parallele Ukraine-Taiwan (S. 165), sondern die Unkenntnis zeigt sich auch daran, dass er verkennt, dass China ein Teil der Weltordnung sein will und nicht eine Parallelwelt anstrebt – und bei einem chinesischen Autor, Yan Xuetong, Familiennamen und Persönlichen Namen verwechselt.

                              Close Reading

                              Die schöne Meng klagt an der Großen Mauer. Chinas schönste Liebeslegenden, erzählt von Shuhong Li und Martin Krott. Esslingen: Drachenhaus Verlag 2022. 121 S., Hardcover. ISBN 978-3-943314-52-6. € 16,00.


                                Josie-Marie Perkuhn und Mariana Münning, Hrsg., Operation Covid. Umgang mit dem Coronavirus von Wuhan bis Taipei. Esslingen: Drachenhaus Verlag 2022. 176 S., Hardcover. ISBN 978-3-943314-62-5. € 22,00.

                                  Deike Lautenschläger, Das Glück verkehrt herum. Homophone in Taiwan. – Fotografie & Illustrationen Liesbeth Cole. München: iudicium 2022. 277 S., 19 s/w-Fotografien / 42 farbige Illustrationen. Klappenborschur. ISBN 978-3-86205-553-1. € 19,80.

                                    Thilo Diefenbach, Hrsg., Zwischen Himmel und Meer. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen. München: iudicium 2022. 548 S., Hardcover. 11 farbige Abb. ISBN 978-3-86205-559-3. € 48,00.

                                      Zu einem gelingenden Umgang mit China und der Vielfalt seiner Menschen ist Wissen um den Alltag sowie um Formen der Krisenbewältigung wichtig, wozu nicht nur die Kenntnis der realen Lebenswelt und politischer sowie sozialer Praxis gehört, sondern ebenso die Vertrautheit mit den Medien und der Literatur und damit dem ganzen Bestand von Geschichten. Sich in Geschichten aus China zu vertiefen, die bis heute den Stoff chinesischer Träume ausmachen, kann man auf vielfache Weise beginnen. Die soeben erschienene Auswahl „Chinas schönster Liebeslegenden“ präsentiert nicht nur Übersetzungen, sondern auch die chinesischen Texte in moderner Version. Man kann damit seine Chinesisch Kenntnisse üben. Eine gänzlich andere Facette ist der Einblick in das Geschehen um die Covid-19 Epidemie im chinesischen Raum, Taiwan eingeschlossen, und enthält nicht nur anschauliche Erlebnisberichte von dem Umgang mit der Pandemie in China und der Null-Covid-Strategie, sondern stellt die Ereignisse in China in einen internationalen vergleichenden Zusammenhang. Die praktisch-politische Seite wird immer wieder deutlich, noch in dem Appell am Ende (S. 170): „Würden westliche Impfstoffe in größerer Anzahl auf dem Weltmarkt verfügbar sein …, minderte dies die Abhängigkeit der Impfstoffempfängerländer von China und damit auch Chinas impfstoffdiplomatische Möglichkeiten“. Ganz nah an die chinesische Welt kommt eine Sammlung taiwanesischer Literaturen, die sich als Fortsetzung bisheriger Anthologien sieht, von diesen aber dadurch unterscheidet, dass sie mündliche und schriftliche sowie Texte aus unterschiedlichen Sprachen Taiwans berücksichtigt und damit die Vielsprachigkeit Taiwans deutlich macht. So lässt sich die Sammlung auch als ein Einstieg in die Geschichte der Besiedlung und die ethnische und Sprachenvielfalt Taiwans lesen, die in einem kurzen Abriss zu Beginn entfaltet wird. Man findet viele wunderbare Texte, und bei den Gedichten ist der chinesische Text beigegeben, so dass ein Weg von der Übersetzung in das Chinesische möglich ist. Eine empfehlenswerte Sammlung, in welcher der Leser/die Leserin niemals alleingelassen wird, sondern immer zu Text und Autorschaft Erläuterungen findet. In dem als „Prolog“ aufgeführten Gedicht „Blick aufs Meer vor Taitung“ aus dem Jahr 1940 (S. 5) kommen, wie der Übersetzer und Herausgeber schreibt, „gleich mehrere Dinge zusammen, die Taiwan ausmachen: die schöne Landschaft, insbesondere die Verbindung von Bergen und Meeresküste; die bittere politische Geschichte; die sprachliche Vielfalt und die manchmal daraus resultierenden Missverständnisse.“ (S. 21). So überrascht es nicht, dass Thilo Diefenbach in seiner Anthologie Übersetzungen aus dem klassischen Chinesisch, er nennt es „Sinitisch“, aus dem Taiwanesischen, aus einem „Quasi-Mandarin“ sowie dem Mandarin, also der modernen chinesischen Schriftsprache versammelt, aber auch acht Übersetzungen aus dem Japanischen, einer Sprache in Taiwan, die auf die Zeit Taiwans als Kolonie Japans verweist. Solche Vielfalt ist übrigens keine Besonderheit für Taiwan, sondern in anderen Provinzen Chinas findet sich gleichfalls Vielfalt: Dialekte, Regiolekte, Minderheitensprachen. Insofern bedeutet, Taiwan zu studieren immer auch: China zu studieren. Dies gilt auch für eine andere Neuerscheinung, „Das Glück verkehrt herum. Homophone aus Taiwan“ von Deike Lautenschläger mit Fotografien und Illustrationen von Liesbeth Cole. Die vor allem in Taiwan gemachten Erfahrungen mit den mit gleicher oder sehr ähnlicher Aussprache gesprochenen unterschiedlichen Schriftzeichen verdichtet die Autorin in 60 Geschichten und zeigt darin, wie die Homophone im Chinesischen Verwirrung stiften können, vor allem aber Wortspiele, versteckte Anspielungen und eine humoristische Rhetorik ermöglichen. In der Regel, aber leider nicht immer, sind die Schriftzeichen beigefügt. Zu Beginn wird erläutert, warum glückverheißende Neujahrsinschriften etwa auf Haustüren, z.B. das Zeichen für „Glück“, „verkehrt herum“ aufgehängt werden, weil nämlich die Aussage „das Glück kommt an“ fú dào 福到ausgesprochen wird, was aber auch, bei einem etwas anders geschriebenen dào 倒, als „das Glück verkehrt herum“ verstanden werden kann und somit „das rote Papier mit dem Schriftzeichen Glück auf dem Kopf“ das Glück erst ins Haus hereinlockt. (S. 17) Solche Verquickung mehrerer Ebenen macht eben die Schönheit des Chinesischen aus und macht die Verwendung dieser Sprache so reizvoll. (hsg)

                                       

                                      Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschien von ihm in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ bei Matthes und Seitz Berlin „Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass“. Helwig.Schmidt-Glintzer@zentr.uni-goettingen.de

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