Zeitgeschichte

Für eine afrikanische Revolution

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2022

Frantz Fanon: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften. Aus dem Französischen übertragen von Einar Schlereth. Hrsg. von Barbara Kalender. März Verlag, Berlin, 2022, 259 S., ISBN 978-3-7550-0006-8, € 22,00.

Auf den Autor der vorliegenden, in der Originalausgabe 1964 unter dem Titel Pour la révolution africaine (Editions François Maspero, Paris) erschienenen Schriften wurde ich erstmals 1968 als Student aufmerksam. Es war das Epochenjahr mit den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze und den anti-autoritären studentischen Revolten gegen die damalige Große Koalition. Außenpolitisch erschütterte der Ausrottungskrieg in Vietnam die Glaubwürdigkeit der US-Regierung, die «Erste Welt» würde in Saigon verteidigt werden, und durch die Ermordung von Martin Luther King jr. (1929–1968), Sprecher des Civil Rights Movement, starb der Traum der Afroamerikaner von einem friedlichen Widerstand gegen die politische Praxis der Rassentrennung in den Südstaaten. Die Türen unseres frisch bezogenen Kieler Studentenwohnheims waren mit anti-imperialistischen Postern gegen die Ausbeutung der «Dritten Welt» und gegen «Rassentrennung» bepflastert, dem Konterfei von Che Guevara (1928–1967), MLK’s Rede „I have a dream“ oder Fotos der Folk-Sängerin Joan Baez, während A. u. M. Mitscherlichs Bestseller Die Unfähigkeit zu trauern, das von H. J. Enzensberger hrsg. Kursbuch II über die Revolution in Amerika und das TB von Bergmann, Dutschke, Lefèvre u. Rabehl Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition (rororo aktuell, Reinbek) zwischen den Bewohnern kursierte.

In den Beiträgen von Rudi Dutschke (1940–1979) stieß ich damals auf Frantz Fanons (1925–1961) Bezeichnung der «Kolonisierten» als «ein zoon politikon im umfassendsten Sinne des Wortes» (ebd. S. 69), die mein Interesse für dessen Hauptwerk Die Verdammten der Erde (1966) weckte. Zu dem «Manifest der Dekolonisation» hatte der Protagonist der frz. Intellektuellen, der Existentialist Jean-Paul Sartre (1905–1980), ein polemisches, Gewalt verherrlichendes Vorwort verfasst, das mehr nachwirkte, als Fanons differenzierten Modelle zur Entkolonialisation. Jetzt, sechzig Jahre nach Ende des Algerienkrieges (1954– 1962), erscheint die Sammlung von Fanons politischen Texten erneut. Wer die komplexe Lektüre verstehen will, sollte die außergewöhnliche Vita der Gallionsfigur der Dekolonisation in den Grundzügen kennen. Als fünftes von acht Geschwistern einer Familie des schwarzen Mittelstandes wird Frantz Fanon 1925 auf der Karibikinsel Martinique geboren. Formal gilt er in der damaligen Kolonie zwar als Franzose, bekommt aber von den weißen Siedlern zu spüren, dass er als Nachkomme von Sklaven ein Bürger zweiter Klasse ist. Der alltägliche Rassismus schlägt ihm auch in den Forces françaises libres (FFL) entgegen, zu denen er sich 1943 zum Kampf gegen Nazi-Deutschland als Freiwilliger gemeldet hatte, − die Grande Nation dankte den Truppen der FFL nicht, welch diskriminierende Demütigung!

Nach dem Krieg studiert Fanon Medizin und Philosophie in Lyon. 1952 veröffentlicht er sein Buch Peau noir, masques blancs (Paris, Éditions du Seuil), in dem er über die Entfremdung der Schwarzen in der kolonialen Situation, ihre fortdauernde Unterlegenheit gegenüber den Weißen – eine «Konstellation des Deliriums» – psychoanalytisch reflektiert und «rassische Identitäten» dekonstruiert: „Der Neger ist nicht. Ebensowenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann“ (dt. Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt, 1980, S. 148). 1953 übernimmt Fanon die Leitung einer Psychiatrischen Klinik in Blida (Algerien). Wegen des von den frz. Streitkräften mit brutalster Gewalt beantworteten algerischen Freiheitskrieges radikalisiert er sich zum politischen Aktivisten. Er bittet um seine Entlassung als Chefarzt (s.u.) und wechselt 1956 an eine Klinik in Tunis (Tunesien), wo er zum kompromisslosen Fürsprecher der FLN und Botschafter der Exilregierung der Algerischen Nationalen Befreiungsfront wird. In dieser Zeit überschlägt sich sein rastloses Leben, das wie eine Kerze loderte, die an beiden Enden hell brannte.

Fanon war gleichzeitig Psychiater, politischer Theoretiker, Freiheitskämpfer und Schriftsteller. Er wendet sich von der frankophonen Négritude ab, die sein Gymnasiallehrer Aimé Césaire (1913–2008) als Politiker konzipiert hatte, verfasst seine Essay-Sammlung L’an V de la révolution Algérienne (Maspero, Paris 1959), die in Frankreich verboten wird. Darin thematisiert er die Notwendigkeit revolutionärer Gegengewalt, um die Ketten der Kolonisierten zu brechen, ferner die Rolle des Rundfunks sowie der muslimischen Frau und des Schleiers als Kampfesmittel. Kurz nach Erscheinen seines von der antikolonialen Linken gefeierten Erweckungstexts Les damnés de la terre (1961, Maspéro Paris) stirbt Fanon im frühen Alter von 36 Jahren. Seine drei Bücher und zahlreichen, teils anonym verfassten Schriften als Redakteur von El Moudjahid, der damaligen Untergrundzeitung der FLN, inspirierten anti-imperialistische Studentenrevolten, die Black-Power-Bewegung und auch die RAF. Ab den 1980ern ebbte Fanons Einfluss, mit Ausnahme einiger Studien in der Soziologie und Ethnologie, deutlich ab. Seit dem 21. Jahrhundert erfährt sein Werk ein beachtliches Revival mit Neuauflagen, Biographien und Rezeptionsdissertationen und jüngst sogar einer hochgelobten Graphic Novel «Fanon» von Frédéric Ciriez u. Romain Lamy (2021, Hamburger Edition). Im März-Sammelband sind 28 Essays, Reden und Berichte, die aus Zeitschriften wie Esprit, Présance Africaine. Afrique Action und vorwiegend in El Moudjahid zwischen 1952 und 1961 publiziert wurden, chronologisch geordnet. Laut literaturwissenschaftlicher Exegese sind die Texte, wie Fanons Verleger François Maspero (1932–2015) im seinem Vorwort schreibt, „ein allgemeiner Leitfaden durch [Fanons, erg. wh] Leben und Werk, die Marschroute eines Denkens in ständiger Entwicklung, sich ständig erweiternd und bereichernd, gleichwohl sich selbst immer die Treue haltend“ (frz. 1964, dt. 1972, S. 7). Kapitel I Der Kolonisierte in Frage enthält zwei Texte des jungen Psychiaters, in denen er seine persönliche Rassismuserfahrung auf den Antillen und in Frankreich mit den täglichen psychiatrischen Expertisen seiner französischen Kollegen vergleicht, die arabische Patienten wie Menschen einer anderen Art begutachten, ihnen „[d]as «nordafrikanische Syndrom»“ (S. 15) testieren. Er seziert mit beißender Kritik die stereotypen Gutachten, in denen Nordafrikaner verdinglicht werden, „indem du ihn systematisch Mohammed nennst, den du dir aufbaust, vielmehr, den du auflöst, ausgehend von einer Idee, einer Idee, von der du weißt, das sie abscheulich ist […]“ (S. 29). Der Vergleich Antillesen und Afrikaner beschreibt, die Rollenverteilung und seine Erfahrungen des Wechsels von Wertmaßstäben: „Vor dem Krieg von 1939 war sich jeder Antillese nicht nur der Überlegenheit über den Afrikaner gewiss, sondern auch eines fundamentalen Unterschieds. Der Afrikaner war Neger und der Antillese Europäer […].“ Nach 1945 entdeckt sich der Antillese „als Sohn von verschleppten Sklaven, […] ersehnt nur das eine, in das «große schwarze Dunkel» zu tauchen“ (S. 44). Teil II Rassismus und Kultur erklärt die „Auswirkungen egozentrischer, soziozentrischer Definitionen“ (S. 47). Fanon schildert, wie die Kolonisierten militärisch und ökonomisch geknechtet und entmenschlicht werden durch „Ausbeutung, Folterung, Razzien, Rassismus, kollektive Liquidierungen, rationale Unterdrückung“, […] „buchstäblich ein Objekt in den Händen der Besatzernation“ (S. 52).

Im Teil III Für Algerien gibt Fanon mit einem unveröffentlichten Brief an einen Franzosen in wütendem Ton Antworten auf die Fragen „Was ist los mit Algerien?“ „Was passiert in Algerien?“ (S. 67f.); er will das „verworrene Schweigen von 800 000 Franzosen“ brechen gegenüber „9 000 000 Menschen unter dem Leichentuch des Schweigens“ (S. 69).

In seinem Brief an den Ministerpräsidenten 1956, den Generalgouverneur von Algerien, bittet er, da sein „Gewissen der Schauplatz unverzeihlicher Debatten [ist]“ und „er nicht selber an sich verzweifeln will“ (vgl. S. 75), um seine Entlassung. Welch ein couragierter Aufruf gegen eine „systematische Entmenschlichung“ (S. 73). Welch enthusiastischer Appell an die Menschlichkeit! Im Kapitel IV Der Befreiung Afrikas entgegen folgen einundzwanzig, teils ungeschliffene Texte, in denen Fanon das kolonialistische System in zunehmender Schärfe anprangert. Es geht um „Täuschungen und Illusionen des Französischen Kolonialismus“, die „klassische Erklärung“, die Befreiungsbewegung sei von den Kommunisten gelenkt; ferner um die „französischen Folterknechte“: „Der Polizist, der in Algerien foltert, verstößt nicht gegen das Gesetz. Seine Handlungen befinden sich im Rahmen des kolonialistischen Systems.“ (S. 95). Fanon kritisiert die Haltung der französischen Intellektuellen und Demokraten zur algerischen Revolution, beklagt deren „schmerzvolle Unwirksamkeit“ (S. 102) und deren „widerwärtiges Feilschen“ (S. 113). Er spricht vom Völkermord an den Algeriern und dass „Frankreich, sein Regime und sein Volk […] die Kosten [werden] tragen müssen“ (S. 139). Als politischer Aktivist der FLN weitet Fanon seinen Kampf gegen den Kolonialismus aus, wendet sich an die „afrikanische Jugend“. Es geht ihm in seinen Solidaritätsaufrufen nicht mehr nur um die Unabhängigkeit Algeriens, sondern „…die Befreiung des Menschen“ (S. 192). Er sieht in der Communauté française einen „letzten Versuch“ General de Gaulles, den französischen Kolonialismus zu retten (vgl. S. 198), resümiert die Ergebnisse der Accra-Konferenzen von 1958 und weist harsch und weitsichtig auf die „[d]ie Fallen des Neokolonialismus“ hin. In Waffen und Menschen (S. 226) fordert er pathetisch eine „innerafrikanische Solidarität, eine Solidarität der Taten, […], eine Solidarität der Handlung, eine Solidarität, die sich konkret in Menschen, Material, Geld ausdrückt“ (S. 226). Er prophezeit: „Afrika wird nicht durch die mechanische Entwicklung der materiellen Kräfte frei sein, sondern Hand und Hirn des Afrikaners werden es sein, die die Dialektik der Befreiung des Kontinents entfesseln und zu Ende führen werden“ (S. 227).

Fanons bislang eher kryptischen Aufrufe für einen bewaffneten Unabhängigkeitskrieg werden durch seinen Beifall für die Accra-Resolution zum Aufbau einer Miliz afrikanischer Völker konkret. Jetzt klingt seine Rhetorik nicht nur für die, die es so verstehen wollten, extremistisch, wenn es um die Befreiung vom kolonialen Joch geht. Im Kap. V Afrikanische Einheit macht der Reisebericht einer subsaharischen Exkursion mit dem optimistischen Titel

Afrika im Werden deutlich, dass es Fanon um die Rekrutierung schwarzer Freiwilliger und die Bildung einer afrikanischen Allianz zur Eröffnung einer Südflanke im Unabhängigkeitskrieg der FLN ging.

Wie komplex sich die Probleme der Dekolonisation entwickelten, umreißt der Essay Der Tod Lumumbas. Hätten wir anders handeln können? (S. 249). Das Attentat auf Émery Lumumba (1925–1961) offenbart die große Bandbreite der Probleme der Dekolonisation, angefangen bei der Rolle der Kolonial-Staaten über die der UNO bis zu dem zweigespaltenen Verhalten der afrikanischen „Marionettenregierungen“ sowie derjenigen, „die es mit der Angst bekommen, wenn es um die Frage geht, Afrika vom Westen zu lösen“ (S. 252).

Fanon wird – durch Leukämie dem Tode nahe – bewusst, dass die Probleme der Kolonisierten mit dem Abzug der Kolonialherren nicht enden werden, warnt vor den postkolonialen Gefahren eines «Neokolonialismus». Wie recht er behalten sollte angesichts der innerafrikanischen Kriege, der korrupten afrikanischen Eliten, die trotz gewaltiger Ressourcen und reichlich fließender Entwicklungshilfen die Bevölkerungen ihrer Staaten in Armut und Hunger sterben lassen. «Afrika wird armregiert» (sensu Volker Seitz).

Fast prophetisch hatte Fanon in seinem letzten Werk die Afrikaner gewarnt, die Fehler der europäischen Nationen nicht zu wiederholen: „[W]ir müssen für uns selbst eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen“ (ebd. S. 267). – ­Gelungen ist es nicht!

Fazit: Eine eindeutige Empfehlung der Sammelschrift ist schwierig. Fachwissenschaftler/innen einschlägiger Disziplinen, wie Zeit- und Rezeptionsgeschichte, Soziologie, Politologie und Ethno-Anthropologie, die Fanons Klassiker im Kern kennen dürften, erfahren im Prinzip nichts Neues ­ . Und für interessierte Laien bieten die Texte wegen der pathetisch-apodiktischen Rhetorik, der deterministischen sozialen Kategorisierungen und der – leider unkommentierten – Verwendung rassistischer Begriffe (u.a. das N-Wort) zwar einen authentischen Einstieg in Fanons Texte, aber für neokoloniale Ausbeutung von Millionen «moderner Sklaven», von Bauern, Land-, Minen- und Fabrikarbeitern beiderlei Geschlechts und ihrer Kinder, keine problem­lösende Perspektive.

Die Entkolonialisierung Afrikas ist vertragsrechtlich längst abgeschlossen, doch innerethnischer und religiöser Fanatismus, permanent neu aufflammender Rassenhass, Korruption der Staatsträger, die ihr eigenes Volk verraten, und neokoloniale Ausbeutung durch Global Players brachten Afrika nicht die von Fanon ersehnte Freiheit der «Verdammten», worunter er Bauern und «Lumpenproletarier» verstand. Krieg, Terror, Hunger und Armut geißeln die rasant wachsende Bevölkerung Afrikas, die durch Migra­ tion ihren unmenschlichen Verhältnissen zu entfliehen versucht. Glückt ihre Flucht, werden sie mit wachsendem Kulturrassismus in der industrialisierten Welt konfrontiert. – Fanons Ziel einer «neuen Menschheit» liegt in utopischer Ferne! (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 1­0 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

 

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