Biografien

FRAUENSPUREN | „Hebt ab und entdeckt eure rebellischen Talente!“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2022

Frauen hatten immer schon einen schweren Zugang zu höherer Bildung. Vielen gelang es allerdings trotz der Widerstände, große Leistungen zu vollbringen, die allerdings ausgeblendet wurden oder ganz aus dem Gedächtnis verschwanden.

Die Autoren der hier vorgestellten Bücher zeigen den oft maßgeblichen Anteil von Frauen an den Fortschritten der Menschheit – im alltäglichen Leben, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Technik und in der Kultur.

Cosima Bellersen Quirini: 77 Frauenspuren in Niedersachsen. Meßkirch: Gmeiner-Verl., 2020. 255 S. ISBN 978-3-8392-2604-9. € 20.00

    „Geschichte wurde lange Zeit ohne Frauen geschrieben. Doch welche Möglichkeiten gab es für sie, sich trotzdem bemerkbar zu machen und aus dem eng gefassten Gefüge herauszutreten?“ (Vortitel) Die Autorin beantwortet diese Frage für Niedersachsen mit einem Einblick in das Leben von 77 Frauen aus den verschiedensten Lebensbereichen, die auf dem Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen gelebt und gearbeitet haben. Es ist eine Reise durch 1000 Jahre, die meisten Porträtierten stammen aus dem 18. Jahrhundert, die jüngsten aus dem vergangenen. So manche Frau ist bisher leider kaum ins Gedächtnis gekommen. Beispiele: Die erste deutsche Siedlerin in Texas Caroline Ernst (1813–1902), die Frauenrechtlerin und das Mitglied des Reichstags Elise Bartels (1880–1925), die Keramikerin Hedwig Bollhagen (1907–2001), die erste Professorin für Erziehungswissenschaften Mathilde Vaerting (1884–1977 und die Reederin Greten Handorf (1880–1944). Das alles ist auf weniger als zwei Seiten beschrieben und in der Mehrzahl der Biografierten mit einem Schwarz-WeißFoto ergänzt. Warum die Autorin die Biografien nach dem Vornamen von Adolphine Luise Cooper bis Wilhelmine Siefkes ordnet, keine Literaturhinweise anfügt und Zitate nicht belegt, bleibt ihr Geheimnis. Der Publikation tut es nicht gut.

    Diesen Frauen „wie zahlreichen weiteren Frauen gebührt endlich ein fester Platz in der historischen Darstellung – und zwar ganz ebenbürtig direkt neben den Männern.“ (Vortitel) So ist es!

     

    Jelena Gucanin et al.: In unseren Worten. Lebensgeschichten von Wienerinnen aus der ganzen Welt. Wien, Berlin: mandelbaum verl., 2021. 143 S. ISBN 978-3-85476-965-1. € 14.00

      „Ungefähr die Hälfte aller Geflüchteten weltweit sind Frauen und Mädchen. Insgesamt sind sie stärker von Gewalt betroffen als Männer, strukturelle Diskriminierung trifft sie härter. Im politischen und medialen Diskurs sind sie jedoch kaum als Akteur:innen sichtbar. Ob Flucht oder Migration, Frauen und Mädchen tragen in ihren Familien große Verantwortung und sind oft diejenigen, die schwierige Situationen aushandeln.“ (S. 9)

      Dieses Buch handelt von 24 dieser Frauen, sie sind zwischen 12 und 70 Jahre alt. Sie stammen u.a. aus Bosnien und Herzegowina, Pakistan, Kurdistan, Syrien, Tunesien, Albanien und Ägypten. Sie alle haben einen Bezug zu Österreich, fast alle von ihnen leben heute in Wien. Ihre Lebenswelten sind unterschiedlich, sie spiegeln sich in ihren hier veröffentlichten Geschichten wider. Wir finden Schülerinnen, Lehrlinge, Studentinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen. Am Ende des Buches befinden sich deren Kurzbiografien.

      Die Frauen wollen, dass nicht länger über sie gesprochen wird, sondern dass sie ihre Flucht- und Migrationsge-schichten selbst erzählen, auch wenn sie schon längere Zeit zurückliegen.

      Begleitet von Vereinen und Psychotherapeutinnen wird in einem Workshop 2020 der Grundstein für dieses beeindruckende Buch gelegt. Das Aufschreiben „schafft Ordnung und Übersicht und verleiht dem Erlebten eine Stimme, ohne dass es ausgesprochen werden muss. Es bringt Zeugenschaft, indem Erfahrungen durch Worte beschreiben und nicht nur gefühlsmäßig durchlebt werden.“ (S. 13)

       

      Verena Auffermann et al.: 100 Autorinnen in Porträts. Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh. München: Piper Verl., 2021. 585 S. ISBN 978-3-492-07086-7. € 24.00

        Das ist die überarbeitete und erweiterte Auflage des Titels Verena Auffermann et al.: Leidenschaften – 99 Autorinnen der Weltliteratur (München: Bertelsmann 2009). Kultur- und Literaturgeschichte ist immer noch eine Männerdomäne. Und so ist es erfreulich, dass mit diesen 100 Autorinnen in Porträts „ein packendes und abwechslungsreiches Lesebuch über schreibende Frauen und weibliches Schreiben und ein informatives Nachschlagewerk zur Geschichte der Literatur von Frauen“ vorliegt. „Geordnet nicht nach dem Alphabet, sondern nach dem Geburtsjahr, beginnend mit der Gegenwart.“ (Vortitel) Den Reigen eröffnet die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani (geb. 1981), am Schluss findet der Leser die antike griechische Dichterin Sappho (etwa 617 v. Chr. bis etwa 560 v. Chr.) Beispiele: die ungarische Schriftstellerin Agota Kristof (1935–2011), die italienische Schriftstellerin Elsa Morante (1912–1985), die deutsche Schriftstellerin und Historikerin Ricarda Huch (1864–1947), die US-amerikanische Schriftstellerin Literaturkritikern Dorothy Parker (1893–1967) usf.

        Es sind großartige konzise Porträts, verfasst von Experten auf diesem Gebiet – der Kunsthistorikerin und Essayistin Verena Auffermann, der Literaturwissenschaftlerin Julia Encke, der Germanistin, Anglistin und Übersetzerin Gunhild Kübler, der Literaturwissenschaftlerin, Philosophin, Feuilletonistin und Romanautorin Ursula März sowie der Philosophin und Romanautorin Elke Schmitter. Für die Auswahl der zu Porträtierenden verknüpfen die fünf Autorinnen „das unabdingbare Kriterium literarischer Qualität mit dem historischen und biographisch Exemplarischen“. (S. 7) Und die Porträtierten sollen zweieinhalb Jahrtausende alte Geschichte des Schreibens von Frauen widerspiegeln. Fast 70 Namen kommen aber aus dem 20. Jahrhundert; schließlich ist dies die Epoche, in der Frauen einen erweiterten Zugang zur Bildung und das Wahlrecht erkämpft haben.

        Das alles ist anregend und genussvoll zu lesen, die fünf Autorinnen beherrschen ihr Metier und zeigen Kabinettstückchen ihrer Kunst zu schreiben, ohne zu instruieren und ohne erhobenen Zeigefinger. Also: Kein Kanon, kein Nachschlagewerk, sondern ein großartiges Lesebuch, Wiederbegegnungen und Entdeckungen eingeschlossen. Die Selbsteinschätzung „eine spannende, unterhaltsame, berührende und zum Lesen verleitende Erkundung der weiblichen Gefilde der Weltliteratur und ein Muss für jede Leserin – und jeden Leser“ (Vortitel) teilt der Rezensent uneingeschränkt, aber vielleicht mit einem Hinweis auf ein Desiderat: Es fehlt ein Band mit 100 vergessenen, unterschätzten, ausgegrenzten Autorinnen.

         

        Heike Specht: Die Ersten ihrer Art. Frauen verändern die Welt. München: Piper Verl., 2022. 376 S. ISBN 978-3-492-07042-3. € 24.00

          Das Buch ist eine Verneigung vor den politischen Pionierinnen mit dem Blick zuvörderst auf Deutschland und Europa. Es „widmet sich den ersten Frauen, die in den letzten gut hundert Jahren in Männerdomänen einbrachen, aufstiegen, Posten und Ämter einnahmen. Es geht um Frauen – vor allem um Politikerinnen, aber auch um Juristinnen, Journalistinnen, Bischöfinnen, Künstlerinnen und ja, auch um eine Terroristin – , die ihren Platz am Tisch der Macht eroberten. … Sie brachten Aspekte und Themen ein, die die herrschenden Männer zuvor … einfach nicht auf dem Schirm gehabt hatten.“ (S. 14, 18)

          Es ist keine Sammlung von Biografien, sondern eine „Tour de Femmes“ (S. 22; dies ist eigentlich die verkürzte und international verwendete Bezeichnung der „Tour de France Femmes“ eines erstmals 2022 ausgetragenen französischen Etappenrennens in Erinnerung an die Tour de France der Männer) in acht Kapiteln:

          Die Systemrelevanten Marie-Elisabeth Lüders und Louise Schröder, die ersten weiblichen Abgeordneten im Reichstag der Weimarer Republik – Justitia ist eine Frau wie Elisabeth Selbert, Erna Scheffler und Jutta Limbach, Frauen, die entscheidend mithelfen, die Bundesrepublik zu einem modernen demokratischen Sozialstaat zu machen – Parteisoldatinnen wie die Bundestagspräsidentin Annemarie Renger und die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir – Wider die erstarrte Gesellschaft wie die erste Präsidentin des Europaparlaments Simone Veil und eine der ersten und wohl bekanntesten Terroristinnen Ulrike Meinhof – Die neuen Frauen, die in den 1980er Jahren die Politik verändern wie Renate Schmidt, Petra Kelly und Claudia Roth – Einsame Spitze wie Rita Süssmuth, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Margot Käßmann – Anführerinnen der freien Welt mit Margaret Thatcher, Angela Merkel und Ursula von der Leyen – Mut statt Demut wie Annalena Baerbock, Hillary Clinton und Aminata Touré. Das letzte Kapitel zeigt die Aktualität des Buches, denn die Ereignisse und die damit verbundenen Personen liegen erst wenige Jahre oder Monate zurück.

          Ein Buch über 35 (politische) Vorreiterfrauen und ihre Leistungen.

           

          Michael Korth: Wir sind die Veränderung. 20 Porträts starker Frauen. Mit einem Geleitwort von Margot Käßmann. Ostfildern: Patmos Verl., 2021. 190 S. ISBN 978-3-8436-1127-5. € 20.00

            Auch in diesem Buch geht es um Vorreiterfrauen – als Erinnerung „an Frauen, die „erste“ waren. Sie wurden Vorbilder für Frauen, die ihren eigenen Weg suchten und dabei nicht nur an gläserne Decken, sondern auch gegen betonharte Mauern stießen.“ (Margot Käßmann in ihrem Geleitwort, S. 7) „In diesem Buch wird erzählt, wie Frauen ihre gesetzlich verankerte Einschränkung und die von der männlich dominierten Gesellschaftsordnung verordnete Bildungsferne durchbrachen und sich, unbeirrt aller Traditionen und Widerstände der vom Mann geprägten und beherrschten Gesellschaft, Stück für Stück individuelle und gesellschaftliche Freiheit erkämpften.“ (S. 11) Michael Korth skizziert in 20 Porträts Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die in ihrer Epoche von den vorgegebenen traditionellen Wegen abweichen. Diese außergewöhnlichen Frauen sind unterschiedlicher sozialer Herkunft, miteinander verbindet sie das Aufbegehren gegen männliche Diskriminierung. Dazu gehören Hildegard von Bingen, Kaiserin Maria Theresia, Bertha von Suttner, Maria Montessori, Rosa Luxemburg, Peggy Guggenheim (sie ist nicht 1988 sondern 1888 geboren, S. 125), Simone de Beauvoir, Mutter Teresa und Brigitte Wagner-Pischel (die dem Rezensenten nicht bekannte erste Gründerin einer privaten Universität für Medizin und Zahnmedizin in Krems) – in kurzen einprägsamen Porträts mit Illustrationen von Myrtille Bonnenfant und Stefan Szczesny, dazu nicht ganz angemessen zum Thema Cover und Lesebändchen in rosa und Druckfarbe durchgängig in blau. Ein faszinierender Titel Wir sind Veränderung, der viel verspricht und es auch hält.

             

            Barbara Sichtermann: Weltenretterinnen. Es geht ums Ganze. Wiesbaden: marixverlag, 2021. 253 S. ISBN 978-3-7374-1178-3. € 20.00

              Bei diesen Vorreiterfrauen handelt sich um 23 junge Frauen, die sich durch ihr großes Engagement auszeichnen. Die Autorin hat ihre Lebensgeschichten in vier Kapiteln auf­notiert und die Umstände aufgezeigt, die sie zu ihrem jeweiligen Engagement führen:

              Menschenrechte, Frieden und humanitäre Hilfe: die deutsche Kapitänin und Seenotretterin Carola Rackete, Nadia Murad, die Überlebende des von den IS verübten Genozids an den Jesiden im Nordirak 2014, Menschenrechtlerin und Friedensnobelpreisträgerin, und die aus Nord-Korea geflohene Menschenrechtlerin Yeonmi Park

              Klima- und Umweltschutz: Greta Thunberg und Luisa Neugebauer

              Demokratie und Selbstbestimmung: die Russin Nadeshda Tolokonnikowa als Mitglied der Pussy Riot und die ukrainische Künstlerin und Femen-Aktivistin Oksana Schatschko

              Frauenrechte und Bildung: die pakistanische Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die afghanischen Mitglieder von Visions for Children Hila und Wana Limar und die libanesisch-norwegische Bloggerin und Aktivistin Nancy Herz. Malala Yousafzai: „Warum ist es so leicht, Waffen zu verteilen? Warum ist es so leicht, Panzer zu bauen, aber so schwer, Schulen zu bauen? Lasst uns unsere Bücher und Stifte nehmen. Sie sind unsere mächtigsten Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“ (S. 173)

              Ein wichtiges Buch insbesondere für junge Menschen.

               

              Anne Ameri-Siemens: Die Frauen meines Lebens. Frauen erzählen von ihren Heldinnen, Vorbildern und Wegbegleiterinnen. Berlin: Rowohlt Berlin Verl., 2021. 236 S. ISBN 978-3-7371-0127-1. € 20.00

                Ein Buch über Vorreiterfrauen der anderen Art: „Hier sprechen Frauen über Frauen … Es erzählt von den kleinen und großen, manchmal politisch und gesellschaftlich bemerkenswerten, immer aber bewegenden und prägenden Erfahrungen und Erlebnissen von achtzehn Personen – indem diese wiederum von den wichtigen Frauen in ihrem Leben erzählen.“ (Klappentext) Es erzählt davon, „wie Frauen ihrer eigenen Stimme folgen und dabei von anderen Frauen begleitet werden.“ (S. 10) Im Mittelpunkt steht nicht, was die Porträtierten erreicht haben, sondern wie sie ihr Leben gestalten.

                Die Schriftstellerin Ildikó von Kürthy spricht u.a. über die Bedeutung von Frauenfreundschaften, die Politikerin Katharina Schulze über ihre Theaterlehrerin, die Schauspielerin Minh-Khai Phan-Thi über ihre Mutter, eine energische Fürsprecherin für die Unabhängigkeit, die Schauspielerin Senta Berger über ihre Mutter („Die ungebrochene Lebensfreude bis in ihr hohes Lebensalter zeichnete meine

                Mutter aus, und ich möchte es ihr gleichtun. Ich bemühe mich.“ S. 234), die Soziologin Jutta Allmendinger über ihre Freundin Shirley („Ich kann nicht oft genug sagen, wie dankbar ich Shirley Price für ihren Vorschuss an Vertrauen bin. Aus Zurückhaltung entsteht nichts Neues, kann nichts Gutes erwachsen.“ S. 89) und die Nobelpreisträgerin und Pionierin der Genforschung Christiane NüssleinVolhard über ihre Großmutter.

                Dieses fabelhafte Buch handelt von Frauen, die auf ihrem Lebensweg von Frauen beeindruckt werden, von Frauen, die andere Frauen als Wegweiser haben und über diese Wegbegleiterinnen erzählen. Sehr empfehlenswert!

                 

                Annabelle Hirsch: Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten. Zürich, Berlin: Kein & Aber, 2022. 410 S. ISBN 978-30369-58804. € 30.00

                  Hier wird in ganz anderer Art und Weise über Frauen erzählt. Es ist eine Geschichte in 100 Objekten. Darauf muss man erst einmal kommen! Einhundert Gegenstände des Alltags, der Mode, der Kunst, der Medizin, aus dem Bereich der Mythen, zur Rebellion der Frauen – „Objekte, die mit Themen verbunden sind, die Frauen tangieren, Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik.“ (S. 9) Das ist ungewohnt, und es ist gut, dass Annabelle Hirsch draufgekommen ist! Chapeau!

                  Die Autorin beschränkt sich in ihrer Auswahl auf den westlichen Kulturkreis. Beispiele gefällig? eine Amazonen-Puppe (5. Jh. v. Chr.), eine griechische Puppe, eine weibliche Kriegerin, die im Grab eines Mädchens lag – der Teppich von Bayeux (11. Jh.) „ein seltenes Beispiel der herausragenden Kunstfertigkeit und Schöpferkraft von Schwesternschaften. Kein Meisterwerk also, sondern: ein Meisterinnenwerk“ (S. 51) – die RemingtonSchreibmaschine (1874), weil sie den Frauen neue Jobs verschaffte – das Safety Bicycle (1889), nach der Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton in Bezug auf die Befreiung der Frauen die wichtigste Erfindung des 19. Jahrhunderts – der Kinematograph (um 1900) und der Kampf der Frauen, nicht nur vor der Kamera (an)gesehen zu werden, sondern auch hinter der Kamera zu stehen – die Anti-Baby-Pille (1957), „Sexualität konnte etwas sein, das nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen ohne Konsequenzen sein durfte“ (S. 354) – Pussy Hat (2017), „das politischste Accessoire dieses ereignisreichen Jahres und seiner feministischen Revolution war: diese Mütze.“ (S. 409) „Die Geschichte der Frauen ist weder vollständig noch abschließend und möchte das auch nicht sein. Sie will vor allem Lust darauf machen, weiterzugraben, Dinge aus dem Regal der Geschichte hervorzuholen, nach Details, Anekdoten, all den angeblichen Nebensächlichkeiten zu suchen und sinnliche Verbindungen zu finden, zur noch viel zu unbekannten Welt der Frauen der Vergangenheit.“ (S. 11)

                  Leïla Slimani nennt dieses Buch „ein fantastisches Kuriositätenkabinett, das die Rolle der Frauen in der Geschichte neu denkt.“ (hinterer Buchdeckel) Für den Rezensenten ist es mehr als eine Wunderkammer, für ihn ist es eine Schatzkammer, ein kleines anderes Kompendium weiblicher Geschichte – es ist eine und nicht die Geschichte der Frauen.

                   

                  Anna Reser, Leila McNeill: Frauen, die die Wissenschaft veränderten. Bern: Haupt Verl., 2022. 271 S. ISBN 978-3-258-08258-5. € 36.00

                    „Wer die Geschichte der Frauen schreibt, trifft oft auf Abwesenheit und Schweigen … In vielen Epochen und Ländern, vor allem in der westlichen Welt, galt es als unangemessen, dass Frauen am öffentlichen Leben teilnahmen … Die Teilnahme am öffentlichen Leben verleiht einer Person Status und bewirkt, dass ihre Errungenschaften sowie Fakten ihres Lebens als aufzeichnungswürdig gelten. Dieser Status wurde den Frauen in vielen Zeiten verwehrt, folglich sind Lebensdaten und Verdienste nur unvollständig dokumentiert.“ (S. 7) Die beiden US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerinnen Reser und McNeill machen sich zur Aufgabe, dies zu verändern. Es geht ihnen nicht um die Verlängerung einer Ahnengalerie allseits zitierter forschender und lehrender Frauen wie Marie Curie und Lise Meitner, sie suchen die vielen Frauen, die unsichtbar sind, holen sie aus der systematischen Ausgrenzung heraus und zeigen an vielen Beispielen wie die Spuren des wissenschaftlichen Wirkens kaschiert und devaluiert oder ihre Arbeitsergebnisse gar Männern zugeordnet werden. Die Autorinnen sind Mitbegründerinnen und Mitherausgeberinnen des Magazins „Lady Science“ und fassen ihre Erkenntnisse und Forschungsergebnisse in diesem großartigen Buch zusammen.

                    Die fünf Teile der Veröffentlichung sind chronologisch vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert geordnet und in viele Kapitel unterteilt. Wir begegnen u.a.

                    der Frauenheilkundlerin Peseschet (lebt in der Zeit von der 5. bis in die 6. Dynastie des Alten Reiches 2465– 2159 v.Chr.), auf deren Stele im Grab des Achethotep in Gizeh sogar der Beruf angegeben ist

                    der Mathematikerin, Astronomin und Philosophen Hypatia von Alexandria (um 335–405 n.Chr.), Leiterin der neuplatonischen Schule in Alexandria

                    der Astronomin Maria Cunitz (um 1600/1610–1664), eine der bedeutendsten Astronominnen der Frühen Neuzeit in Europa, die 1650 auf eigene kosten die Urania Utopia veröffentlicht, „eine korrigierte und vereinfachte … Version von Keplers Rudolfinischen Tafeln“ (S. 449)

                    der Astronomin Caroline Lucretia Herschel (1750–1848), die an einem Catalogue of Nebula and Clusters of Stars ihres Bruders Wilhelm mitarbeitet, sie fehlt als Mitautorin

                    der 1907 als erste Frau in Deutschland promovierten Mathematikerin Emmy Noether (1882–1935), sie erhält 1933 als Jüdin Berufsverbot und flieht in die USA

                    einer der bedeutendsten Astronominnen des vergangenen Jahrhunderts, Vera Rubin (1928–2016), die trotz ihrer großen Verdienste um die Erforschung dunkler Materie „systematisch diskriminiert“ (S. 240) wird

                    der Radioastronomin Jocelyn Bell Burnell (geb. 1943), die als erste Wissenschaftlerin Pulsare aufspürt, den Nobelpreis erhalten, 1974 aber zwei Männer, wovon einer ihr Doktorvater ist.

                    In der Bibliographie fehlt leider weiterführende Literatur in deutscher Sprache.

                    Den Autorinnen großen Dank für diese sorgfältig recherchierte Studie, der eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

                     

                    Melanie Jahreis: Rebel minds. 44 Erfinderinnen, die unsere Welt verändert haben. München: Beck, 2020. 183 S. ISBN 978-3-406-75758-7. € 19.95

                      Rebel minds ist wieder ein faszinierender Band in der verdienstvollen Reihe über Rebellinnen des C.H. Beck Verlages, die sich an Kinder und Jugendliche wendet. Die Rebel artists stammen aus dem Jahr 2019 (fachbuchjournal 13(2021)3, S. 8, 10), 2022 soll ein Band Art rebel erscheinen, Untertitel „Vergiss alles, was dir Erwachsene über Kunst erzählen“.

                      Die Kuratorin im Deutschen Museum Melanie Jahreis und die Illustratorin Katinka Reinke beschreiben in kurzen, informativen und leicht verständlichen Texten und ergänzt um wunderbare Illustrationen Leben und Werk von 44 Erfinderinnen. Die Geschichten „machen Mut, verrückte Träume zu haben, sich hohe Ziele zu stecken und entschlossen dem eignen Weg zu folgen … Hebt ab und entdeckt eure rebellischen Talente!“ (S. 7)

                      Die 44 Porträtierten werden alphabetisch auf drei Seiten vorgestellt.

                      Die spätere Unternehmerin Melitta Benz erfindet 1908 den vorgefertigten Einweg-Kaffeefilter – die Schneiderin Coco Chanel wird eine der bedeutendsten Modedesignerinnen – die Ethologin Jane Goodall führt Langzeituntersuchungen über Menschenaffen durch – Hedy Lamarr ist nicht nur eine bedeutende Filmschauspielerin, sondern auch die Erfinderin des Frequenzsprungverfahrens, einem Vorläufer der Bluetooth- und WLAN-Technologie – die Mathematikerin Emmy Noether erfindet ein nach ihr benanntes Theorem, das Symmetrien von physikalischen Naturgesetzen mit der Existenz von dazugehörigen Erhaltungsgrößen verbindet – die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky wird durch den Entwurf der sog. Frankfurter Küche berühmt (s.a. fachbuchjournal 12 (2020) 2, S. 62-63). Ein Kaleidoskop großartiger Erfindungen! Für Kinder und Jugendliche ist das Buch eine inspirierende Lektüre.

                       

                      Philosophinnen. Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte / Hrsg. Rebecca Buxton, Lisa Whiting. Wiesbaden: marixverlag, 2021. 207 S. ISBN 978-3-948722-03-6. € 20.00

                        Frauen gibt es auch in der Philosophie. Doch nur selten werden sie wahrgenommen und ihre Lehren überliefert und verbreitet. „Die heutigen Philosophiebücher und Seminare“ (S. 7) erheben den Anschein, dass es ausschließlich Männer sind, von denen das philosophische Denken ausgeht und verbreitet wird. Philosophinnen will paradigmatisch den Frauen den ihnen in der Wissenschaft zustehenden Platz zuweisen, sie sollen die gleiche Anerkennung wie ihre männlichen Kollegen erhalten.

                        Die Veröffentlichung enthält 20 chronologisch von der Antike bis ins 21. Jahrhundert geordnete Porträts. Jede Philosophin wird von einer Frau aus der Wissenschaft vorgestellt. Es beginnt mit der Figur Diotima aus Platons Dialog „Symposion“ (ca. 400 v.Chr.) als einer starken philosophisch geprägten Frau, der chinesischen Philosophin Ban Zhao (45–117), die eine Theorie der Schönheit entwickelt und mit ihrem Werk „Gebote für Frauen“ das Recht auf Bildung für Frauen fordert und der griechischen Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypatia (ca. 350– 415), einer großen Verfechterin des Neuplatonismus („eine intelligente, charismatische und mutige Frau … die wahrscheinlich führende Gelehrte ihrer Zeit“, S. 37). Wir begegnen im Verlauf der Jahrhunderte u.a. der Frauenrechtlerin und Philosophin jüdischer Herkunft Edith Stein, die 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet und von der katholischen Kirche als Teresia Benedicta vom Kreuz 1998 heiliggesprochen wird, der US-amerikanisch-deutschen jüdischen politischen Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt („auch wenn sie sich selbst nicht als Philosophin gesehen hat, nimmt sie als eine der größten politischen Denkerinnen es 20. Jahrhunderts verdientermaßen einen Platz in diesem Band ein“, S. 102) und der britischen Philosophin Elizabeth Anscombe, Verfasserin bedeutender Beiträge zur Handlungstheorie und Tugendethik. Literatur und weiterführende Lektüre am Ende der Kapitel in deutscher Sprache – leider Fehlanzeige. Am Ende der Veröffentlichung befindet sich eine Liste von hier nicht abgehandelten Philosophinnen, und die umfasst immerhin 94 Frauen, darunter Simone Weil, Susan Sontag und Judith Butler. Das allein verlangt schon eine Erweiterung dieser Zeitreise durch die weibliche Philosophiegeschichte.

                         

                        Reginas Erbinnen. Rabbinerinnen in Deutschland / Hrsg. Antja Yael Deusel, Rocco Thiede. Berlin. Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020. 210 S. ISBN 978-3-95565-427-6. € 19.90

                          Mit Regina Jonas (1902–1944) wird am 27. Dezember 1935 weltweit die erste Rabbinerin ordiniert, in einem Land, in dem die Wiege des liberalen Judentums steht, in einem Land, das seit 1933 von den Nationalsozialisten regiert wird, in einem Land, in dem Regina Jonas im KZ Auschwitz-Birkenau 1944 ermordet wird. Leider gerät sie schnell in Vergessenheit und wird erst durch mehrere Veröffentlichungen und insbesondere die großartige Biographie von Elisa Klapheck (vgl. fachbuchjournal 12 (2020 4, S. 63) seit Anfang der 1990er Jahre wieder entdeckt. Das Buch Reginas Erbinnen stellt einige ihrer Nachfolgerinnen vor, die heute in Deutschland als Rabbinerinnen tätig sind – mit Widerständen gemäß dem Motto „Mein Weg ins Rabbinat war lang“ (S. 125) wie bei Antje Yael Deusel. Die Beiträge zeigen, dass in einer auch im Judentum dominierten Männerwelt gelehrte und hochqualifizierte Frauen agieren, die einen eindrucksvollen Beitrag zu der auch im Judentum zu stellenden und zu beantwortenden Frage leisten, wie die Gleichberechtigung der Frau zu Wege zu bringen ist – gemäß der Worte von Regina Jonas: „Ich kam zu meinem Beruf aus dem religiösen Gefühl, dass Gott keinen Menschen unterdrückt, dass also der Mann nicht die Frau beherrscht … vom Gedanken der letzten und restlosen geistigen, seelischen, sittlichen Gleichberechtigung beider Geschlechter.“ (S. 11) Die rein biographische Darstellung zu den Rabbinerinnen in Wort und Bild wird ergänzt und vertieft durch einen biographischen Abriss über Regina Jonas, Grußworte der jeweils ersten Rabbinerinnen in den jeweiligen Strömungen nach Regina Jonas (die erste Reformrabbinerin Sally Priesand, die erste Reconstructionist Rabbinerin Sandy Eisenberg Sasso, die erste Reformrabbinerin in Großbritannien Jacqueline Tabick, die erste konservative Rabbinerin Amy Eilberg, die erste orthodoxe Rabbinerin Rabba Sara Hurwitz), einer Einleitung und einem Nachwort zur Wirkungsweise der Rabbinerinnen sowie Kurzbiographien über die Rabbinerinnen und die Autorinnen. Ein eindrucksvolles, ein bemerkenswertes Buch.

                           

                          Nina Bakman: Fünf Psychoanalytikerinnen. Frauen in der Generation nach Sigmund Freud. Gießen: Psychosozial-Verl., 2022. 149 S. ISBN 978-3-8379-3164-8. € 22.90

                            Im 19. Jahrhundert zwischen 1873 und 1899 geboren gehören sie der Generation der Psychoanalytiker nach Sigmund Freud an: Joan Riviere, Grete Bibring, Fanny Lowtzky, Grete Obernik und Eva Rosenfeld. Die Psychoanalytikerin Nina Bakman zeichnet das Leben und die Berufslaufbahnen ihrer größtenteils vergessenen Kolleginnen nach, die eine Zeit radikaler politischer, wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Umbrüche erleben. Bibring ist die Einzige unter ihnen, die ein Studium absolviert, sie studiert Medizin. Riviere, Obernik und Rosenfeld sind Laienanalytikerinnen, sie üben den Beruf der Psychoanalyse ohne medizinischen Titel aus. Lowtzky studiert Philosophie und wird über Rickerts Lehre über die logische Struktur der Naturwissenschaften und Geschichte promoviert, später beschäftigt sie sich mit Psychoanalyse und wird 1928 Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft.

                            Vier Frauen, außer Riviere, werden zu Emigrantinnen. Obernik wandert bereits 1920 aus Prag nach Palästina aus, um dort als Pädagogin zu arbeiten, Lowtzky verlässt Paris 1936 und baut in Jerusalem ein Seminar für Pädagogen auf; beide sind Pionierinnen „während der reichhaltigen und lebhaften Entwicklung der dortigen Psychoanalyse, die früh ein Interesse im Land gefunden hatte.“ (S. 12) Bibring emigriert mit ihrem Mann, einem Psychoanalytiker, nach England und später in die USA; dort wird sie an der Harvard Medical School in Boston Lehranalytikerin und 1961 die erste Frau, die Medizin unterrichtet, Anna Freud ist Briefpartnerin und Freundin. Auch Rosenfeld geht eine enge Brieffreundschaft mit Anna Freud ein, sie wandert 1936 nach London aus und wird eine beachtete Lehranalytikerin.

                            Die Laienanalytikerin Riviere aus Brighton gehört zu den Pionierinnen der British Psychoanalytical Society und ist eine der ersten Übersetzerinnen von Werken Freuds ins Englische, die heute noch wegen ihrer hohen Qualität gelesen werden. („Sie war Freuds Lieblingsübersetzerin“, S. 15)

                            Dies ist nur eine kleine Stippvisite, das Buch ist aber in Gänze sehr lesenswert. „Ihre Aktivität ermöglichte es diesen Frauen, eine eigenständige berufliche Identität zu bilden, die ihr ganzes Leben andauerte und ihr Selbstbewusstsein festigte. In diesem Sinne stehen ihre Biografien exemplarisch für eine ganze Generation von Psychoanalytikerinnen.“ (S. 14)

                             

                            Bachmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung / Hrsg. Monika Albrecht, Dirk Göttsche. 2., erweiterte Aufl. Berlin: J.B. Metzler, 2020. 433 S. ISBN 978-3476-05666-5. € 119.99 (Sonderausgabe € 34.99)

                              Das Handbuch zu Ingeborg Bachmann (1926–1973) liegt in zweiter Auflage vor, die erste erscheint 2002, eine unveränderte broschierte Sonderausgabe 2013. Das Interesse an der Schriftstellerin ist so groß, „dass nun endlich eine aktualisierte und erweiterte Neuausgabe möglich geworden ist, die der erheblichen Erweiterung der verfügbaren Werkausgaben und Quellen, aber auch fast zwei Jahrzehnten ergänzender Forschung und sich wandelnder Erkenntnisinteressen gerecht wird.“ (S. VII) Zu dieser Erweiterung tragen neben den neuen Forschungsergebnissen in Form von Qualifikationsarbeiten und Konferenzergebnissen u.a. bei Bachmanns Kritische Schriften (2005), das nachgelassene Kriegstagebuch (2010), der Beginn der auf etwa 30 Bände angelegten Salzburger Bachmann Edition 2017. Die einzelnen Kapitel sind gegenüber der ersten Auflage umfänglich aktualisiert und durch neue Beiträge ergänzt, der Gesamtumfang erhöht sich von 313 auf 433 Seiten.

                              Kap. I. führt in Leben und Werk ein und enthält die Rezeptionsgeschichte. Kap. II. stellt das Werk vor, umfassend Lyrik, Erzählprosa, kritische Schriften und weitere Werke wie die frühen Rundfunkarbeiten, Libretti („‘Der junge Lord‘ist als der Höhepunkt des gemeinsamen künstlerischen Schaffens Bachmanns und Henzes“ anzusehen, S. 208) und Übersetzungen. Kapitel III. beschäftigt sich mitden Kontexten und Diskursen in Bachmanns Werk. Der Anhang enthält u.a. ein Werkregister und ein Personenregister.

                              Höchste Anerkennung für dieses umfangreiche Werk.

                               

                              Anna Seghers-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung / Hrsg. Carola Hilmes, Ilse Nagelschmidt. Berlin: J.B. Metzler, 2020. 416 S. ISBN 978-3-476-05664-1. € 99.99

                                Das Handbuch zu Anna Seghers (1900–1983) gibt einen umfassenden Überblick über das Gesamtwerk einer der renommiertesten deutschsprachigen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts von den frühen Texten der 1920er Jahre bis zu ihrem Spätwerk der 1980er Jahre. Ihr Leben wird bestimmt durch „ständige Ortswechsel, Umbrüche, prägende neue Erfahrungen, die Suche nach Freude sowie der Wille, dabei zu sein, Verantwortung zu übernehmen und gestaltend einzugreifen.“ (S. VII) Diese Zeiten ändern sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Im Alter von 33 Jahren muss sie Deutschland verlassen, kehrt erst 14 Jahre später zurück. Dazwischen liegen Jahre des Exils in Frankreich und Mexiko, in denen sie „Das siebte Kreuz“ und „Transit“ (beide gehören heute zur Weltliteratur, letztes wird 2018 neu verfilmt) und „Der Ausflug der toten Mädchen“ schreibt. Seghers lebt nun in Ost-Berlin, Leben und Werk werden bestimmt durch Spannungen, die verbunden sind mit der Übernahme politischer Ämter (sie ist von 1952 bis 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR), ihrer positiven Haltung zur Sowjetunion und ihrer Loyalität zur DDR. So ist es folgerichtig, dass sie für die einen eine Ikone ist (eine Ikone „für die staatlich propagierte Verbindung von Geist und Macht“, S. 335), für die anderen ein rotes Tuch (Reich-Ranicki sieht „in erster Linie die Kommunistin und hat ihr Werk durch das Prisma ihrer politischen Anschauung gelesen“, S. 347). Ihr Werk droht nach 1990 zumindest in Deutschland in Vergessenheit zu geraten. Das Handbuch kommt erfreulicherweise zu einem differenzierten Urteil ohne die politischen und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen aus den Zeiten des Kalten Krieges.

                                Kapitel I. führt in die politischen, sozialen und kulturellen Zeitumstände des 20. Jahrhunderts ein. Kapitel II. stellt alle Romane, repräsentative Erzählungen, Erzählsammlungen und Schriften aus dem Nachlass vor. Kapitel III. beschäftigt sich mit Vorträgen, Reden, Essays, Zeitschriftenprojekten, Briefen und Korrespondenzen. Kap. IV. erläutert die poetologischen Konzepte. Kap. V. stellt zentrale Themen der Werke vor wie Heimat und Patriotismus, Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren sowie das Verhältnis zum Judentum. Kapitel VI. ist der deutsch-deutschen und internationalen Rezeption gewidmet. Der Anhang enthält u.a. eine Auswahlbibliographie und ein Personenregister.

                                Dieses exzellente Handbuch schließt eine große Lücke in der Erschließung des Werkes einer großen deutschen Schriftstellerin. (ds) 🔴

                                Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität ­ Berlin, war von 1967 bis 1988 ­Biblio­theksdirektor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

                                dieter.schmidmaier@schmidma.com

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