Anthropologie

Ellinor Schweighofer

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2018

Ellinor Schweighöfer (2018): Vom Neandertal nach Afrika: Der Streit um den Ursprung der Menschheit im 19. und 20. Jahrhundert. In der Reihe: Geschichte der Gegenwart (hrsg. von Frank Bösch und Martin Sabrow) Bd. 17, Wallstein Verlag, Göttingen, 424 S., 9 Abb., geb. m. SU, ISBN 978-3-8353-3209-6. € 36,00

Über lange Zeiten konnten nur Mythen Antworten auf den Ursprung und die Geschichte der Menschheit geben. Das änderte sich 1859 schlagartig mit Charles R. Darwins epochalem Werk „On the Origin of Species“, in dem der „bedeutendste Pfadfinder der Wissenschaft“ (sensu Eve-Marie Engels) die Entstehung der Arten durch einen selbstorganisatorischen Anpassungsprozess via Selektion beschrieb. Zwar erwähnte er den Menschen nur mit dem berühmten Satz: „Light will be thrown on the origin of man and his history“, aber jedem war die paradigmatische Bedeutung seiner Theorie schlagartig klar: Die Schöpfungsgeschichte des Buchs Genesis ist obsolet, auch der Mensch hat eine real-historisch-genetische Geschichte – eine Evolutionsgeschichte.

Der Zoologe Thomas H. Huxley erkannte 1863 in „Evidence as to Man’s Place in Nature“, dass sich damit die Frage aller Fragen stellte und die Spurensuche „nach der frühesten Vergangenheit des Menschen in Zusammenhang mit seiner gesamten Identität, seinem Potential und seiner Zukunft“ eingeläutet war (s. S. 7).

Die Geschichtswissenschaftlerin Ellinor Schweighöfer geht in ihrem voluminösen Band der Suche nach der Wiege der Menschheit nach und analysiert sowohl die wissenschaftliche als auch die öffentliche Diskussion um unseren Ursprung. Dabei sollte der einfache Titel nicht zu der Annahme verleiten, es handele sich um eine populärwissenschaftliche Darstellung à la Herbert Wendts Ich suchte Adam oder Friedemann Schrenks Die Frühzeit des Menschen. Schweighöfers Dissertation will kein weiterer fossilkundlicher Bestseller über unseren evolutiven Eigenweg sein, der „nicht selten ohne detaillierte Plausibilisierung unter Anführung von Schlagwörtern wie Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus oder allgemein des jeweiligen Zeitgeists als pauschale Begründung [geschieht]“. Ziel ihres analytischen Diskurses ist es, „[d]iese immer wiederkehrenden Narrative […] auf einer quellengestützten Basis zu hinterfragen und so zu untermauern oder zu dekonstruieren“ (S. 17).

Die Autorin versteht ihren Diskurs im Sinne Foucaults, der es ermöglicht, wiederkehrende Elemente, „wie narrative Muster, Leiterzählungen, Verifikationsstrategien usw., in ihrer jeweiligen zeitgenössischen Ausprägung punktuell [zu] untersuchen und Typologien (S. 23)“ zu erstellen; es geht ihr also nicht um Wissenschaftsgeschichte, sondern Wissensgeschichte, indem sie versucht, in ihrer diachronen Analyse die Wechselwirkungen zwischen Weltanschauung, Politik und Wissenschaft deutlich zu machen. (vgl. auch Ulrich Johannes: http://ul.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/14922/A56-Wissensgeschichte.OCR.pdf). Der Quellenkorpus setzt sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Literatur, sondern auch aus medialen Publikationen, internen Schriften und Nachlässen einzelner beteiligter Wissenschaftler zusammen. Schweighöfer wählt als Hintergrund für ihren vorwiegend auf Deutschland und Großbritannien fokussierenden Diskurs „transnationale Medienereignisse“, als welche sie bedeutende Fossilfunde annimmt, „da sie virtuell gemeinsames Wissen und damit auch eine virtuelle Vergemeinschaftung stiften“ (sensu Claus Leggewie). Da ist zunächst der Fund des ersten Neandertalers von 1856, der zusammen mit Darwins Abstammungslehre zu einem

Schlüsselereignis wurde, an dem sich die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik bei sorgfältiger Analyse des breiten Fundus wissenschaftlicher Literatur und populärwissenschaftlicher Medien deutlich abzeichnen und an dem der eurozentrische, ja eurozentristische und rassistische Blick auf unseren Ursprung deutlich wird. Die Geschichte der Evolutionsbiologie und Paläoanthropologie ist auch eine Geschichte der Missverständnisse, z.B. der Vorstellung, dass es ein missing link, ein Übergangswesen von einem affenartigen zum menschlichen Stadium, gäbe, wofür sehr bald der Neandertaler, wenn auch nicht lange wissenschaftlich, gehalten wurde.

Aber man jagte, suchte und fand sehr bald lebende missing links, wie z.B. Krao, ein aus SO-Asien stammendes, dicht behaartes Mädchen. Die Geschichte über das vermeintliche Bindeglied ist ein abschreckender Diskurs über die vorurteilsbeladene Beziehung zwischen Evolution, Imperialismus und primitiver Sexualität, die Schweighöfer fesselnd darlegt. Die Verlagerung des menschlichen Ursprungs nach SO-Asien hatte der Jenaer Mediziner und Zoologe Ernst Haeckel in seinen Abhandlungen zur natürlichen Schöpfungsgeschichte hypothetisiert, und es gehört zu den kuriosesten Ereignissen der Fundgeschichte, dass ausgerechnet der auf Java stationierte Militärarzt Eugène Dubois 1891/92 dort nach Fossilien grub und fündig wurde. Ellinor Schweighöfer arbeitet die Fundgeschichte des aufrechtgehenden Affenmenschen – Pithecanthropus erectus – facettenreich auf und belegt eindrucksvoll, wie „die Suche nach und die Argumentation über Fossilien in der Frage nach Ursprung und Abstammung zum üblichem Vorgehen und zur Normalität wurde“ (S. 179). Der dritte spezielle Fokus gilt der scientific community Großbritanniens, die das von John Cooke stammende Buchcover „Discussion on the Piltdown Skull, 1915“ schmückt. Dass der führende Anatom Sir Arthur Keith und seine wissenschaftlichen Mitstreiter den Piltdown Man, der von dem Juristen und Hobbyarchäologen Charles Dawson 1912 entdeckt worden war, nicht als Fälschung entlarvten, sondern dies erst 1953 Kenneth Oakley und seinen Mitarbeitern mit innovativen Datierungsmethoden gelang, zeigt, wie selbsterfüllende Prophezeiungen, eurozentrische Vorurteile und mangelnde Diagnosemethoden hier zusammenwirkten und die Geschichte über den Ort der Menschwerdung verfälschten. Schweighöfer schreibt: „Auch Kenneth Oakley […] erschien der Fund des Piltdown-Menschen, eines »ancient British ›missing link‹«, entdeckt und vorhergesagt von Engländern, retrospektiv als Antwort auf das nationalistische Klima der Zeit“ (S. 285). Das fünfte Schlüsselereignis betrifft den Kinderschädel, der 1925 in Taung in Südafrika gefunden wurde. Der Johannesburger Anatomieprofessor Raymond Dart beschrieb das sog. „Taung-Baby“ als Australopithecus africanus und leitete da- mit gegen vehementen wissenschaftlichen und ideologischen Widerstand einen Perspektivwechsel ein, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Etablierung von Afrika als Ursprungsort der Menschheit führte.

Die Kulturwissenschaftlerin Ellinor Schweighöfer beschreibt facettenreich die Inszenierung und Politisierung Südafrikas im Rahmen paläoanthropologischer Schlüssel-Debatten und belegt, dass „der südafrikanische Wissenschaftsstandort […] für die europäischstämmigen Afrikaner in keinem Widerspruch zu der Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung [stand]. Die neuen Erkenntnisse über den Ursprung des Menschen waren nicht einheitsstiftendes Moment, sondern wurden in die koloniale Rechtfertigungsnarrative eingelesen, um die mutmaßliche ›weiße Überlegenheit‹ zu bestärken“ (S. 294). Da die Autorin umfangreiches neues Quellenmaterial aus deutschen, britischen und amerikanischen Archiven zu der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam vollziehenden „weitläufigen Dekonstruktion des Menschen als Abbild Gottes“ präsentiert, „hin zu einer Rekonstruktion des Menschen aus fossilen Knochen“ (S. 374), gelingt es ihr gleichzeitig deutlich zu machen, wie es damit zu einem „negativen Blick auf außereuropäische Völker“ (S. 375) kam und sich das Superior-inferior-Denken verfestigte. Die „Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften“ sensu Max Weber, hatte schwerwiegende ‚Kollateralschäden‘, womit der von mir gewählte euphemistische Begriff die damit verbundene Tragik des Sozialdarwinismus, Rassismus und Kolonialismus unzulässig verharmlost. Es ist das besondere Verdienst, dass Schweighöfer in ihrer Dissertation über den menschlichen Ursprung diverse diskursive Stränge, z.B. zum Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus oder Nationalismus deutlich macht, und damit ihrem erklärten Ziel nahe kommt, zu zeigen, „[w]arum die an Fossilien orientierte Diskussion über den menschlichen Ursprung so verlief, wie sie verlief, […] mit gesellschaftlichen Auffassungen zu klären [ist]“ (S. 377). Selbst evolutionäre Anthropologen, die mit der Thematik vertraut sind und darüber hinaus für die kulturwissenschaftliche Perspektive Interesse haben, wie z.B. von P. J. Bowler: Theories of Human Evolution; C. Goschler: Virchow; O. Hochadel: Knochenarbeit; C. Kretschmann: Wissenspopularisierung; M. Sommer: Bones and Ochre, werden neben vielen déjà vus mit zahlreichen neuen wissensgeschichtlichen Aspekten konfrontiert und zu regen Debatten angeregt. Und für interessierte Laien ist der Band eine äußerst anregende, wenn auch anspruchsvolle Lektüre, die bisweilen den kulturwissenschaftlichen Jargon etwas überzieht.

Dass einige Positionen auch recht kritisch bewertet werden können, sei nur kurz erwähnt; das betrifft u.a. die bisweilen eigenwillige Literaturauswahl, wenn z.B. Hermann Klaatsch, der Breslauer Anatomieordinarius, und Corinna Erckenbrechts biographische Dissertation Auf der Suche nach den Ursprüngen (Köln 2010) übergangen werden, oder wenn die Neuausrichtung der Paläoanthropologie nach dem II. Weltkrieg sehr einseitig an den fossilkundlichen Erfolgen, wie denen von Louis und Mary Leakey, ausgerichtet wird. War es doch der komplexe vergleichend-primatologische Ansatz, der der Paläoanthropologie durch die Primatenforschung im Labor und die Verhaltensforschung im Feld zusammen mit der Soziobiologie von E.O. Wilson und dessen New Synthesis ein völlig neues Gesicht gab, gefolgt von der Paläogenetik am Ende des Jahrhunderts (siehe Henke in: Henke & Tattersall (2007; 2015): https://www.youtube.com/watch?v=gOQinB_RO9c.). Dass die Autorin die Paläoanthropologie der 2. Hälfte des 20. Jh. wissenschaftshistorisch zu einseitig auf die Fossilkunde reduziert und damit an die Sichtweise von Humanpaläontologen anschließt, ist bedauerlich. Auf den negativen Aspekt einer „fossil-driven und journalism-driven science“, die der Ökonomie der Aufmerksamkeit in den Medien folgt, wobei sie leider meist oberflächlich und selbstbezogen von einigen Protagonisten unterstützt wird, hatte der Rezensent mehrfach hingewiesen (s. Henke: Zur narrativen Komponente einer theoriegeleiteten Paläoanthropologie, S. 83-104. In Balz Engler (Hg.) Erzählen in den Wissenschaften, 2010, Academic Press Fribourg).

Nicht nur die Paläoanthropologie, sondern alle Wissenschaft ist Menschenwerk, und „als Wissenschaft wird das definiert, was anerkannte Wissenschaftler als Wissenschaft anerkennen“ (sensu Erwin Chargaff). Schweighöfers intelligente und teilweise beklemmende wissenshistorische Retrospektive mahnt uns zu sorgfältiger wissenschaftlicher und moralischer Reflexion. – Ja, und dann gibt‘s noch die Petitesse, dass ich mehrfach, auch ausführlich, als Winfried Härke zitiert werde, was ich ganz leidenschaftslos sehe, aber Lektoren ernst nehmen sollten. (wh)

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