Recht

Europa ist wichtiger denn je

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2020
Peter-Christian Müller-Graff, Armin Hatje

Bei Nomos ist der Startschuss für die 2. Auflage der auf zwölf Bände angelegten ­„Enzyklopädie Europarecht“ gefallen. Innerhalb von weniger als zwei Jahren sollen alle Bände auf den ­neuesten Stand gebracht werden. Für die beiden Gesamtherausgeber der Enzyklopädie, Prof. Dr. Armin ­Hatje und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian Müller-Graff, ist die europäische Idee lebendig und Eur ­ opa wichtiger denn je. Sie sind überzeugt, dass gerade die großen Herausforderungen der jüngeren Zeit die Mitgliedsstaaten bemerkenswert zusammengeschweißt haben. (ab)

Herr Professor Hatje, Herr Professor Müller-Graff, Anfang 2016 haben wir bereits einmal ein Interview über die „Enzyklopädie Europarecht“ geführt. Es endete seinerzeit mit der Aussage, dass wir eine demokratische Reform der Europäischen Union benötigen, die Verantwortlichkeiten präzisiert und dem Bürger mehr Einfluss auf die politischen Akteure verschafft. Vor dem Hintergrund des Stillstands in der Europäischen Asylpolitik, der autoritären Verfestigungen in einigen osteuropäischen Ländern, des faktischen Scheiterns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und natürlich nicht zuletzt dem Brexit-Drama und dem Umgang mit der Covid-19-Pandemie: Sind wir Zeuge des letzten Akts? Scheitert die europäische Idee?

Hatje: Ganz im Gegenteil. Gerade die Herausforderungen der vergangenen vier Jahre, nicht zuletzt die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über ein Austrittsabkommen, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bemerkenswert zusammengeschweißt und den Bürgerinnen und Bürgern deren essentielle Bedeutung für ihre global einzigartige Lebensweise deutlicher erkennen lassen. Die stark angestiegene Beteiligung an den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament darf man als Ausdruck dieses neuen Bewusstseins verstehen. Und die ­Covid-19-Pandemie hat die Mitgliedstaaten trotz aller Turbulenzen zur Bewältigung von deren wirtschaftlichen Folgen zu einem großen solidarischen Corona-Hilfspaket und der Einrichtung eines Post-CoronaWiederaufbaufonds unter dem Dach des EU-Haushalts zusammengeführt.

Und was kann eine 2. Edition der „Enzyklopädie Europarecht“ dazu beitragen?

 

Müller-Graff: Die Botschaft der Enzyklopädie findet sich in ihrem Titel: Das organisierte europäische Zusammenwirken gründet auf Recht. Insbesondere die Europäische Union ist eine beispiellose transnationale Rechtsgemeinschaft. Sie berechtigt ihre Bürgerinnen und Bürger, sie handelt auf rechtlicher Grundlage und sie agiert in rechtlich gebundenen Verfahren und Formen. Dies bedeutet aber auch, dass Schwächungen dieser Rechtsgemeinschaft, sei es der Vertragstreue oder der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat, für den Zusammenhalt der Union beunruhigend sind. Es ist klar, dass das Unionsrecht allein den Willen zum politischen Zusammenhalt nicht ersetzen kann. Aber man hat gerade jüngst in den wirtschaftlichen Herausforderungen der Covid-19-Pandemie gesehen, dass die unionsrechtlich begründete Verflechtung des gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraums und stabile gemeinsame Institutionen den Willen zur solidarischen Bewältigung fördern können. Die 2. Edition der Enzyklopädie bietet all denen, die in der rechtlichen Struktur dieses einzigartigen transnationalen Gemeinwesens Orientierung suchen, die unvergleichliche Möglichkeit, sich mit der Spannweite der Grundlagen und Einzelheiten professionell systemgeleitet auf dem neuesten Stand vertraut zu machen.

Entsprechend haben Sie nun den Startschuss für die 2. Auflage der „Enzyklopädie Europarecht“ gegeben. Innerhalb von weniger als zwei Jahren möchten Sie alle Bände auf den neuesten Stand bringen. Ist der Zeitpunkt gut gewählt?

Hatje: Aus unserer Sicht hätte es keinen besseren geben können. Je nach Einzelband sind mittlerweile drei bis sieben Jahre vergangen und in diesem Zeitraum haben sich das Unionsrecht und auch die europäische Rechtsprechung, in Reaktion hierauf auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in fast allen Bereichen erheblich entwickelt. In den letzten fünf Jahren sind wiederum zahlreiche Verordnungen und Richtlinien erlassen worden, die allesamt Einfluss auf das Leben der Bevölkerung in der Europäischen Union haben. Ein Beispiel unter vielen hierfür ist die Datenschutz-Grundverordnung. Ich glaube, jeder von uns hat, beruflich oder privat, erlebt, welchen Paradigmenwechsel der 25. Mai 2018 mit sich gebracht hat. Diese Entwicklungen zu begleiten und in die Systematik der Gesamtedition zu überführen, war eine der Aufgaben, vor denen wir standen.

Und wie steht es um die Brexit-Fragen? Man könnte meinen, Sie hätten den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abkommens schon zuvor gewusst, um unmittelbar im Anschluss die Edition herauszubringen.

Müller-Graff: (lacht) Der Zeitpunkt der 2. Edition ist natürlich unabhängig von diesem nunmehr entschiedenen Ereignis gewählt – übrigens auch unabhängig vom Beginn der neuen Amtsperioden des Europäischen Parlaments und der Kommission. Der Enzyklopädie geht es um die systematischen Zusammenhänge. Das Unionsrecht ist in seinen essentiellen inneren Gesetzmäßigkeiten weder vom Austritt des Vereinigten Königreichs noch von politischen Einzelprojekten betroffen. Es fügt sich aber, dass die Regeln der Trennung nunmehr nicht mehr spekulativ, sondern durch das Austrittsabkommen fixiert sind. Und für die Ausgestaltung des künftigen Verhältnisses seitens der Union lassen sich konsequente Folgerungen aus ihrer inneren rechtlichen Struktur ableiten. Vor diesem Hintergrund greift die 2. Edition die aktuelle Entwicklung auf und gibt Hinweise auf mögliche Folgerungen.

Wie hat man sich die Vorbereitungen für ein solches Mammutwerk vorzustellen, bei annähernd 300 Autorinnen und Autoren und zwölf Bänden?

Hatje: Zusammen mit dem Verlag haben wir natürlich sehr viel früher mit den Planungen begonnen. Zunächst einmal hat uns der Verlag vor fast drei Jahren Jahr grünes Licht für die Neuauflage aller Bände gegeben. Gleichzeitig waren wir uns darüber einig, dass wir erneut innerhalb eines überschaubaren Editionszeitraums alle Bände am Ende neu und aufeinander abgestimmt vorlegen wollen. Anschließend ging es um die Einzelabstimmung. Wir haben genau überlegt, wie wir die Vernetzung der einzelnen Beiträge herstellen und, vor allem, welche neue Themen in welchem Umfang einzubinden waren.

Bleibt alles beim Alten, was die Bandaufteilung angeht?

Müller-Graff: Wir folgen der Dynamik des Europarechts und weiten mit der 2. Edition diese auf zwölf Bände aus. Wir folgen noch konsequenter der inneren Systematik des europäischen Rechts und weisen mit dem neuen Band 9 zur „Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion“ und dem neuen Band 10, dem „Europäischen Freizügigkeitsraum – Unionsbürgerschaft und Migrationsrecht“, die Themen noch stringenter zu den operativen Hauptzielen der Union aus. Wir haben für beide neue Bände höchst fachkompetente Herausgeber gefunden: zum einen mit Herrn Professor Hufeld und Herrn Professor Ohler und zum anderen mit Herrn Professor Wollenschläger. Hieran können Sie auch die Aktua­lität der einzelnen Bände ablesen: Das Migrationsrecht wird in Band 10 eine wesentliche Rolle spielen, das neue Datenschutzrecht in verschiedenen Teilbänden, namentlich im Europäischen Grundrechtsschutz und im Europäischen Arbeits- und Sozialrecht seinen Niederschlag finden. Wir haben mit großer Sorgfalt in allen Bänden jeden einzelnen Beitrag nochmals gewichtet und überlegt, ob er im jeweiligen Band richtig platziert ist und die Querbezüglichkeiten genügend ausgewiesen sind.

Der Schwerpunkt der Neuauflage wird im Zeitraum 2020 bis Mitte 2021 liegen. Haben Sie keine Befürchtungen, dass gerade in diesem Zeitraum die europäischen Verträge neu verhandelt und, um den französischen Staatspräsidenten zu zitieren, sich „en marche“ befinden?

Hatje: Bei einer Gesamtdarstellung zum europäischen Recht läuft man immer Gefahr, vom Gesetzgeber überholt zu werden. Dabei kann es aber durchaus auch vorkommen, dass angenommene Änderungen nicht zustande kommen, so z.B. im Hinblick auf gescheiterte Freihandelsabkommen. Selbstverständlich beobachten wir auch während des Entstehungsprozesses der 2. Edition ständig die europäische Gesetzgebung und behalten uns auch vor, kurzfristig zuzuwarten, bis sich klärt, ob eine Regelung vom Gesetzgeber auch tatsächlich umgesetzt wird. Dabei müssen Sie beachten, dass der europäische Abstimmungsprozess zwischen Parlament, Rat und Kommission zum einen länger dauert als national, zum anderen bei Richtlinien immer auch mit Umsetzungszeiträumen versehen ist. Aber um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Nein, ich glaube im Augenblick nicht, dass die Verträge eine größere Änderung erfahren werden. Im Übrigen: Mit der Neuwahl des Europäischen Parlaments ist die Zahl der verschiedenen zur Europäischen Union vertretenen Positionen gewachsen. Umso mehr ist es in einem solchen gesellschaftlichen Umfeld wichtig, die Struktur des europäischen Rechtskosmos präzise darzustellen und, auf dem neuesten Stand, der Fachöffentlichkeit damit zu helfen, Argumente und Positionen zu finden bzw. die Leistungsfähigkeit des gesetzten Rechtsrahmens sichtbar zu machen.

Gibt es sonst noch wesentliche Veränderungen?

Müller-Graff: Die Anzahl der beteiligten Autoren ist, namentlich auch durch die neuen Bände, angewachsen, ansonsten bleibt es bei den Grundkoordinaten. Die erfreulicherweise durchgehend positiven Rezensionen haben keinen Anlass gegeben, am Grundzuschnitt etwas zu ändern. Es ging vor allem um die Ausbalancierung und Verortung der vorhandenen mit den neuen Themen. Die Kontinuität besteht auch auf Seiten des Verlages. Dort arbeiten wir mit den gleichen Personen vertrauensvoll seit Jahren zusammen. Den zu erwartenden Zuwachs der Enzyklopädie auf über 13.000 Seiten trägt der Verlag mit. Es wird auch wieder die parallele Online-Anbindung im Rahmen der eBibliothek des Nomos Verlags geben, die Kooperationspartner in der Schweiz und Österreich sind auch wieder mit im Boot. Es wäre aber falsch, dabei von Routine zu sprechen. Dafür sind die vielen neuen Themen und der Anspruch, die wesentlichen Teile des europäischen Rechts „faktensicher“ darzustellen, viel zu herausfordernd. Herausgeber, Schriftleitung – die wieder in den Händen unseres Kollegen Jörg Philipp Terhechte liegt – und Verlag sind sich der herausfordernden Aufgabenstellung bewusst.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian ­Müller-Graff, MAE Seit 1982 Universitätsprofessor; seit 1994 an der Universität ­Heidelberg: Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung und Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht. Sprecher des Europäischen DFG-Graduiertenkollegs „Systemwandel und Wirtschaftsintegration im zusammenwachsenden ­Europa“. Vorsitzender: ­Arbeitskreis Europäische Integration Deutschland. Mitglied u.a.: International Max Planck Research School „Successful International Dispute Resolu­tion“, Kur ­ atorium Europäische Rechtsakademie.

 

Prof. Dr. Armin Hatje 1997–2006 Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europaund ­Völkerrecht an der Universität Bielefeld und Vorstandsmitglied des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht. Seit Oktober 2006 Geschäftsführender Direktor der Abteilung Europarecht in Hamburg; seit 2007 ­Direktor am Institute for European Integration am EuropaKolleg in Hamburg. Seit 2009 Co-Chair des Master Committee der ­China-EU School of Law in Peking. 2009–2010 Koordinator des Konsortiums der ChinaEU School of Law, Peking; seit 2012 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht; seit 2013 Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg; seit 2014 European ­Co-Dean der China-EU School of Law in Peking.

 

 

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