Im Fokus

Ein Buch wie eine Therapiedecke

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2020

Das Jahr 1990 freilegen

2020 besteht das vereinte Deutschland 30 Jahre. Aufgearbeitet sind das Ende der DDR, das Ende der BRD und der Weg zu einem Deutschland noch nicht.

Die Ereignisse, die 1990 auf den Fall der Mauer folgten, sind weder Teil eines kollektiven Gedächtnisses, noch sind sie für viele Deutsche individuell abrufbar. Dabei ist die Auflösung eines Staates in so kurzer Zeit ein gewaltiger Akt, der auf allen Ebenen Konsequenzen bedeutete und auch 30 Jahre später noch nachwirkt.

Nun gibt es ein Buch, das diese Wissenslücke füllt. Es widmet sich intensiv und in einzigartiger Form der Komplexität der Wiedervereinigung und des Jahres 1990 mit allen seinen Konsequenzen. Es fordert uns dazu auf, uns mit diesem Jahr, mit seinen Möglichkeiten und Wirklichkeiten auseinanderzusetzen und es in unser gesellschaftliches Bewusstsein zurückzuholen. Das macht dieses Buch auf eine so charmante, wie eindrückliche Weise, dass es durchaus als einer der wichtigsten Beiträge zu diesem Abschnitt der deutschen Geschichte bezeichnet werden kann.

Für dieses Buch, für diese vielen Bücher in einem, Das Jahr 1990 freilegen, gibt es so viele Herangehensweisen, wie es Seiten gibt und vielfältigste Beschreibungen. Bergwerksbuch, Lesebuch, Künstlerbuch, Materialsammlung, Fotobuch, archäologisches Buch, Rhizom. Jan Wenzel hat gemeinsam mit einem Team an Fotografen und Autoren ein umfassendes Kunstwerk geschaffen. Mit Präzision werden freigelegt – und hier muss man immer ein gedankliches „unter anderem“ beifügen: fotografische Archive und Tagebücher, die Verengung der Chancen der DDR sowie der vorgelagerte historische Konjunktiv eben dieser Chancen, Aufbruchsstimmung und folgende Enttäuschungen, Emanzipation und verweigerte Souveränität, Nelson Mandela und die ersten Mobiltelefone (schätzungsweise im ähnlichen Format wie das Buch).

Die Frage, ob man sich mit der Wendezeit auseinandersetzen möchte, dürfte sich im Grunde nicht stellen. Man sollte es einfach tun. Alles, was dazu nötig ist, findet sich in diesem Werk im Telefonbuchformat einer Millionenstadt.

– Was 1990 passiert ist, wie sich 1990 angefühlt hat, wie 1990 ausgesehen hat oder was 1990 mit 2020 zu tun hat. Tatsächlich funktioniert es auch wie ein Telefonbuch, da es keineswegs den Anspruch an den Leser hat, vorne zu beginnen und hinten zu enden. „Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise.“ (Deleuze/Guattari zitiert in Das Jahr 1990 freilegen, S. 461) Es gibt eine Chronologie, vom 15. Januar 1990 bis zum

2. Dezember 1990, an der man sich orientieren kann, man muss es aber nicht. So viele Aspekte und Versionen der historischen Entwicklung werden beschrieben, ein Einstieg ist auf jeder Seite möglich. Es gibt Geschichten von Alexander Kluge, die ein fiktionales „Was wäre wenn“, eine Gegenposition zu belegten Fakten eröffnen. Die wundersame Welt des Ibrahim Böhme, ein anderer Anfang. Farbfotografien aus einem Krankenhaus oder aus dem ersten Sexshop der DDR. All dies sind Möglichkeiten, der Geschichte zu begegnen, und um sie zu verstehen.

Das Buch wiegt zweieinhalb Kilo und umfasst fast 600 Seiten, und hätte man irgendwie die Chance, beim ­Lesen des Buches mit selbigem auf der Brust einzuschlafen, könnte man sich die 200 Euro für eine Therapie­decke sparen.

Dazu wird es allerdings nicht kommen. Form und Inhalt gestatten es nicht, sie verlangen zu Recht ein Durcharbeiten am Schreibtisch. Denn es ist nicht nur ein Buch, es ist in gewisser Weise ein Kunstobjekt und in der intensiven Auseinandersetzung damit wird man feststellen, was man alles nicht wusste und man wird erstaunt sein. Darüber wie diese Arbeit es schafft, aufzuarbeiten ohne Allmachtsfantasien, mit einer Leichtigkeit und ohne erhobenen Zeigefinger.

Über das mitreißende Layout, das an Rolf Dieter Brinkmann erinnert. Über die Momente eines Jahres, das ich erlebt habe, ohne dabei gewesen zu sein. Alles an diesem Objekt ist erstaunlich.

 

Doppelseite aus dem Buch „Das Jahr 1990 freilegen“

 

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