Betriebswirtschaft

Frischer Wind in Führungsetagen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2020

Die Betriebswirtschaftslehre ist gar nicht so verstaubt wie manch einer denkt. Im Gegenteil: es gibt darin viel Neues zu entdecken. Natürlich dreht sich derzeit viel um Digitalisierung. Aber auch der Umgang mit den Menschen ist ein anderer geworden. Mitarbeiter zu führen heißt heute, Menschen zu begeistern und auf die gemeinsame Sache einzuschwören, neue Wege einzuschlagen und alte Muster radikal abzulegen. In zwei aktuellen Büchern fordern die Autoren einen Reset, einen Neustart in der Führung.

Esteban, René, Do epic stuff! Führung nach dem Ende des Change-Management, Campus, 2020, 270 S., (mit Download-Code), ISBN 978-3-593-51194-8. € 34,95

 

Wüthrich, Hans. A., Capriccio. Ein Plädoyer für die die ver-rückte und experimentelle Führung, Versus und Vahlen, 2020, 157 S., ISBN 978-3-03909-285-7. € 24,90

René Esteban geht in seinem Buch in die Vollen. Die Parole: „Klotzen statt kleckern“, „epic stuff“, schaffe Großes! Brav und angepasst war gestern. Der Autor war nach seiner kaufmännischen Ausbildung bereits als junger Mann weltweit für den Bereich E-Commerce eines Dax-Konzerns verantwortlich. 2016 stieg er aus und gründete in Frankfurt/Main das Beratungsunternehmen „FocusFirst“. Zusammen mit seinem kleinen Team kümmert sich Esteban dort um „Ziele und Erfolg“ seiner Kunden. Der Titel „Do epic stuff!“ passt. Für Esteban zählen die außerordentlichen Dinge. Nur nicht in den Alltagstrott verfallen, der kaum mehr als Langweile verspricht. Es geht in seinem Buch um eine neue Generation von Mitarbeitern, für die nicht nur ein gutes Gehalt, sondern auch eine Umwelt, in der sie sich entfalten und wohl fühlen können, wichtig ist. Der Job soll begeistern und neben der Arbeit soll es Platz für das Leben geben. Esteban fordert, dass Mitarbeiter Räume für ihre Sinnerfahrungen bekommen. Nur so finden sie ihren „Purpose“ und erreichen gemeinsam große Zie-

le. Parole: „Du bist großartig – und als Team sind wir noch viel großartiger!“ Esteban prescht mit seiner frischen Art in „Do epic stuff!“ voran. Er reißt den Leser mit, möchte ihn für seine Idee begeistern. Es geht um den „Wow-Effekt!“ Für ihn hat das Change Management nach 25 Jahren ausgedient. Esteban hält die Idee für abgegriffen, es mangelt an Wertschätzung für die Vergangenheit. Change Management richtet den Blick starr in die Zukunft. Dies führt dazu, dass die zurückliegenden Leistungen der beteiligten Menschen entwertet werden. Die erreichten Ergebnisse zählen plötzlich nichts mehr. Dies führt zur Demotivation, der Mitarbeiter gibt auf. Es überrascht nicht, wenn für Esteban die Gretchenfrage lautet: Macht Change Management in Zeiten, in denen der Wandel ohnehin schon angekommen ist, eigentlich noch Sinn?

„Do epic stuff!“ ist eine Kollektivleistung. Das Buch wäre ohne den Input von 18 „Leadern“, Führungskräfte aus dem betrieblichen Umfeld, nicht entstanden. Mit ihnen führte Esteban umfangreiche Interviews. Die Ergebnisse verdichtete er in „Erfahrungsberichten“. Die Experten kommen aus verschiedenen Branchen. Es sind aktive oder ehemalige Führungskräfte zumeist namhafter Unternehmen wie Adidas, Allianz, Media Markt, Lanxess, Merck, BASF oder Henkel. Häufig haben diese Menschen eine IT-Affinität und besetzen in ihren Unternehmen die Position eines CDO („Chief Digital Officer“). Unter ihnen finden sich auch Start-up-Gründer („Founder“). Auch der Leiter des Shaolin-Zentrums aus Schorndorf wurde von Esteban interviewt.

Bereits im Vorwort macht René Esteban deutlich, was für den „epic stuff!“ wichtig ist:

1. Man gewinnt die besten Mitarbeiter nicht dadurch, dass man ihnen den Anreiz gibt, sie seien bloßer Bestandteil eines Wandlungsprozesses. Ein Fehler, den Esteban dem Change Management zuschreibt.

2. Hochmotivierte Mitarbeiter arbeiten immer gemeinsam auf ein bedeutendes Ziel hin. So kommt es zu einem echten Spirit, es ist der Nährboden für den „epic stuff!“.

Mitarbeiter werden nicht länger über Geldleistungen motiviert, stärker zählen der Sinn und der Zweck ihres Tuns.

3. Führungskräfte liefern ihren Mitarbeitern handfeste Inspirationen („inspired focus“). Nur so können sie sicher sein, dass diese Menschen auf dem Weg zum großen Ganzen nicht verloren gehen.

Seine Gedanken ordnet Esteban in neun Kapiteln. Er beginnt mit dem „Head of epic stuff: Du willst doch was bewegen!“. Da zeigt er Werte und Grundsätze auf, wie Führungskräfte ihre Mitarbeiter nachhaltig motivieren können und bedient sich der Psychologie. Er erklärt die Bedeutung angstfreier Entscheidungen und fordert „Denk‘ dich vorwärts: Erfolg beginnt im Kopf“. Affirmationen (positives Denken) und Mental-Coaching helfen nicht nur Spitzensportlern, sie sind auch im Büroalltag nützlich. Dazu zählen der Glaube an das eigene Ich und der Verzicht auf negative Gedanken und Worte.

René Esteban schwärmt von Fokussierung und Priorisierung: Wer zwei Hasen gleichzeitig jagt, fängt am Ende gar keinen. Das eine Ziel soll fest – und doch unverkrampft – vor Augen sein. Doch Obacht, man darf auf diesem Weg keine Energie verschwenden. Liegestützen machen und Hüpfen funktioniert nun mal nicht gleichzeitig. Ein weiterer Baustein für Estebans Weg zum „epic stuff!“ ist die Kultur. Sie ist das Fundament für die wirklich bedeutsamen Dinge. Wenn Unternehmen eine „Kultur des Vertrauens“ schaffen, werden sie die Menschen begeistern. Führungskräfte sind wichtige Hüter dieser Kultur. Am Beispiel von Adidas erklärt Esteban, dass Teams wie Fußballmannschaften funktionieren. Jeder hat darin seine eigene Rolle. Alle Spieler sind wichtig, um gemeinsam größtmöglichen Erfolg zu haben.

Für Esteban gibt es keine langweiligen Themen, nur langweilige Verpackungen. Menschen wollen Teil einer sinnvollen Sache sein und sich darüber austauschen. Dass es natürlich Hürden für seinen „epic stuff!“ gibt, weiß Esteban und er verrät auch, wie man Fallgruben umgehen kann. Beispiel: Gerade Banken und Versicherungen vergessen gern ihre Freelancer mitzunehmen. Ein Fehler, den man vermeiden kann, indem man die Freelancer in das Team integriert, sie Teil des großen Ganzen werden lässt. Der Verfasser sieht uns auf dem Weg in eine „Gig-Economy“. Menschen finden immer öfter punktuell zusammen. Sie arbeiten gemeinsam in einem Projekt und gehen nach der Fertigstellung wieder auseinander. Das ist wie bei Musikern, die sich treffen, zusammen proben und später „einige Gigs performen“. Anschließend lösen sie diese Verbindung auf und arbeiten mit anderen Künstlern zusammen. Ein weiterer Schlüssel für einen größtmöglichen Erfolg ist die unkomplizierte Kommunikation. Motto: „Erkläre es einem Siebenjährigen!“ Für Esteban ist komplizierte Ausdrucksweise ein Indiz für Halbwissen und Unsicherheit, das abstrakte Gerede lasse die Zuhörer eindösen. Esteban ist ein Verfechter des 5-K-Prinzips: Klarheit, Kongruenz, Konkretion, Konsistenz und Kontext.

Am Ende des Buches geht es um die Selbstverantwortung: „Mach’s, sonst macht es keiner!“. Erfolg gibt es nicht ohne Risiko. Wer begeistern will, muss über Pflichtbewusstsein verfügen. Motto: Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich, der Rest ist Willensstärke.

Das Buch von René Esteban, lebendig und praxisnah geschrieben, liegt irgendwo zwischen Motivationsschrift, Leadership-Literatur und Ratgeber. Es geht darin um Teamwork, Begeisterung, Kultur, Erfolg und natürliche Motivation. Der Autor ermuntert den Leser zum Wagnis, bloß nicht auf der Stelle treten. Er verrät Kniffe und Tricks wie man im Büro besser zurecht kommt, ein Team motiviert und gute Mitarbeiter an das Unternehmen bindet. Fazit: „Do epic stuff!“ ist ein inspirierendes, modernes und wichtiges Buch.

In „Capriccio“ von Hans A. Wüthrich geht es um ein Plädoyer für die ver-rückte und experimentelle Führung. Wüthrich, Jahrgang 1956, lehrt an der Universität der Bundeswehr in München „Internationales Management“ und ist Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er berät Führungskräfte und Führungsgremien und sieht sich „als profilierten Querdenker und Musterbrecher unter den Managementforschern“.

Der Begriff „Capriccio“ entstammt der Kunsttheorie. Er bedeutet einen absichtlichen und lustvollen Regelverstoß, das phantasievolle und freche Überschreiten akademischer Normen – ohne die Norm dabei selbst außer Kraft zu setzen. In der Kunstgeschichte wird „Capriccio“ für all das verwendet, was dem Kunstkanon der Zeit widerspricht. In der Musik versteht man darunter ein Stück mit freiem, spielerischem und scherzhaftem Charakter, das von herkömmlichen musikalischen Formen abweicht. Mit „Capriccio“ möchte Wüthrich Führungspersönlichkeiten Denkangebote geben. Für den Autor selbst ist es ein „Störbuch“, in dem er für phantasievolle, spielerische und freche Regelverstöße plädiert. Es ist ein Mutmacher für überforderte Führungskräfte. Wüthrich ermuntert den Leser, Unvertrautes auszuprobieren und eigene Regeln in Frage zu stellen. Ver-rückte Führung bedeutet für ihn: Kritisch denken, konstruktiv zweifeln, andere Fragen stellen, nicht mehr mitspielen und mutig sein. Das Buch ist in sechs Abschnitte untergliedert. Der Titel von „Mit der Überforderung tanzen lernen“ steht für sich selbst. Der Autor verweist auf die explosionsartig zunehmende Vernetzungsdichte unserer Welt. Die Komplexität steigt ins Unermessliche. Es gibt kaum mehr eindeutige oder kausale Zusammenhänge. Ergebnis: Führungskräfte spüren stärker das Belastende und das Überfordernde. Menschen werden ihren Rollenerwartungen immer häufiger nicht mehr gerecht.

Wüthrich rät zum selbstbestimmten Handeln: die Überforderung als reale Lebenswirklichkeit akzeptieren und das Überfordertsein als Selbstkonstrukt entlarven. So ist es möglich, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistbarem zu verringern, wobei Verdrängen keine Lösung ist. Er rät Führungskräften kritisch zu hinterfragen: „Was passiert, wenn nichts passiert?“

In dem Kapitel „Unperfektes und Zufälliges lieben“ möchte Wüthrich einen Beitrag für das Auffinden viabler Lösungen leisten. Das Motto lautet: „Torheit kultivieren und Experimente wagen.“ Menschen sollen ihre Neugier und das konstruktive Zweifeln wiederentdecken, die positive Kraft des Unfertigen nutzen. Sie sollen Dinge erkunden, um durch Ausprobieren „passende“ oder „brauchbare“ (also viable) Antworten zu finden. Der Autor spricht von Metakompetenzen und animiert Führungskräfte zum lustvollen Regelverstoß. Er nennt es „Arbeit im Vertrauen in das Unvertraute“. Gewissheit ist nur ein Placebo. Das Streben nach Perfektion lähmt; sie ist lösungsraumbegrenzend und verhindert schnelles Lernen. Ergebnisoffen zu experimentieren heißt, Dinge zu beginnen, ohne das Ende bereits zu kennen. In „Unvermögen und Halbwissen genießen“ wirbt der Autor für eine kollektive Nutzung von Intelligenz. Das Einzelkämpfertum ist ein Auslaufmodell. Wissensmultiplikatoren im Sinne von Mehr Wir-Intelligenz, weniger Ego, werden gebraucht. Die Botschaft lautet: Überschätze die Mitmenschen, nimm dich selbst zurück und nutze dezentrale Wissensstände. Dann stellt der Autor persönliche Führungsexperimente vor. Beispiel: „Experiment Kreativzeiten“. Wüthrich verweist auf den Fall 3M; ein amerikanischer Konzern, in dem die Mitarbeiter schon seit vielen Jahren 15% ihrer Arbeitszeit zur freien Verfügung haben. Sie haben Raum Neues zu erproben. Die Menschen konzentrieren sich auf Projekte, die sie für wirklich wichtig erachten, für die sie sich interessieren. Unproduktives wird bewusst zugelassen und dient der Erweiterung der Wissensbasis. Auch die nächste Forderung von Wüthrich wirkt auf den ersten Blick skurril: „Andersartigkeit und Verschwendung feiern“. Mancher Controller wird sich verdutzt die Augen reiben, wenn er liest, dass punktuelle Ineffizienz gut tun. Schließlich ist das Streben nach Wirtschaftlichkeit ein bedeutsames Prinzip klassischer BWL. Programme für Effizienzsteigerungen stehen auf der Tagesordnung. Die Folge sind Einheitlichkeit, Standardisierung, Messbarkeit und Redundanzvermeidung. Wüthrich befürchtet einen Verlust der Vielfalt, die Störanfälligkeit nimmt zu. Deshalb fordert er Resilienz; Organisationen müssen belastbar sein.

Sie müssen selbstregulierend mit überraschenden Störungen und exogenen Schocks so umgehen können, dass die Vitalität des Systems erhalten bleibt.

In den letzten beiden Kapiteln geht es darum, „Vertrauen in das Unvertraute zu gewinnen“ und die „Ver-rückte Führung willkommen zu heißen“. Wüthrich plädiert dafür, den Führungsalltag als Lern- und Experimentierfeld zu akzeptieren. Die Organisation ist der Resonanzkörper, ein Fundament für „Dinge mutig unterbrechen, systematisch aufbrechen und experimentell ausbrechen“. Der Autor schlägt vor, Dogmen konsequent zu überwinden und sich dem Kern experimentell anzunähern. Moderne Führung ist für Wüthrich eine verteilte und kollektive Leistung. „Capriccio“ ist ein schlaues Buch, mitunter fast schon philosophisch. Die Inhalte bleiben dem Leser in den Synapsen haften; nicht nur, weil sie ungewöhnlich sind und schräg klingen. Damit hebt sich „Capriccio“ wohltuend von dem Mainstream üblicher Managementfibeln ab. Zur Zielgruppe zählen Führungspersönlichkeiten, Menschen, die bereit sind, Verantwortung in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu übernehmen. Wüthrich ist Vordenker, Querdenker, Provokateur und Visionär. In „Capriccio“ ermuntert er Führungskräfte zum Experimentieren und zum Ausprobieren. Die Menschen sollen mutig sein, Regelverstöße haben ihren eigenen Charme. Und Führungspersonen müssen bei ihm nicht länger vollkommen sein, sie dürfen Fehler machen. Damit nimmt er ihnen eine enorme Last von den Schultern. Er sucht aber auch Regelverstöße in den Methoden. Motto: Gute Lösungen entspringen nicht länger der rational analytischen Planungslogik. Vielmehr sind es passende Ergebnisse, eine Folge experimenteller Annäherung oder des zufälligen, überraschenden Entdeckens. Regelverstöße beziehen sich aber auch auf die Rolle der Führungspersönlichkeiten selbst: Diese sind nicht länger einzelkämpfende Ressourcenoptimierer, sondern experimentelle Aktionsforscher; Garanten für Vielfalt und Robustheit. „Capriccio“ ist ein Mutmacher für eine im wahren Sinn „ver-rückte“ Führung. Eine Sehhilfe für gestresste und heillos überforderte Manager. Das Buch wird ihnen gut tun. Wenn sie „Capriccio“ gelesen haben, wissen sie, dass sie nicht allein sind.

Prof. Dr. Hartmut Werner wurde im Anschluss an sein wirtschaftswissenschaftliches Studium Assistent des Finanzvorstands beim Handelsunternehmen JVC Germany. Anschließend wechselte er in die Industrie zu Continental Automotive Systems. Dort durchlief er in führenden Positionen die Bereiche Zentralcontrolling, F&E-Controlling, Einkaufscontrolling, Projektcontrolling, Logistikcontrolling, Zentrale Logistik und Leiter Werkslogistik. Während dieser Zeit erfolgte die externe Promotion zum „Strategischen Forschungs- und Entwicklungscontrolling“. Seit 1998 lehrt Prof. Werner Controlling und Logistikmanagement an der Hochschule RheinMain (Wiesbaden Business School).

Hartmut.Werner@hs-rm.de

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