Landeskunde

Durchlesen, hinfahren!

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2022

Shikha Jain, Vinay Sheel Oberoi (eds.), Rohit Chawla (photo ed.): INDIA. UNESCO World Heritage Sites. (Text: Englisch), 240 S., 250 farb. Abb., München: Hirmer 2021. 240 S., 250 farb. Abb., geb., ISBN 978-3-7774-3571-8, € 49,90.

Hätte doch der Großmogul Shah Jahan (1592–1666) seinen Plan umsetzen und gegenüber dem Taj Mahal auf der anderen Flussseite auch noch sein eigenes Grabmal, diesmal ganz aus schwarzem Marmor, hinzufügen können: was für ein Ensemble! Aber es kam anders: der Sohn, der knauserige Aurangzeb, setzte den Vater wegen dessen Verschwendungssucht im Fort von Agra fest und führte ein Leben im Feldlager im Süden, wo er es während seiner fast fünfzigjährigen Regierungszeit fertigbrachte, den Staatsschatz in unzähligen Kriegen zu verschleudern. Außer einem gewaltigen Schuldenberg blieb davon – nichts. Wie so oft, hat auch hier das künstlerische Erbe den militärischen Erfolg weit überlebt – wer besucht heute noch Aurangzebs schmuckloses Grab in Aurangabad? Die Hindus grollen dem muslimischen Eiferer, doch Millionen Besucher aus aller Welt bewundern das steinerne Denkmal einer übermäßigen Liebe.

Man hat dem vorliegenden Prachtband, der nun zum ersten Mal sämtliche 38 Welterbe-Denkmäler des Subkontinents vereint, wegen seiner Herkunft aus einer UN-Behörde und seiner protokollarischen Akribie den Charme einer Einkommensteuererklärung vorgeworfen; die Fotos seien zusammengekauft und konventionell, ja lieblos. Mag sein, dass das eine oder andere Bild den Ansprüchen eines Hirmer-Verlages nicht gewachsen ist – aber was heißt das bei einem derartigen Fundus an Motiven, von denen viele zu den am häufigsten fotografierten der Welt zählen! Indien besitzt nach Italien, Deutschland, Spanien, Frankreich und China die meisten Weltkulturerbestätten, und wenn man die beigelegte Vorschlagsliste durchschaut, warten dort noch weit mehr Objekte auf ihre Aufnahme – alles großartige Kultur-, Natur- und Landschaftsstätten, von denen jede einzelne die Zulassung wert ist.

Indien war beim UN-Projekt „Weltkulturerbe“ von Anfang an mit dabei, wollte man doch dem Tourismus neuen Schwung verleihen. Lagen die Schwerpunkte anfangs noch auf den kulturellen Stätten, so traten nach und nach auch Naturparks hinzu, später ganze Ensembles wie die Bergfestungen Rajasthans oder die Himalaya-Eisenbahnen in Simla und Darjeeling. Die Zuständigkeit für die Stätten lag und liegt zwar bei verschiedenen Ministerien wie Eisenbahn und Forsten, aber das letzte Wort hat – Gott sei Dank – der Archaeological Service of In­ dia (ASI), Nachfolgeorganisation der altehrwürdigen Asiatic Society von 1784. Überall im Land begegnet man dem segensreichen Wirken dieser Unterabteilung des Kultusministeriums in Delhi, die die dreieinhalbtausend Kulturstätten des Subkontinents unter ihre schützenden Fittiche genommen hat – hier herrschen ausnahmsweise einmal nicht die Bürokraten des ansonsten sehr tüchtigen Indian Civil Service (ICS), sondern Fachleute, oft Archäologen.

Das gewaltige Coffeetablebook-Format hat natürlich seine Nachteile: zum schnell-mal-Durchblättern ist es zu schwer, zum raschen Überfliegen zu umfangreich und anspruchsvoll. Wer sich aber die Zeit nimmt, die sauber dokumentierten, den Bildern und Texten vorangestellten Angaben zu den Objekten nachzulesen und die Beschreibungen durchzugehen, der wird sich bald festlesen und immer wieder zu dem Band greifen. Dreißig der vorgestellten Ziele gehören der kulturellen Sphäre an, sieben zählen zu den Naturerbe-Stätten, und eine ist gemischter Art; die hervorragende Übersichtskarte zu Beginn vermittelt einen guten Eindruck von Art und Lage der jeweiligen Stätte.

Beim Durchblättern fällt auf, wie vielfältig das Erbe des Kontinents ist: von den ältesten Monumenten in Sanchi, Ajanta und Ellora, die alleine eine Reise wert sind, über die mittelalterlichen Tempel und Städte im Zentrum und im Süden, die Mausoleen, Forts und Brunnen der frühen Neuzeit bis hin zu den Bauten der Moderne reicht das Spektrum, vom Buddhismus über Jainismus, Parsismus, Hinduismus und indisches Urchristentum bis zum Islam der Eroberer. Die Spannweite reicht von den Naturparks im Norden (Himalaya), Osten (Sundarbans, Kaziranga) und Westen (Western Ghats) bis zu den technischen Denkmälern der Gegenwart wie den Gebirgsbahnen, mit denen man einmal im Leben gefahren sein sollte. Städte wie Ahmedabad oder Orte wie Champaner in Gujarat zählen zu den unbekannteren Zielen, und ein bis in die 1960er Jahre noch zur Gänze im Wüstensand versunkener Brunnen, der Rani ki vav, der „Brunnen der Königin“, dürfte auch eingefleischten Indienkennern noch einen Abstecher wert sein.

Einer, der seine Indienreise auf unvergessliche Weise beschrieben hat, war der amerikanische Schriftsteller Mark Twain; sein Eindruck: „Es gibt nur ein Indien! Es ist das einzige Land, das über ein Monopol an großartigen und überwältigenden Eigenheiten verfügt. Wenn ein anderes Land etwas Bemerkenswertes besitzt, hat es dies nicht für sich allein – irgendein anderes Land besitzt ein Duplikat. Aber ­Indien – das ist etwas anderes.“1 Wem das zu enthusiastisch ist, der schaue in die Vorschlagsliste, die sich am Ende dieses eindrucksvollen Bildbandes befindet; dort stehen weitere Aufstiegskandidaten in die Welterbeliste – Dutzende Highlights dieses an Höhepunkten wahrlich nicht armen Landes.

Ein Snob, wer diesen Band als schnödes Behördenprodukt abtut. Durchlesen, hinfahren! (tk)

1 Mark Twain, Dem Äquator nach, Kap.24

 

 

Mehr als nur ein Kochbuch

Dr. Thomas Kohl

Sharayu Gupte. Niteen Gupte: Nicht ohne Teufelsdreck! Eine Kastenküche aus dem indischen Westen, übs. aus d. Marathi u. mit Kommentaren sowie ­Ergänzungen hgb. von Niteen Gupte. Wien: Mandelbaum 2021, 200 S., geb., ISBN 978385476-899-9, € 25,00.

Etwa 150 indische Originalrezepte sind hier versammelt, alle aus dem Westen des Landes, und alle von Großmutter Sharayu, Jahrgang 1927, für die in Europa lebenden Enkelinnen aufgezeichnet – ein Querschnitt durch die traditionelle Küche, wie sie in der Familie Gupte in Mumbai Tag für Tag auf den Tisch kam. Damit nicht genug, hatte auch die Urgroßmutter noch besondere Rezepte für das Wochenbett beigesteuert. Beide gehören sie, ebenso wie der Herausgeber, zur Kayasth-Kaste – genauer gesagt, der Chandraseniya Kayastha Prabhu (CKP), einer der unzähligen Unterkasten des indischen Kontinents. Denn das stellt der Herausgeber, der seit langem in Köln lebt, von vorneherein fest: die „indische“ Küche gibt es nicht, so etwas spukt nur hierzulande auf den mehr oder weniger auf europäischen Geschmack ausgerichteten Speisekarten der sogenannten „indischen“ Restaurants herum. In Indien isst man differenziert, je nach Region, Geschlecht, Religion und Kaste unterschiedlich – allen gemeinsamen Grundzügen zum Trotz.

Das schön aufgemachte, handliche Bändchen mit dem griffigen Titel ist das jüngste aus der Kochbuchreihe des Mandelbaum-Verlags, der mit der Entdeckung ausgefallener ethnographischer Kochbücher (feine gourmandisen) wohl eine ähnliche Goldader angeschlagen haben dürfte wie ein anderer Verlag mit seinen Katzenkalendern. Dass hier jedoch nicht nur eine erfolgreiche Reihe mit beliebigem Inhalt gefüllt wird, spürt man schon bald nach dem ersten Hineinschauen: der Germanist, Kunsthistoriker, Autor und Künstler Niteen Gupte, der das auf Marathi verfasste Rezeptheft seiner Familie nun auf Deutsch zugänglich gemacht hat, führt uns als Kenner beider Welten – Indiens und Deutschlands – mit Geduld und Sorgfalt in die sonst schwer zugängliche Welt des Essens auf dem Subkontinent. Und da gibt es auch für Eingeweihte noch Überraschungen!

Was die Rezepte, die Zutaten und die Zubereitung im Einzelnen angeht, so deckt das Büchlein mit seiner Anordnung nach „Grundsätzlichem“, „Hülsenfrüchte“, „Gemüse“„Fisch, Fleisch, Eier“,„Getreide“, „Zuspeisen“, „Süßspeisen“, „Frühstück und Zwischenmahlzeiten“, „Fastenkost“, „Riten und Diät“, „Getränke“ das Spektrum dessen ab, was man von einem Kochbuch zu Recht erwarten darf. Erste Überraschung: „Fisch und Fleisch“ scheinen dem Ausländer mit Indien unvereinbar zu sein, aber dass die vegetarische und gar vegane Kost – je nach Region, Kaste und Religion – auch in Indien nur zur Ausnahme zählt, dürfte manchen überraschen. Auch Brahmanen essen in Bengalen oder an der Konkanküste mit großem Appetit Fisch, und selbst der Fleischgenuss ist für viele Hindus nur in manchen Kasten tabu. Die Filettieranweisung für Fischgerichte ist daher hier durchaus am Platze. Zweite Überraschung: tabu sind zahlreiche kopfartige, unter der Erde wachsende Gewächse wie Zwiebeln oder Knoblauch – womit wir beim „Teufelsdreck“ wären. Dieses recht streng riechende Kraut (Asa foetida, marathi hing) wächst nämlich überirdisch und enthält einen stark nach Knoblauch schmeckenden Milchsaft, der unter anderem auch in der berühmt-berüchtigten Worcestersauce vorkommt. Asa foetida ist also als rituell reiner Ersatz auch in der „Brahmanenküche“ willkommen. Warum aber die in Indien überaus beliebte Kartoffel, die ja ebenfalls knollenförmig unter der Erde heranwächst, noch dazu von den christlichen Portugiesen eingeführt, nicht unter die Nahrungsverbote fällt, wird wohl ewig ein Geheimnis der Inder bleiben.

Überhaupt die Ge- und Verbote der Küche (oder sollte man besser sagen: der Küchen?) Indiens! Wenn Niteen Gupte von Reinheits- und Zubereitungsvorschriften spricht, betont er stets, dass es sich im Wesentlichen um Anweisungen handelt, die die eigene Gruppe, die Kayasth, betreffen – andere Kasten, andere Sitten! Die Kayasth verehren den Schreibergott Citragupta als Ahnherren und waren schon den Moguln und Briten in Verwaltung und Staatsdienst unentbehrlich, sprachgewandt, weltoffen und anpassungsfähig, wie sie waren. Premcand, der Autor des Romans „Godan“, war Srivastav-Kayasth und Drehbuchautor, Druckereibesitzer und Urdu-Poet zugleich – ein typischer Kayasth, der wenig auf Vorurteile hält, die Welt mit scharfem Blick betrachtet und sie nimmt, wie sie ist. Dass man sich durch Unvoreingenommenheit, Intelligenz, Fleiß, Ehrgeiz und eine beachtliche Integrität einen Spitzenplatz in der Kastenhierarchie erkämpft hatte, bescheinigten die Briten den Kayasth bereits um 1900, merkten allerdings auch an, sie hätten eine gewisse Reputation als „harte Trinker“…1

Es zählt zu den Stärken dieses Kochbuchs, dass neben den üblichen Angaben der Zutaten, Mengen und Zubereitung immer wieder Hinweise zu Essgewohnheiten und -sitten eingeschoben sind, oft mit Hinweisen auf inzwischen geänderte Verhaltens- und Lebensweisen. Die feinen Zeichnungen des Autors und zahlreiche Schwarzweiß-Zeichnungen illustrieren die Rezepte, ein marathi-deutsch-lateinisches Zutatenglossar und ein Rezeptregister machen das Nachschlagen einfach. Wer mehr wissen will, dem hilft das Literaturverzeichnis im Anhang weiter.

Ein Tipp noch: lesen Sie das Buch nicht mit leerem Magen – das Wasser läuft lhnen im Mund zusammen! (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuch­ handel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

1 Russell/Lal, Tribes and Castes of the Central Provinces, Bd.3 (1916), S.404 ff. – Der Koautor Lal war selber ein Kayasth und musste es wissen!

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