Im Fokus

Diese Frage gilt es zu beantworten: Was können wir selbst zur Verteidigung unserer ­Freiheitsrechte tun.

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2019

Das 1949 verabschiedete Grundgesetz und die dort verankerten Grundrechte sind das feste Fundament unserer Demokratie. Aber sind wir uns ihrer Bedeutung noch bewusst? In ihrem Buch „Angst essen Freiheit auf“ plädiert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger leidenschaftlich für eine neue Wertschätzung der Grundrechte und fordert, dass wir unsere Grundrechte schützen müssen. Über das wichtige Buch sprach ich am 26. März in einem Telefoninterview mit der ehemaligen Bundesjustizministerin und wehrhaften Demokratin. (ab)

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Angst essen Freiheit auf. Warum wir unsere Grundrechte schützen müssen. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. 208 S., Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8062-3891-4, € 18,00

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war von 1992 bis 1995 und von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz. 23 Jahre gehörte sie dem Deutschen Bundestag an. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 2003 bis 2009 war sie im Ausschuss für Recht und Menschenrechte. Die FDP-Politikerin ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und seit 2019 Antisemitismusbeauftragte des Landes NordrheinWestfalen.

In ihrer ersten Amtsperiode als Bundesministerin der Justiz trat sie 1995 zurück, weil sie den „Großen Lauschangriff“ ablehnte, gegen den sie dann mit Erfolg Verfassungsbeschwerde einlegte. Um die Freiheitsrechte ging und geht es ihr ­aktuell auch bei der Verfassungsbeschwerde gegen die anlasslose Vorrats­datenspeicherung sowie gegen den Staatstrojaner und das ­Bayerische Polizeiaufgabengesetz.

Die Grundrechte wurden vor 70 Jahren verabschiedet. Eine lange Zeit. Flapsig gefragt: Ist es nicht an der Zeit für einen Relaunch, für Updates, für Modifizierungen?

Nein, wir brauchen kein Update unseres Grundgesetzes bei den Grundrechten, denn die sind sehr offen und auch technologieneutral formuliert; möglicherweise notwendige Konkretisierungen müssen wir nicht im Grundgesetz machen. Unsere Verfassung ist in den Fragen der Grundrechte auch aktuell sehr gut geeignet für diese digitale Zeit.

Dann zunächst einmal zu Ihrem ungewöhnlichen Buchtitel. Warum haben Sie diesen so gewählt? Sie lehnen sich da ja an Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ von 1974 an.

Rainer Werner Fassbinder hat damals mit seinem Film und mit diesem Titel sehr drastisch darauf hingewiesen, wohin Angst vor einem Verhalten führt, das nicht im Mainstream liegt. Wenn man Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisie-rung hat, verhält man sich anders als wie man sich eigentlich verhalten möchte. Man möchte zur Mehrheit gehören.

In dem Film, der sich um Vorbehalte gegen Fremde dreht, veränderten diese Vorbehalte nach und nach die Seele der Menschen und die Liebesbeziehung ging auseinander.

Genau. Ich habe das sinnbildlich übernommen: Wenn man Angst vor Bedrohungen hat, vor Terrorismus, vor Organisierter Kriminalität, vor anderen Gefährdungen, auch Gefährdungen unserer Demokratie, dann kann das dazu führen, dass wir uns anders verhalten als wir es ohne diese Angst tun würden. Dass wir zum Beispiel überlegen, ob wir zu Massenveranstaltungen wie Fußballspielen gehen. Und wir kommunizieren auch anders. Wir haben die Angst vor einer Bedrohung im Kopf und verändern unser Verhalten. Durch die Angst wird unser Verhalten Stück für Stück immer unfreier.

Und Sie meinen, dass unsere Grundrechte heute ernsthaft in Gefahr sind?

Ja, ich sehe Gefährdungen unterschiedlicher Art für unsere Grundrechte. Einmal sehe ich Gefährdungen dadurch, dass der Staat angesichts terroristischer Bedrohungen, angesichts von Clankriminalität und neuen technologischen Entwicklungen eine einseitige Sicherheitspolitik zulasten der Freiheit betreibt und auch vor verfassungswidrigen Eingriffen nicht zurückschreckt. Das führt dazu, dass Freiheitsrechte eingeschränkt und Maßnahmen ergriffen werden, die manchmal deutlich über das Ziel, Sicherheit zu schaffen, hinausgehen. In der unglaublichen technischen Dynamik, die wir in der Digitalisierung sehen und die Monopolstrukturen in der Wirtschaft hervorgebracht hat, die wir in der Form bisher nicht kannten, sehe ich eine weitere Bedrohung der Freiheitsrechte. Unmengen an personenbezogenen Daten werden da gespeichert, analysiert, vernetzt und verwendet. Da geht es um die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen. Auch da sehe ich eine Bedrohung von Freiheit. Und ich sehe sie auch dann, wenn politische Bewegungen heute zu viel Meinungs- und Pressefreiheit beklagen und die Presse als Lügenpresse beschimpfen und überflüssig finden. Da kommt aus der politischen Ecke eine Bedrohung der Freiheit. Umso mehr müssen wir sehen, wie wir uns als einzelner Bürger dagegen wappnen können. Deshalb ist für mich der Blick auf den Einzelnen so wichtig und die Frage gilt es zu beantworten, was wir selbst zur Verteidigung unserer Freiheitsrechte tun können.

Sie plädieren für eine „gelebte informationelle Selbstbestimmung“ jedes Einzelnen. Auch die sehen Sie bedroht?

Ja, der Einzelne ist der Datenlieferant für die Konzerne und deren Angebote sind, wie wir alle wissen, vielfältig, Messaging-Dienste wie WhatsApp, die eigentlich verschlüsselt sind, deren Daten aber von den Konzernen entschlüsselt und weiter verwandt werden, Chatrooms, Plattformen, Fitness- und hunderttausende von Apps, auch da werden die personenbezogenen Daten immer auch an Dritte weitergegeben, was wir so gar nicht wahrnehmen. Die Konzerne nehmen mit ihren Geschäftsmodellen darauf keine Rücksicht.

Deshalb bleibt es nicht aus, dass wir Bürger bewusster mit unseren Informationen und mit der Nutzung dieser Möglichkeiten umgehen müssen.

Ja, aber keine Sorge, ich will das nicht alles auf den Bürger abwälzen, aber wir sind nun mal die Datenlieferanten. Wir müssen unsere Rechte wahrnehmen! Ich muss mich als Einzelner entscheiden: Will ich, dass meine Privatsphäre zunehmend verloren geht? Ich bin dafür, dass wir nicht nur Verschlüsselungstechniken anwenden, sondern dass wir uns auch genau informieren, was mit unseren Daten passiert, bevor wir irgendwelche Dienste nutzen. Also nicht einfach mit einem Click Cookies zustimmen und dann nicht mehr wissen, was mit meinen Daten durch den Einsatz dieser Cookies passiert und was dann an Informationen an Drittkonzerne, die mir gar nicht bewusst sind, weitergeleitet wird. Wir haben jetzt gegenüber den Konzernen Anspruch auf diese Informationen. Die müssen uns mitteilen, was sie mit unseren Daten machen. Und wenn wir Informationen nicht verstehen, dann müssen sie das konkretisieren.

Das ist aber alles sehr mühsam.

Ja, theoretisch ist das wunderbar. Aber im täglichen Leben ist das natürlich mühsam. Das kann dazu führen, dass man die eine oder andere Möglichkeit nicht mehr wahrnimmt, dass man zum Beispiel eine Fitness-App nicht benutzt, bei der man nicht weiß, wo die gesammelten Daten dann noch landen, sei es bei Werbekunden, sei es bei anderen Konzernen, sei es bei Versicherungen. Wir müssen die Konzerne aber heute dazu bringen, dass sie die Regelungen einhalten, denn die dürfen genau das nicht mehr. Mark Zuckerberg hat sein Geschäftsmodell genau so aufgebaut, aber das ist heute in weiten Teilen nicht mehr mit der Rechtslage in Europa in Einklang zu bringen. Dagegen muss man sich zusammentun. Mit den verschärften Datenschutzregeln in der Europäischen Union sind auch wir Nutzer in Deutschland gegen zu weitgehende Datenverwendungen rechtlich abgesichert, sie verbessern unsere Stellung als Nutzer bei der Wahrung und Durchsetzung unserer Rechte auf informationelle Selbstbestimmung. Wir reden immer so ganz allgemein und abstrakt von Medienkompetenz, aber da fängt es ja an: Was kann ich konkret zur eigenen Datensicherung für mich selbst tun. Da steht auch die Politik in der Verantwortung. Die viel beschworene Medienkompetenz muss endlich fest in der Schul- und Weiterbildung verankert sein. Wir müssen uns unsere Selbstbestimmung zurückholen. Wer sich der digitalen Teilhabe nicht entziehen will, der sollte seine Rechte gegenüber den Datenkraken geltend machen.

Sie appellieren also an die Nutzer, sich nicht erst bei Missbrauch für die Daten zu interessieren, sondern immer schon beim täglichen Umgang mit dem Smartphone oder anderen technischen Endgeräten. Und Sie geben in Ihrem Buch ja auch ganz praktische Hinweise und Tipps.

Ja, es gibt Aktivitäten und Initiativen, die ich ganz konkret im Buch benenne, die Nutzer genau dabei unterstützen. Es gibt dabei viele Möglichkeiten. Ich werbe nicht dafür, den Facebook-Account abzustellen, das machen einige Insider dieser Szene, die tatsächlich empfehlen, sich von seinem Facebook-Account zu trennen und sagen, dass wir alle keinen Spaß mehr damit hätten, wenn wir wüssten, was damit alles passiert. Junge Leute machen das ja schon, aber aus anderen Gründen, denn die gehen zu Insta­gram. Aber da gilt das ja auch. Wenn ich aber zum Beispiel den Anbieter wechseln will, dann kann ich alle meine Daten mitnehmen, das nennen wir Juristen die Portabilität der Daten. Wenn ich also bei Facebook meinen Account tatsächlich kündigen will, habe ich den Anspruch darauf, alle meine Daten zu bekommen, damit ich die bei einem anderen Anbieter – vielleicht bei einem kleineren Startup, das nicht die Reichweite hat, aber auch schon gute Infrastruktur anbietet – weiter verwenden kann. Und nicht zu vergessen, wir haben Datenschutzbehörden in allen Bundesländern und diese Aufsichtsbehörden sind auch dazu da, dass sie Bürgern dabei helfen, wie sie sicherer und selbstbestimmter durch diese digitale Welt gehen können. Die sind personell aufgestockt worden. Aber in meinen Augen wird das nicht ausreichen, denn die sollen ja gerade solche marktdominanten globalen Unternehmen wie Facebook, Amazon und Google im Hinblick auf Datenschutzverletzungen überprüfen, was sie jetzt erstmals können, damit dann entsprechende Strafen verhängt werden. Es gibt also die Infrastruktur, an die sich der Bürger wenden kann, aber natürlich wäre die schnell überlastet, wenn das viele Bürger in Anspruch nehmen würden.

Was sagen Sie zu den nicht wenigen Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt sagen, „sei’s drum, ich habe ja nichts zu verbergen“? (lacht) Diese hat es schon immer gegeben, auch als wir noch nicht die digitale Technik, sondern die ganz klassischen Methoden der Überwachung nach altem Stiefel mit Wanzen und ähnlichem hatten. Das ist aber doch viel zu kurz gedacht. Dieser Satz, ich habe nichts zu verbergen, heißt doch, dass ich auf meine Persönlichkeit, auf meine Privatsphäre verzichte, und jedem alles zukommen las-se nach dem Motto, du kannst alles von mir wissen. Das muss man doch hinterfragen! Möchtest du denn, sage ich dann dem Bürger, dass jeder über dein Konto Bescheid weiß? Ja natürlich hast du nichts zu verbergen. Aber du willst doch nicht, dass irgendjemand Fremdes in dein Konto Einsicht nehmen kann. Und das ist richtig so, denn das ist meine ureigene Angelegenheit. Was glauben Sie, was Mark Zuckerberg anstellen würde, wenn irgendeiner versuchen würde, an seine privaten Daten zu kommen! Diese sind so geheim und geschützt wie nur irgendetwas! Nur von den Kunden will er die haben, weil er damit zu seinem Reichtum kommt.

Kommen wir zum Thema Freiheit und Sicherheit, das in Ihrem Buch viel Raum einnimmt. Seit 9/11 hat sich die Logik verstärkt, mehr Daten bedeuteten mehr Sicherheit. Diese Logik hat sich jedoch zum Beispiel bei der Personalie Anis Amri, dem Attentäter des fürchterlichen Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, nicht bewährt.

Anis Amri ist ein gutes Beispiel. Amri war vielfach registriert, der Name stand mehrfach auf der Tagesordnung von Expertengremien der Terrorismusabwehr, es gab unzählige Informationen über ihn. Mit der Anhäufung von immer größeren Datenmengen ist nicht mehr Sicherheit zu erreichen. Es geht darum, die Informationen richtig zu bewerten und die Gefährder und möglichen Terroristen aufzuspüren. Das ist Aufgabe des Staates. Das hat auch die fürchterliche Mordserie des NSU-Trios gezeigt. Jahrelang haben zuständige Verfassungsschützer, Polizeibeamte, LKA-Beamte nicht gesehen, dass da eine terroristische rechtsextreme Zelle agiert, sondern sie haben in die komplett falsche Richtung ermittelt, obwohl, was sich später herausgestellt hat, ganz viele Behörden ganz viele Informationen hatten.

Deshalb werbe ich dafür, dass man gezielt vorgeht. Natürlich müssen Sicherheitsbehörden, muss der Verfassungsschutz, zum Beispiel die Salafistenszene in Deutschland im Blick haben. In NRW führte das dazu, dass man Anschläge verhindern konnte. Man muss ganz gezielt Informationen erheben, gezielt Daten da auswerten, wo es Anhaltspunkt dafür gibt, dass Gefahr für unser System, für viele Menschen, für ihr Leben, entstehen kann. Aber es ist nicht Aufgabe des Staates, anlasslos von Millionen Bürgern Daten zu sammeln. Das ist das Schlüsselwort: anlasslos. Der deutsche Staat ist handlungsfähig, aber mit immer mehr Daten wird er nicht handlungsfähiger und wir werden nicht sicherer.

Also kein anlassloses Datensammeln. Aber was schlagen Sie konkret vor, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, was ist effektiv und wird wirklich gebraucht?

Was für die innere Sicherheit gebraucht wird, sind genügend Polizisten und Polizistinnen, IT-Fachkräfte, Sondereinheiten mit qualifizierter Ausbildung. Zu viele beteiligte Behörden auf Bundes- und Landesebene, fehlende Kooperation, defizitäre Kommunikation und Rechtsversäumnisse sind Gefahren für die innere Sicherheit. Und dann sind natürlich ganz andere Anstrengungen zur Datensicherheit, also für eine sichere digitale Infrastruktur, notwendig. Schauen Sie sich nur an, wie es bei Bundestagsabgeordneten schon zum wiederholten Mal in mehreren Jahren Zugriff auf teils relevante Informationen gegeben hat. Da sind nicht nur Hacker unterwegs, die das vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen machen, sondern auch ausländische Geheimdienste. Der Staat muss sich viel stärker auf eine sichere Dateninfrastruktur konzentrieren, denn wenn die gefährdet ist, betrifft es uns alle, dann kann alles Mögliche lahmgelegt werden. Dafür brauchen wir hoch qualifizierte Experten und natürlich die entsprechende technische Ausstattung. Bei den Eingriffsbefugnissen sind wir in Deutschland hinreichend gut ausgestattet. Von Plänen, bereits Kinder zu überwachen, das muss ich ganz ehrlich sagen, halte ich allerdings nichts. Das geht wirklich ins Absurde.

Rechtspopulistische Parteien sind in ganz Europa im Aufschwung. Sie warnen in Ihrem Buch vor einer Transformation von der liberalen zur illiberalen Demokratie.

Rechts- und auch Linkspopulismus hat es natürlich im politischen Spektrum immer gegeben. In früheren Zeiten hat sich die CSU gerne gerühmt, dass sie rechtspopulistisch sei, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern auf den Mund schaut und weiß, was diese wollen. Populismus per se ist ein Stilmittel, das man in der Politik einsetzen kann. Ich versuche mich so weit wie möglich davon frei zu halten, weil ich mit diesen Stilelementen, mit plakativen Verkürzungen, Vereinfachungen und Instrumentalisierungen

Bürgerinnen und Bürger nicht überzeugen will. Wenn es sich aber um Populismus gepaart mit einer Ideologie handelt, dann ist das natürlich gefährlich. Und das ist bei den jetzigen Rechtspopulisten, die ich mal so pauschal benenne, gerade mit Blick auf die AFD der Fall, denn in dieser Partei tummeln sich ja, wie die Debatten um Verfassungsschutzbeobachtungen jetzt auch zeigen, Gruppen, die eindeutig im rechtsradikalen, teilweise auch im rechtsextremen Spektrum agieren. Wenn die an die Macht kämen, könnten sie zum Beispiel Richter in Richterämter bringen und die Unabhängigkeit der Justiz damit gefährden. Wir sehen ja in anderen Ländern wie in Polen und in Ungarn, dass man auf diesem Weg ist, einiges an Transformationsprozessen in Gang zu setzen.

Ich möchte aber nicht in Alarmismus verfallen. Ich glaube an einen großen Widerstandsgeist.

Aber immerhin liegen die Rechtspopulisten bei 20 Prozent und je nach Region auch bei 25 und 28 Prozent.

Ja, das ist ernst zu nehmen, so wie auch das Bedürfnis von Menschen, diesen ­Parteien und auch Bewegungen wie PEGIDA hinterherzulaufen. Weil sie damit auch einen allgemeinen Protest gegen unsere Demokratie zum Ausdruck bringen.

Ich sehe da schon eine Gefahr. Ich sehe keine Gefahr der Machtübernahme in Deutschland, aber ich glaube, dass man bei politischen Entscheidungen immer im Blick haben muss, wie es denn aussieht, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse verändern; die sich ja auch einfach durch Koalitionen verändern können. Deshalb darf ich das, was unsere wehrhafte Demokratie ausmacht, nicht schwächen, und womöglich denen auch noch das Leben leicht machen, die etwas anderes wollen als unsere jetzige demokratische Verfasstheit. Denn es gibt da viele Stellschräubchen, Einwirkungen auf Personalentscheidungen, Einwirkungen auf Gerichtsverfahren, Verkürzung von Verfahren, Rechtsmittelbeschneidung und andere Dinge mehr. Das ist ein weites Spektrum und mit einem Mal wundern wir uns, wenn wir eine nicht mehr so gut funktionierende Justiz haben, die ja heute auch schon über Überlastung und viele weitere Dinge klagt.

Da muss man gegenhalten! Da muss man, wie es jetzt auch zunehmend passiert, sich auch über Parteigrenzen hinweg zusammentun und unsere Demokratie verteidigen. Die hat hier und da Schwächen, aber es gibt nichts Besseres. Wir müssen sie verteidigen und funktionsfähig erhalten.

Also nicht in Alarmismus verfallen, aber rege und wachsam sein.

Ich plädiere eindeutig für Wachsamkeit. Wir haben ein aufgefächertes Parteienspektrum und erleben das, was wir in vielen anderen europäischen Mitgliedsstaaten auch sehen, nämlich rechtspopulistische, rechtsradikale, auch rechtsextreme Parteien, die alle gegen Ausländer, gegen jegliches Fremde, gerichtet sind, die Deutschland den Deutschen überlassen wollen. Das ist eine Parole, die zu Recht den Verfassungsschutz auf den Plan bringt, weil es ganz klar heißt, die anderen wollen wir nicht, die wollen wir weghaben. Und man merkt ja an manchen Äußerungen, wohin manche dieser Politiker Staatssekretärinnen mit einem ausländischen Hintergrund wie zum Beispiel die SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli gerne verbannen würden. Deshalb muss man wachsam sein …

… und sich auch ganz aktiv mit ihnen auseinandersetzen.

Ja, und zusehen, wie man Bürgerinnen und Bürger überzeugt, dass sie von diesen Parteien nicht die Lösung komplexer Probleme erwarten können, dass das eben nicht Heilsbringer und Engel sind. Das muss man in einer Demokratie aushalten. Außerdem kommen die ja jetzt in den Niederungen an, wie man an den Debatten um die AFD-Parteispenden sieht. Angeblich waren ja immer alle anderen korrupt und von der Wirtschaft finanziert. Es ist an der Zeit, dass die AFD jetzt effektiv zur Aufklärung über die Spenden beiträgt.

Diese aktive Auseinandersetzung ist mehr denn je nötig, und deshalb kommen wir dann auch wieder zum Digitalen, weil ja auch die sozialen Medien hier wieder eine so große Rolle spielen mit Desinformation und Manipulation, mit Halbwissen, mit Behauptungen, mit Shitstorms, mit Niedermachen, mit Stereotypen und Vorurteilen, die man gegen andere äußert. Wir brauchen neben dem Rechtsstaat und dem reagierenden Strafrecht eine wache Zivilgesellschaft. Auf die Justiz alleine können wir uns nicht verlassen, die kann man umgehen, denn nicht alles, was gesagt wird und worüber wir aufstöhnen, ist auch verboten.

Das Grundrecht auf Asyl bei politischer Verfolgung ist heute wohl eines der umstrittensten und lautstark diskutiertesten Grundrechte. Wagen Sie eine Prognose, wie es ausginge, wenn das Recht auf Asyl heute in einer Volksbefragung zur Abstimmung stünde?

Ich glaube, dass die Rattenfänger keinen Erfolg hätten und sich eine Mehrheit dagegen mobil machen ließe. Aber es wäre eine sehr konfrontative Auseinandersetzung. Natürlich kann ich nicht sicher sein, wie es ausgehen würde, aber ich habe inzwischen das Gefühl, dass die Bürger, auch in dem ganzen Gerangel mit dem Brexit, zunehmend merken, dass es doch wertzuschätzen ist, dass wir in Europa Wertegrundlagen und mit Europa auch eine größere Einheit haben, in der manche Probleme doch besser zu bewältigen sind. Aber es ist seit Jahrzehnten, eigentlich seit Jahrhunderten ein beliebtes Thema, gegen Menschen anderer Herkunft, anderer Ethnien herzuziehen. Es würde sichtbar werden, dass doch schon eine tiefe Spaltung durch Deutschland geht. Aber gegenseitige Rücksichtnahme, Achtung und Respekt sind keine Tugenden von vorgestern, sondern unabdingbar, um Freiheit in einer Gesellschaft von Millionen Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten leben zu können. Dabei sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass wir andere so behandeln, wie auch wir behandelt werden wollen. Das ist eine meiner Maximen, der vereinfachte Kant‘sche Imperativ.

Wenn das kein gutes Schlusswort ist. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, und für diesen zuletzt dann doch noch optimistischen Ausblick. Ich wünsche Ihrem Buch ganz besonders viele Leserinnen und Leser.

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