Biografien

Frauen werden sichtbar

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2023

Annine van der Meer: Die Sprache unsrer Ursprungs-Mutter MA. Die Entwicklung des Frauenbildes in 40.000 Jahren globaler »Venus-Kunst«. Über­arbeitete, erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Rüsselsheim: Christel Göttert, 2020. 663 S. ISBN 978-3-939623-60-1. € 69.95

    „40.000 Jahre Venus-Kunst – sie hat viele Arten, Gruppen, Typen, Varianten, Stile, Namen und Interpretationen und zeigt doch weltweit Symbole von erstaunlicher Einheitlichkeit.“ (S. 11) So beginnt ein Nachschlagewerk, in dem die überwiegend weiblichen Figurenfunde aus altsteinzeitlichen und jungsteinzeitlichen Kulturen erstmals an einer Stelle vereint sind und das Entwicklungslinien bis ins 21. Jahrhundert aufzeigt. Der neueste Fund ist die „Venus vom Hohle Fels“ von 2008 aus der Karsthöhle Hohle Fels am Südfuß der Schwäbischen Alb bei Schelklingen, entstanden vor 40.000 Jahren.

    Die holländische Historikerin, Theologin und Symbolforscherin Annine van der Meer begibt sich auf die Spuren der universellen Mutter, die sich in Bildern und Symbolen versteckt. Sie legt die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit vor und erfasst und klassifiziert die Ergebnisse in einem ausgeklügelten Symbolsystem. Das Vorwort beschäftigt sich in erster Linie mit männerdominierter Forschung und patriarchalisch geprägter Begriffswelt, in der das Heilige, Spirituelle und Machtvolle der Ursprungs-Mutter ignoriert wird, verbunden mit einer Herabwürdigung des Weiblichen, bis hin zu Formulierungen wie Pin-ups und Gespielinnen. Die Autorin will die Begriffswelt neu besetzen und den Wandel der Perspektiven innerhalb der Forschung unterstützen.

    „Die Teile I und II stellen zwei Dinge klar. Erstens tritt die Venus-Kunst weltweit auf. Zweitens wird dem System der Venus-Symbole später ein neueres Symbolsystem übergestülpt, in dem das ausschließlich Maskuline zentral ist.“ (S. 17) Der erste Teil „Venus-Kunst Mutter-Kunst“ umfasst den kunsthistorischen Ablauf von 40.000 v.u.Z. bis zum Jahr 0. Der zweite Teil zeigt die Symbole in thematischer Gliederung, die Exegese wird durch alle Zeiten und Kulturen nebeneinandergestellt. Die Beispiele sind zeitlich, geografisch und thematisch geordnet, mit Bezügen zu Zahlen, Orten, Tieren, Pflanzen und kultischen Gegenständen, ergänzt um Erläuterungen zu Körperhaltungen, Körperteilen, Frisuren und Accessoires der Figurinen. Die Autorin nennt ihre Veröffentlichung eine „Pionierstudie“ (S. 14), der Rezensent eine Pionierleistung. Es ist ein Prachtband, drei Kilo schwer, schon von der Buchherstellung ein Blickfang. Die Sprache unserer Ursprungs-Mutter ist ein umfassendes, fundiertes und reich bebildertes Nachschlagewerk zur Geschichte der Menschheit, eine außerordentliche Quelle für die Kunstgeschichte. Die Autorin geleitet den Leser exzellent durch das Buch: durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, ein Resümee „Das Buch im Überblick“, Zusammenfassungen zu den einzelnen Kapiteln und verschiedenen Verzeichnissen und Registern.

     

    Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann. München: Carl Hanser, 2021. 285 S. ISBN 978-3-446-27100-5. € 24.00

      Die Ethnoarchäologin und Paläoanthropologin PatouMathis geht davon aus, dass über weite Strecken der Geschichte Frauen unsichtbar sind. Das trifft insbesondere auf die Ur- und Frühgeschichte zu. „Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen! Könnte es nicht sein, dass auch sie die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben? Neue Analysetechniken archäologischer Relikte, jüngste Entdeckungen menschlicher Fossilien und die Entwicklung der Geschlechterarchäologie haben viele überkommene Vorstellungen und Klischees infrage gestellt.“ (S. 9) Patou-Mathis wirft Fragen auf, die heute niemand genau beantworten kann, aber an deren stereotypen Deutungen sie zweifelt. Sie weist nach, dass es keinen Determinismus männlicher Überlegenheit, aber auch keinen linearen Fortschritt weiblicher Emanzipation gibt. Prähistorische Kunstwerke sind nicht per se von Männern gestaltet. Das ist eine Kampfansage an die von Männern dominierte Ur- und Frühgeschichte! „Die über eineinhalb Jahrhunderte lang von der Wissenschaft vergessenen prähistorischen Frauen sind zu einem ganz eigenen Forschungsgegenstand geworden und treten nun endlich aus der Unsichtbarkeit heraus, auf die sie so lange verwiesen waren. Mein Ziel ist es, ihnen ihren rechtmäßigen Platz in der menschlichen Evolution zurückzugeben.“ (S. 13) Und das gelingt der Autorin überzeugend.

      Zum besseren Verständnis beginnt sie ihre Ausführungen mit der prähistorischen Frau in der Literatur (Kapitel 1) und der Entstehung der Urgeschichte als wissenschaftliche Disziplin mit den Geschlechterkonzepten der bürgerlichen Epoche (Kapitel 2). Erst dann betrachtet sie die prähistorische Frau im Licht neuer Erkenntnisse der Geschlechterarchäologie anhand archäologischer Quellen wie Malereien, Statuetten, Grabbeigaben und Skeletten (Kapitel 3).

      Zum Abschluss weist die Autorin auf ewige Rebellinnen (Kapitel 4) hin, Frauen, die „klüger und mutiger als alle anderen und im wörtlichen Sinne außergewöhnlich“ sind, „denn um sich ihren Platz zu erobern, mussten sie ihre Ellenbogen einsetzen, die Gesellschaft konfrontieren und überzeugen“ (S. 153), mit Beispielen von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

      Es ist eine Streitschrift für einen neuen, anderen Blick auf die prähistorischen Frauen. Das ist originell, überzeugend, kurzweilig und spannend. Einziger Kritikpunkt: Es fehlen Abbildungen, die die Texte visualisieren.

       

      Janina Ramirez: Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus der Sicht der Frauen. Berlin: Aufbau, 2023. 516 S. ISBN 978-3-351-04181-6. € 28.00

        Die britische Kunsthistorikerin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin Janina Ramirez wirft in Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus der Sicht der Frauen einen anderen Blick auf das Mittelalter und stellt Frauenfiguren in den Mittelpunkt, die politisch, kulturell oder religiös einen Einfluss haben, die über eine „eigene Handlungsmacht“ (S. 13) verfügen. Immer noch gilt das Mittelalter als Zeit der Ritter, Päpste und Könige, in der Frauen unterdrückt und ausgeschlossen werden. „Die Frauen des Mittelalters sind alles andere als unauffindbar. Entwicklungen in der Archäologie, technische Fortschritte und eine Offenheit für neue Blickwinkel ermöglichen uns heute ihre Wiederentdeckung, es gibt so viele andere, neue Wege, sich der Geschichte und den Frauen in ihr zu nähern.“ (S. 11) Sie schreibt, wie auch die Autorinnen der vorgenannten Bücher, die Geschichte nicht um; sie verwendet dieselben Fakten, Gestalten, Ereignisse und Belege. Sie verschiebt aber den Fokus von den männlichen auf die weiblichen Persönlichkeiten.

        Es ist eine Entdeckungsreise durch neun Jahrhunderte. Für jedes Jahrhundert erläutert Ramirez an markanten Beispielen die Rolle der Frauen.

        Da ist das Familiengrab in Loftus in North Yorkshire aus dem siebten Jahrhundert („Manche Frauen haben, wie auch die mächtige Loftus-Prinzessin, keine Spuren in den Schriftquellen hinterlassen“ S. 92), die zwei frühmittelalterlichen Königinnen von Mercia mit dem Namen Cynethryth und Æthelfæd aus dem achten Jahrhundert, die Kriegerin von Birka in Schweden im zehnten Jahrhundert, die Mystikerin, Dichterin und natur- und heilkundige Universalgelehrte Hildegard von Bingen aus dem zwölften Jahrhundert („eine Frau, deren Stimme heute noch immer so laut erklingt wie vor 900 Jahren“ S. 294) sowie die englische Mystikerin Margery Kempe aus dem fünfzehnten Jahrhundert.

        Besonders zu loben ist der interdisziplinäre Blick, neben der Archäologie betrifft dies die Kunstgeschichte, Theologie und Literaturwissenschaft, und die großartige Recherchearbeit. Es ist ein Vergnügen, das Buch zu lesen. Es ist informativ, eine wunderbare Zusammenfassung zur Thematik.

        Dennoch ist das Buch immer dann unbefriedigend, wenn Ramirez ein Alleinstellungsmerkmal anmeldet. Dem ist nicht so. Es gibt schon mehrere Veröffentlichungen zum gleichen Thema wie die große mehrbändige Geschichte der Frauen von Georges Duby und Michelle Perrot (Band 2. Das Mittelalter. Frankfurt am Main 2012. 584 S.) oder von Susan Signe Morrison: Frauen des Mittelalters (rez. in fachbuchjournal 9 (2017) 5, S. 46) mit 21 Kurzbiografien u.a. zu Hrotsvit von Gandersheim, Mathilda von

        Schottland, Margaret von Beverley und Christine de Pizan. Es ist also zu fragen, ob wirklich alle bei Ramirez aufgeführten Frauen in Vergessenheit geraten oder aus der männlich geprägten historischen Forschung herausgeschrieben werden. Der Rezensent meldet Zweifel an, wie es am Beispiel der Hildegard von Bingen und der BirkaKriegerin anhand der umfangreichen Literatur nachweisbar ist. Übrigens: Gendern erleichtert nicht das Lesen, wie „… ein:e Elitekrieger:in war, der:die aus dem Sattel heraus kämpfen und schießen konnte“ (S. 152) oder „… eines:r Künstler:in“ (S. 200) zeigt.

         

        Frauen ergreifen das Wort. Flugschriften von Autorinnen der Reformation in heutigem Deutsch / Hrsg. Martin H. Jung, Friederike Mühlbauer. Paderborn: Brill Schöningh, 2022. XI, 194 S. ISBN 978-3-506-79192-4. € 49.90

          Im fachbuchjournal berichteten wir in der Sammelbesprechung Frauen in der Reformationszeit über das Buch von Peter Matheson: Argula von Grumbach (fachbuchjournal 9 (2017) 4, S. 40), die von den Schriften Luthers beeindruckt ist, mit Paul Speratus, Georg Spalatin und Andreas Osiander in Verbindung steht und Sendschreiben, Flugblätter und Broschüren verfasst, die eine weite Verbreitung finden. Sie hat keine theologische Ausbildung, denn für Frauen gibt es keine. Wie viele andere Laien ihrer Zeit bildet sie sich ihre Meinung durch beflissenes Lesen, durch aufmerksames Zuhören von Predigten und durch Diskussionen mit Laien und Predigern. Luther widmet ein Exemplar seines „bet buchlin“ eigenhändig „der edlen frawen Hargula von Stauffen tzu Grumpach“ (so Matheson S. 6). Im November d.J. ist es 500 Jahre her, dass mit der bayerischen Adligen und Gutsverwalterin Argula von Grumbach erstmals eine Frau mit der Publikation einer Flugschrift öffentlich Partei für die Reformatoren ergreift: „Wie eine christliche Frau die Hochschule Ingolstadt tadelt“ (S. 1-11).

          Mit ihren engagierten und provozierenden Reden und Schriften treten Frauen an die Seite von Luther, Melanchthon und anderer Männer. Sie ergreifen das Wort und bringen ihre Gedanken zu aktuellen Fragen der Reformation, „aber auch Gebete und Meditationen, Bibelauslegungen und katechetische Texte zu Papier.“ (S. IX.) Neben Argula von Grumbach sind dies u.a. die Straßburger Pfarrfrau Katharina Zell, die Frau eines kurfürstlichen Beamten im Amt Eisenberg in Kursachsen Ursula Weyda und die Regentin im viergeteilten Herzogtum BraunschweigLüneburg Elisabeth von Braunschweig und weitere, deren Namen wegen der anonym veröffentlichten Schriften unbekannt sind. Alle Texte von allen Reformationsfrauen zu veröffentlichen, hätte diesen Rahmen gesprengt. „So viele waren es!“ (S. X.) In dieser repräsentativen Auswahl fehlen u.a. die Äbtissin des Klarissenklosters in Nürnberg Caritas Pirckheimer, die Genfer Theologin und Schriftstellerin Marie Dentière und die Schweinfurter Dichterin Olympia Fulvia Morata.

          Im Gegensatz zu den Publikationen der Reformatoren stehen die der Reformatorinnen häufig nur in den schwer zugänglichen Originaltexten zur Verfügung. Diese Veröffentlichung bietet erstmals eine Auswahl der wichtigsten Texte von Reformatorinnen ungekürzt in heutigem Deutsch. Damit werden die religiösen, theologischen, gesellschaftlichen und politischen Ideen in einer für alle Interessenten lesbaren und verständlichen sprachlichen Form dargeboten. Eine wichtige Textsammlung, nicht nur für Theologen, sondern auch für Historiker, Literaturwissenschaftler und Germanisten. (ds) ˜

          Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­bliotheks­direktor an der Berg­aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

          dieter.schmidmaier@schmidma.com

           

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